Antonia Rados, Georg Hoffmann-Ostenhof und Regisseur Robert Dornhelm 1990 in Temeswar

Rumänische Revolution: Drei Mal Temeswar

Rumänische Revolution: Drei Mal Temeswar

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Drei Mal schon verschlug es mich auf den Piatja Victoriei, den Siegesplatz in der westrumänischen Stadt Temeswar. Beim ersten Mal, im Dezember 1989, herrschen hier Chaos, Verwirrung, Freude. Eine unüberschaubare Menschenmenge auf dem langgestreckten Platz vor der Oper. Ich, als Reporter, der über die rumänische Revolution berichtet, mittendrin. In der Hauptstadt Bukarest ist der kommunistische Diktator Nicolae Ceauşescu noch an der Macht. In Temeswar ist die Freiheit bereits angebrochen. Im März 1990 kehre ich auf den Piatja Victoriei zurück. Als Nebendarsteller in dem Spielfilm „Requiem für Dominic“ von Robert Dornhelm, der die dramatischen Ereignisse des Dezember davor als Hintergrund hat. Die TV-Reporterin Antonia Rados, der (inzwischen verstorbene) Fotograf Nick Vogel und ich stellen das dar, was wir tatsächlich waren: Journalisten in den revolutionären Wirren Rumäniens.

Bei meinem dritten Besuch, im Dezember 2014, feierte Rumänien den 25. Jahrestag des Endes der Diktatur. Der Siegesplatz, wo einst die Temeswarer zusammengekommen waren, um dem Tyrannen zu trotzen, ist ein einziger großer Weihnachtsmarkt mit vielen hell erleuchteten Ständen.

Da stehe ich auf dem Platz und sehe mich selbst

Links und rechts an der Hauptfassade des Opernhauses – ein in den 1920er-Jahren umgebautes Gebäude der legendären k. u. k. Theaterarchitekten Hermann Helmer und Ferdinand Fellner – sind riesige Leinwände aufgespannt. Bei Einbruch der Dunkelheit beginnt „Requiem für Dominic“. Der Film wird in Temeswar erstmals gezeigt. Regisseur Dornhelm ist eingeladen, um die Ehrenbürgerschaft der Stadt entgegenzunehmen.

Es ist seltsam: Da stehe ich auf dem Platz und sehe mich selbst – 25 Jahre jünger – in Großaufnahme und inmitten von Szenen, die sich tatsächlich genau hier abgespielt haben. Der Regisseur hat Dokumentaraufnahmen von Massenszenen von der Piatja Victoriei des Dezember 1989 in den Film hineingeschnitten. Fiktion und Realität verschwimmen. Die Zeiten geraten durcheinander. Erinnerungen schwirren mir durch den Kopf.

Ein Kinosaal, in dem der Film auch gezeigt wird, ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Im Anschluss spielt die Temeswarer Philharmonie in Gedenken an die 159 Toten von 1989 das Mozart-Requiem. Eine feierliche Stimmung. Im Freien vor der Oper aber bleiben nur wenige Passanten stehen. Es ist kalt. Die meisten schauen sich neugierig die dramatischen Filmszenen an, um nach wenigen Minuten weiterzugehen und ihre Weihnachtseinkäufe zu machen. Ein alter Mann harrt ein wenig länger aus. „Ich war ja damals auch auf dem Platz, ich war ja dabei“, sagt er. Und der Film? Er lächelt: „Ein bisschen zu realistisch. Ich habe Kopfweh bekommen. Aber so war es wirklich.“

Ein paar Demonstrationen – und die kommunistischen Politbüros, die sich nur scheinbar für die Ewigkeit eingerichtet hatten, werfen das Handtuch. So spielt sich der heiße Herbst von 1989 in den meisten osteuropäischen Ländern ab. Das Ceauşescu-Regime aber will nicht abtreten.

