Robert Treichler: Halbmond über der Themse

London wird von einem Muslim regiert. Wien könnte auch irgendwann folgen.

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„Ab nun ist London endgültig in islamischer Hand“, meldete am Donnerstag vergangener Woche die Website pi-news.net, die sich nach eigenen Angaben der Verbreitung „politisch inkorrekter“ Nachrichten verschrieben hat. Sadiq Khan, der muslimische Kandidat der Labour Partei, hatte die Bürgermeisterwahlen der britischen Hauptstadt für sich entschieden. Damit stehe ein „Voranschreiten der Islamisierung Europas“ bevor, prophezeite „pi-news.net“, und die Leser des Portals gruselte es entsprechend. Zwar werde sich der Muslim Khan gleich einem trojanischen Pferd anfangs „extrem anti-islamisch“ geben, doch das kommende Weihnachtsfest werde „das letzte“ sein, war sich ein Poster sicher.

Auf der Facebook-Site der ausländerfeindlichen deutschen Rechtspartei Alternative für Deutschland (AfD), Sektion Nürnberg, warnte wiederum ein verschreckter Patriot als Reaktion auf das politische Ereignis in London: „Muslime gehen auf die Straße, fordern die Scharia. So fängt es an.“

Bedauerlicherweise nehmen britische Buchmacher keine Einsätze auf die Wette an, dass die Weihnachtsbeleuchtung von Harrods in London länger strahlen wird als Frauke Petrys Sternschnuppe am deutschen Umfragehimmel.

Die Rechten haben nichts kapiert, aber eines immerhin gespürt: Der Sieg Sadiq Khans ist von immenser Bedeutung. Der 45-jährige Sohn pakistanischer Einwanderer – der Vater Busfahrer, die Mutter Näherin – ist ein Glücksfall für Europa, und das in einem Moment, in dem gerade schrecklich viel schiefgeht. Die Masse der gesetzestreuen, anständigen Muslime hat kein Gesicht, während die Fahndungsbilder der Terroristen von Paris und Brüssel, der Vergewaltiger und Dschihadisten einen unseligen, bleibenden Eindruck hinterlassen.

Jetzt geht Sadiq Khans Porträt durch die Medien und führt allen vor Augen: Das Leben ist kein Roman von Michel Houellebecq und auch ganz bestimmt kein Abbild eines Sachbuchs von Thilo Sarrazin. Hier kommt ein Muslim an die Macht, und er wird eines ganz bestimmt nicht tun: islamisieren.

Khan hat als Labour-Abgeordneter für die Legalisierung der Homo-Ehe gestimmt und dadurch die Wut fundamentalistischer Imame auf sich gezogen. (Frauke Petrys AfD steht in dieser Frage politisch selbstverständlich auf der Seite der fundamentalistischen Imame, aber das nur nebenbei.) Seinen ersten offiziellen Auftritt als Londoner Bürgermeister hatte Khan bei einem Holocaust-Gedenken in Nord-London. Und dass der Jurist und ehemalige Menschenrechtsanwalt das britische Recht durch die islamische Scharia ersetzen möchte, kann nur jemand annehmen, der die Welt durch den Tränengasnebelschleier auf Pegida-Demos betrachtet.

Europa braucht einen Sadiq Khan, besser noch: viele.

Aber Sadiq Khan ist ein individuelles Ausnahmetalent, und was beweist das? Seine Existenz wird im Streit um Gefährlichkeit oder Harmlosigkeit der muslimischen Bevölkerung niemanden überzeugen. Und doch kann dieser Mann – endlich – den europäischen Muslim verkörpern und vielen Glaubensbrüdern und -schwestern als Role Model dabei helfen, ihre eigene Identität zu finden. Nach den Anschlägen von Paris wählte Khan die richtigen Worte. Er betonte die „spezielle Rolle“ der Muslime bei der Terror-Prävention und begründete sie nicht mit einer nach Sippenhaft riechenden Verantwortung, die ihnen oft zugeschrieben wird, sondern damit, dass sie am besten wissen, wie man Extremismus begegnen kann.

Europa braucht einen Sadiq Khan, besser noch: viele. Und nicht nur Europa. Liberale Muslime, die es in die politische Elite schaffen, wären in vielen Teilen der Welt wünschenswert. Jawed Naqvi, ein Kommentator der englischsprachigen pakistanischen Tageszeitung „Dawn“, weist auf einen bitteren Umstand hin: In Pakistan, der Heimat seiner Eltern, hätte Sadiq Khan nicht überlebt. Naqvi vergleicht Khan mit dem pakistanischen Menschenrechtsaktivisten Khurram Zaki. Er war sechs Jahre jünger als Khan und führte einen unermüdlichen Kampf gegen sektiererische, terroristische Gruppen, die trotz offiziellen Verbots in Pakistan ihr Unwesen treiben. Vor einem Jahr, am 7. Mai 2015, wurde Zaki von Unbekannten erschossen.

Europa kann liberalen Muslimen, die längst aufgeklärte Europäer geworden sind, die Möglichkeit bieten, globale Vorbilder für Muslime zu werden.

"New York Times“-Kommentator Roger Cohen nennt Khan den „Anti-Trump“. Politiker wie Donald Trump, Gruppen wie Pegida, Parteien wie die AfD wollen blind gegen den Islam vorgehen. Sadiq Khan zeigt uns den vernünftigen Weg: Muslime wie er sollen an die Macht und dort den Beweis führen, dass ein muslimischer Bürgermeister ebenso wie ein schwuler Bürgermeister oder ein katholischer Bürgermeister einfach nur ein Bürgermeister ist.

Übrigens: Wenn Michael Häupl, erschöpft von mehr als zwei Jahrzehnten als Stadtoberhaupt (von seiner aktuellen, schweißtreibenden Zusatzfunktion als interimistischer Parteichef ganz zu schweigen) dereinst abdanken wird, sollten wir darauf zurückkommen: Warum nicht mal ein Muslim (oder eine Muslimin) als Nachfolger? Der Christbaum auf dem Rathausplatz wird das unbeschadet überstehen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur