Robert Treichler: Das nächste heiße Ding …
Versuchen Sie mal, einem Teenager zu erklären, dass Mobiltelefone früher Tasten hatten (und wozu sie gut waren), aber keine Apps (jedenfalls keine brauchbaren). Es wird de facto bei einem Gedankenexperiment bleiben, da ein Teenager ohnehin nicht zuhört, wenn man irgendwas erläutern will und er oder sie währenddessen wahrscheinlich auf seinem Smartphone herumwischt – was in diesem Fall durchaus eine adäquate Antwort ist.
Wir hätten nie ein Uber-Taxi gerufen, nie ein Tinder-Date gehabt (nein, das hatten wir natürlich auch so nie, Ehrenwort), einander nie rund um die Uhr auf Twitter angepflaumt und nie U-Bahn-Fahrten mit „Clash of Clans“-Angriffen auf fremde Dörfer verkürzt. Wir hätten tausend Sachen nicht machen können, über die wir heute froh sind oder die uns in den Wahnsinn treiben.
Wir wären Tastenmenschen geblieben, hätte Apple nicht 2007 das iPhone erfunden. Apple wurde dank des iPhones zu einem Konzern, der stilbildend, fortschrittsfördernd und kulturhegemonial wirkte. Das soll nicht (nur) ehrfurchtsvoll klingen – Stil, Fortschritt und kulturelle Hegemonie können zuweilen auch scheußlich sein. Zudem reicht die Sündenliste des Unternehmens mit Sitz im kalifornischen Cupertino von miserablen Arbeitsbedingungen bei Zulieferbetrieben über Steuervermeidung bis zu Datenschutzmissständen.
Dennoch: Apple und sein iPhone haben unseren Alltag geprägt, pathetisch gesagt: unser Leben verändert.
Jetzt aber, da Apple an der Börse taumelt, Gewinnwarnungen wegen einbrechender Umsätze veröffentlicht und das jeweils neue iPhone längst kein Heuler mehr ist, können wir unsere Hassliebesbeziehung zu den Produkten mit dem angebissenen Apfel am besten mit einem lässigen Daumenwischer beiseiteschaffen. Auch wenn das Unternehmen wahrscheinlich noch lange Zeit ein weltweit erfolgreiches Tech-Label bleiben wird, seine Ära als Revolutionär digitaler Lebensräume ist vorerst zu Ende.
Die große Frage ist: Was kommt jetzt? „Wir brauchen eine nächste Welle der Innovation, und zwar sofort“, schreibt die Tech-Kommentatorin Kara Swisher in der „New York Times“. Innovation kann man immer brauchen, aber erwarten Sie bloß nicht, Swisher oder irgendein anderer Journalist (am Ende gar ich) könnte weissagen, was genau es sein wird, das unser Leben neuerlich besser, schneller, digitaler (respektive: teurer, zeitraubender, nerviger) machen wird. Doch eine Frage lohnt sich jetzt schon zu stellen: Könnte es sein, dass das geheimnisvolle neue Ding nicht aus dem Silicon Valley, nicht aus den USA, nicht aus der westlichen Welt kommen wird?
Ja. Am ehesten natürlich aus China. Mal angenommen, die nächste heiße Sache, die jeder haben will und haben wird, käme tatsächlich von dort – was würde das bedeuten?
Welche Werte wird eine chinesische Innovation in unseren Alltag transportieren?
Viel. Technologisch an der Spitze zu stehen, gehört zur Identität des Westens und besonders der USA. Diese Stellung zu verlieren, würde an deren Selbstbewusstsein kratzen. Digitale Produkte unserer Zeit sind nicht nur Konsumgüter, die man in Betrieb nimmt und wieder weglegt. Sie fungieren vielmehr als Plattformen, sie stellen Beziehungen her – zum Hersteller, zu Drittanbietern, zu allen, mit denen die Daten des Nutzers verknüpft werden, zu Personen, Institutionen. Welche Beziehungen dabei entstehen, ist oft nur bedingt eine wissentliche Entscheidung des Nutzers. Man muss keine wilden Manipulationstheorien konstruieren, um zu verstehen, dass dies heikle Dinge sind.
Das gilt selbstverständlich auch für den Fall, dass der Hot Stuff aus den USA kommt. Der Facebook-Datenskandal des vergangenen Jahres ist noch nicht vergessen. Doch China ist ein autoritärer Einparteienstaat, diktatorisch im Umgang mit Regimekritikern, skrupellos bei der Überwachung seiner Bürger. Es wäre falsch, deshalb von vornherein eine Dystopie zu ersinnen, wie Peking mittels einer genialen Innovation in unsere Wohnungen und Gehirne vordringt und uns zu Sklaven seiner Fünf-Jahres-Pläne macht. Auch chinesische Unternehmen wollen in erster Linie Gewinne erzielen und nicht die Weltherrschaft anstreben.
Aber so wie das iPhone über seine App-Plattform einen Lifestyle, eine Kultur – im engeren Sinn, aber auch im Umgang mit Daten – und schließlich so etwas wie Werte transportierte, würde dies auch für eine chinesische Innovation gelten.
So vage diese Beschreibung einer zukünftigen Entwicklung ausfallen muss, so schwer beantwortbar sind die daran anknüpfenden Fragen:
Ist unsere Gesellschaft gefestigt genug, allfälligen unerwünschten Einflüssen zu widerstehen? Reichen unsere Gesetze in Bezug auf Datensicherheit aus? Sind wir als Konsumenten auf eine solche Situation vorbereitet? Haben wir die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen, was wir im Gegenzug für die Verlockungen eines Produktes in Kauf zu nehmen bereit sind und was nicht?
Es ist kein Fehler, über all das nachzudenken, ehe wir das Vorbestellungsformular für dieses verdammt coole Ding ausfüllen, von dem wir hoffentlich bald wissen werden, was ist es.