Rücktritt von Liz Truss: Da haben wir den Salat
Der Salat, so viel steht seit Donnerstagnachmittag fest, hat gewonnen. „Wird Liz Truss diesen Salat überleben?“, hatte die Boulevardzeitung „Daily Star“ in einem selbst für britische Verhältnisse besonders hohen Maß an Gehässigkeit gefragt – und ein Live-Video auf Youtube gestellt, in dem ein Kopfsalat mit blonder Perücke neben einem Foto der Premierministerin zu sehen war. Als Liz Truss schließlich zurücktrat, sah das Blattgemüse noch ziemlich frisch aus.
Dabei war sich Liz Truss am Mittwoch noch sicher gewesen. „Ich bin eine Kämpferin und gebe nicht auf“, hatte sie den Abgeordneten im britischen Parlament zugerufen. Keine 24 Stunden später tat sie es dann doch – und trat als Premierministerin Großbritanniens zurück.
Traurige Rekordhalterin
Liz Truss' Rücktritt bricht gleich mehrere Rekorde. Mit nur 45 Tagen ist sie die am kürzesten dienende Premierministerin aller Zeiten; ihr Nachfolger wird der vierte Premier seit dem Brexit sein. Und gleich zwei Wechsel innerhalb einer Legislaturperiode (Liz Truss löste Boris Johnson ab) gab es in Friedenszeiten auch noch nie.
Nun müssen die Tories entscheiden, wer die Partei und das Land künftig führen soll. Rasch fiel am Donnerstag der Name Boris Johnson – vorerst eher im Scherz gemeint auf Twitter, doch die Sache ist bitterer Ernst: Unter dem Hashtag „BringBackBoris“ sprachen sich bald zahlreiche konservative Abgeordnete für eine Rückkehr des 58-Jährigen aus. Der machte sich am Donnerstag sicherheitshalber schon einmal auf den Rückweg aus dem Urlaub in der Dominikanischen Republik nach London.
Es ist keine zwei Monate her, dass Johnson zurücktrat. Er hatte sich dermaßen in einem Netz aus peinlichen Affären und Lügen verstrickt, dass es selbst den Tories zu viel wurde. Dass Johnsons Name nun wieder fällt, liegt auch daran, dass Partei und Volk ihn liebten – zumindest eine Zeitlang – und er immerhin demokratisch legitimiert war: Bei den Wahlen Ende 2019 brachte Johnson seiner Partei einen deutlichen Sieg ein. Schlimmer als zuletzt kann es jedenfalls kaum werden: Am Ende ihrer Amtszeit waren die Zustimmungswerte für Truss niedriger als jene Johnsons am Höhepunkt seiner Skandale.
Am kommenden Freitag soll der neue Premier (es wird wohl ein Mann sein) feststehen. Dass es diesmal vergleichsweise rasch gehen soll, liegt wohl auch an der Angst der Tories vor dem zunehmend lauter werdenden Ruf nach Neuwahlen. In Umfragen liegen die Konservativen sagenhafte 39 Prozentpunkte hinter der sozialdemokratischen Labour-Partei von Keir Starmer.
Liz Truss als Symptom einer chronischen Krankheit
Der Fall der Tories ist kein Wunder, immerhin regieren sie Großbritannien seit zwölf Jahren und haben das Chaos im Land zu verschulden. Die Lebenskosten sind hier im Vergleich mit ähnlichen Volkswirtschaften noch höher, die Inflation liegt bei über zehn Prozent, das Land steht vor einer Rezession. Mit ihrer Ankündigung für Steuererleichterungen für Reiche hat Truss nicht nur jene Menschen erzürnt, die kaum wissen, was sie essen oder wie sie heizen sollen, sondern auch die Märkte in Panik versetzt und das Pfund in den freien Fall geschickt.
Zwar ruderte Truss bald zurück, doch der Schaden war angerichtet – und das Versprechen der Premierministerin, nach Jahren des Hin-und-Hers endlich für Ruhe und Stabilität zu Sorgen, geriet zum schlechten Scherz. Die 47-Jährige hatte die Partei an den Rand des Abgrunds geführt.
Liz Truss die Schuld für das Chaos in Westminster und im ganzen Land in die Schuhe zu schieben wäre aber zu einfach. Truss war, wenn man so will, das Symptom, nicht aber die Ursache einer Krankheit, die das Land seit Jahren plagt und die Gesellschaft zutiefst gespalten hat.
Mit der Entscheidung, das Volk über den EU-Austritt abstimmen zu lassen, haben sich die Tories radikalisiert. Konservative EU-Hasser, sogenannte Brexiteers, die zuvor eher eine Randerscheinung gewesen waren, nahmen die Partei in Geiselhaft und schlossen moderate und pro-europäische Tories aus dem Machtzentrum aus. Auch Truss' ursprüngliches Kernteam bestand ausschließlich aus Marktradikalen, die den Traum der Brexiteers vom ausgehöhlten Staat mit niedrigen Unternehmenssteuern und einer deregulierten Wirtschaft teilen. Auch Johnson hatte versprochen, London zum „Singapur an der Themse“ zu machen.
Folgenschwerer Brexit
Doch das ist nicht so einfach. Der Brexit hat die Wettbewerbsfähigkeit des Landes sogar geschwächt. Die Versprechen der Brexiteers, das Land aus den Fängen der EU zu befreien und in ein goldenes Zeitalter zu führen haben sich nicht erfüllt, im Gegenteil. Unternehmen ächzen unter den wirtschaftlichen Folgen des Brexit, Importzöllen, Papierkram und anderen Handelshemmnissen.
Laut einer Studie der London School of Economics und des ThinkTanks „Resolution Foundation“ kostet der EU-Austritt jeden britischen Arbeitnehmer im Schnitt 470 Pfund pro Jahr – eine Folge der gesunkenen Investitionen, des schwachen Pfunds und des Handelsrückgangs.
In Nordirland steigen seit dem Brexit wieder die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten; Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon will notfalls auch ohne die Zustimmung Londons über eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich abstimmen lassen, und selbst im historisch königstreuen Wales werden die Rufe nach Unabhängigkeit lauter. Das Vereinigte Königreich ist, wie die Briten sagen, in „utter shambles“ (heilloses Chaos).
Ob und wie ein neuer Premier das Schlamassel auf der Insel zu lösen vermag, ist völlig unklar. Für Liz Truss ist der Alptraum jedenfalls vorbei. Für das britische Volk lässt sich das nicht behaupten.