Robert Treichler: Stelle frei
Beginnen wir mit einer Anwesenheitsliste der rechtspopulistischen Internationale: Donald Trump, USA; Jair Bolsonaro, Brasilien; Marine Le Pen, Frankreich; Matteo Salvini, Italien; Viktor Orbán, Ungarn; Alexander Gauland, Deutschland; Heinz-Christian Strache, Österreich.
Alle da, alle sitzen fest im Sattel und/oder sind in den Umfragen im Aufwind. Ihre Zahl vergrößert sich, ihre Erfolge werden zur Normalität. Auch die Midterm-Elections in den USA haben die große politische Frage unserer Zeit nicht beantwortet: Befinden wir uns am Anfang einer weltweiten rechtspopulistischen Welle, die das Potenzial hat, eine neue Epoche zu prägen? Oder sind der kometenhafte Aufstieg und die aggregierte Machtfülle der eingangs Genannten ein Phänomen, das denselben programmierten Abstieg vor sich hat wie der Dieselmotor?
Die Ungewissheit lässt viele in der Geschichte nach Antworten suchen. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wird oft als Vergleich herangezogen. Damals sei Europa von der „Lepra des Nationalismus erfasst“ worden, sagte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron vergangene Woche. Auch in Deutschland dient die Weimarer Republik, die mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus endete, als warnendes – wenngleich allzu drastisches – Beispiel.
Der Historiker Sebastian Dümling wiederum zieht in einem Essay in der Zeitschrift „Merkur“ Parallelen zur mittelalterlichen Phase der Jahre 1475 bis 1510. Das scheint schrecklich weit hergeholt, doch Dümling beschreibt die frühe Verachtung, die der aufkommenden Moderne entgegenschlug, als Propheten und Prediger die damaligen Eliten anprangerten und das idealisierte gemeine Volk zu einer frühen Form von „Zornpolitik“ aufstachelten.
Eine Ära dumpfer Anti-Wissenschafts-, Anti-Eliten- und Anti-Fortschritts-Ideologie? Oh ja, so etwas erleben wir gerade. Von damals überlieferte Sprichwörter wie „die Gelehrten, die Verkehrten“ sind der aktuellen Verächtlichmachung von Klimaforschern nicht unähnlich.
Ein wenig beruhigen sollte aber der gravierende Unterschied zwischen dem Spätmittelalter und den Jahren 2018ff.: die Demokratie! Heutzutage ist unvorhersehbar, was passieren wird, weil es nämlich nach wie vor die Wähler in der Hand haben, darüber zu entscheiden, wer im Mai 2019 stärkste Fraktion im EU-Parlament wird; ob 2020 Donald Trump wiedergewählt wird; und ob der Aufstieg der AfD weitergeht.
Das klingt furchtbar banal. Allerdings wird der Abbau der Demokratie so oft beklagt, dass man übersieht, wo überall der Wählerwille zählt, und sonst nichts. In den USA, in der EU, in Frankreich, in Italien, in Österreich ist es ein politischer Kampf nach demokratischen Regeln, von dem es abhängt, ob quasi mittelalterliche Zeiten anbrechen und wie lange sie dauern.
Das führt zu einer Frage, die höchst unangenehm ist. Warum ist die Welt voller charismatischer Rechtspopulisten, während die Gegenseite nahezu führungslos dasteht? Mit den oben aufgezählten Personen plus mächtigen Autokraten wie Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan und Xi Jinping lässt sich ein G20-Gipfel der anderen Art veranstalten.
Aber wer sind die Figuren, die Multilateralismus, Offenheit, Liberalismus repräsentieren? Wer ist der Führer/die Führerin der freien Welt?
Warum fasziniert Marine Le Pen um so viel mehr als Pamela Rendi-Wagner?
Der Letzte, dem man dies zutraute – wenigstens in Europa – war Emmanuel Macron. Doch sein Glanz ist erloschen. Seine Popularität schwindet, selbst in der EU steht er isoliert da. Und sonst? Kanadas Premier Justin Trudeau wirkt kaum über sein Land hinaus, Angela Merkel hat mehr oder weniger abgedankt, ein neues Schwergewicht sucht man vergeblich.
Das liegt nicht nur an den Personen, die sich dem Volk präsentieren, sondern auch am Volk selbst. Während die Anhänger der Rechtspopulisten ihren Idolen begeistert die Treue halten, auch wenn diese mal vom Weg abkommen, lassen die Befürworter der liberalen Demokratie ihre Helden allzu rasch fallen. Macron reformiert ein wenig ungestüm das Arbeitsrecht und lässt am präsidentiellen Sommersitz einen Swimmingpool um 34.000 Euro errichten – schon ist der Retter vor dem Rechtspopulismus unten durch und nach seinem Plan, die EU voranzubringen, kräht kein Hahn mehr.
Vernünftige Politiker haben es bei ihrer Anhängerschaft ungleich schwerer als Krakeeler. Warum verlieren Trump-, Salvini-, Strache-Anhänger nie das große Ganze aus den Augen – Migranten raus! –, während die Gegenseite bei jedem sich bietenden Anlass Fahnenflucht begeht? Oder, ganz banal gefragt: Warum fasziniert Marine Le Pen um so viel mehr als Pamela Rendi-Wagner? Weil der Tabubruch verlockend ist und der Grusel unvernünftiger Positionen unterhaltsam? Auch das. Weil umgekehrt die Verteidigung des Bestehenden langweilt? Sicher.
Aber ehrlicherweise muss man auch ein ideologisches Problem konstatieren: Ein herausforderndes Projekt wie das europäische von Macron ist ganz offensichtlich nicht erwünscht. Nicht nur die deutsche Regierung hat ihn gebremst, auch die Bevölkerung in Europa reagierte indifferent. Als einigendes Moment diesseits des Rechtspopulismus bleibt bloß dessen Ablehnung.
Das allerdings reicht nicht, um einen Leader of the Free World hervorzubringen. Die Welt würde dringend einen brauchen.
[email protected] Twitter: @robtreichler