„Nieder mit Ceauşescu, nieder mit Ceauşescu!“

21. Dezember: Auf der Straße halten alle paar Kilometer bewaffnete junge Männer in Räuberzivil das Reporterauto, das sich auf dem Weg nach Temeswar befindet, auf. Wer sind sie? Revolutionäre, Geheimdienstleute der Securitate oder einfache Räuber? Man weiß es nicht. Mit Zigarettenstangen kann man sich das Weiterfahren erkaufen. In Temeswar ist die Revolution in voller Blüte. Die Armee, die den Auftrag aus Bukarest hatte, die Revolte niederzukartätschen, hat sich unter dem Druck der Straße zurückgezogen. In der Oper tagt die Revolution. Komitees beraten, selbst ernannte Revolutionsführer geben Interviews, ein Mann mit wirrem Bart rezitiert ein Gedicht, in dem in den blumigsten Farben alle möglichen Weisen besungen werden, mit denen Ceauşescu ins Jenseits befördert werden kann, ein Pope betet für die Revolution. Immer mehr Meldungen treffen ein, wo gerade Scharfschützen von den Dächern auf die Menschen in den Straßen schießen. Vom Balkon blickt man auf eine unübersehbare Menge von Menschen. „Nieder mit Ceauşescu, nieder mit Ceauşescu!“, tönt es.

Wer die Sniper sind und was sie mit ihrer Schießerei bezwecken – darüber gehen die wildesten Gerüchte um. Sind es Securitate-Leute, radikale Revolutionäre oder gar vom Regime eingeflogene arabische Terroristen? Über die Zahl der Toten dieser Attacken des Ancien Regime herrscht völlige Unklarheit. Uns Journalisten wird angeboten, Hunderte Leichen zu begutachten, die von den Schergen Ceauşescus erschossen worden seien. Ich winke ab, irgendwie wirken die Fotos der Toten inszeniert. Außerdem will ich weiter nach Bukarest, wo die Stunde der Entscheidung noch bevorsteht. Am Weihnachtsabend soll es dann so weit sein. Nach einem kurzen Schauprozess werden der Diktator und seine Frau hingerichtet.

Die Temeswarer Leichen stehen auch im Zentrum des Dornhelm-Filmes, der Anfang der 1990er-Jahre mit einem Golden Globe ausgezeichnet wurde und vergangene Woche endlich wieder im ORF zu sehen war.

Der auf realen Erfahrungen Dornhelms basierende Plot ist einfach: Die Revolution hat soeben in Temeswar ihren Anfang genommen, als der in Rumänien geborene Journalist Paul Weiß (das Alter Ego des Regisseurs) erfährt, dass sein Jugendfreund Dominic Parschiv verwundet ist. Er bricht in seine alte Heimat auf, um dem Freund zu helfen. Aber entgegen seiner festen Überzeugung, dass Dominic in den Unruhen auf der richtigen Seite gestanden sei, präsentiert man ihm im Krankenhaus den verwundeten und gefesselten Freund als „Schlächter von Temeswar“. Er hätte Dutzende Menschen niedergemäht, er sei ein Massenmörder. Paul Weiß kann das nicht glauben. Und begibt sich gemeinsam mit Journalistenkollegen auf die Suche nach der Wahrheit. Die restlos nicht gefunden wird. Dominic stirbt. Fest steht jedenfalls am Ende des Films – und später auch in der Realität: Dominic hat nicht geschossen, er wurde zum Sündenbock gemacht. Zum Monster. Aber von wem? Die Frage bleibt offen. Die gezeigten Leichen, vorgeblich Opfer des „Schlächters“, waren aus dem Leichenschauhaus geholt worden. Bei manchen zeigt sich bei näherem Betrachten, dass sie bereits obduziert worden waren.

Bis heute kennt man die Namen der Scharfschützen nicht

Es ist ein düsterer Film, ein Politthriller der besonderen Art. So wie der pure Augenschein dem Zuschauer nicht verrät, ob er gerade eine echte oder eine von Dornhelm inszenierte Szene sieht – so wenig wissen die aufständischen Rumänen, wann sie es mit echten Ereignissen zu tun haben und wann mit solchen, die Ceauşescus Männer in Szene gesetzt haben. Das eigentliche Thema des Streifens ist die Lüge, die Unerkennbarkeit dessen, was wirklich passiert.

Bis heute kennt man die Namen der Scharfschützen nicht, die während der Revolution mordend unterwegs waren. Und in den vergangenen 25 Jahren hat es offenbar keinen ernsthaften Versuch gegeben, die Täter auszuforschen. Es ist auch kein Zufall, dass der Dornhelm-Streifen, der so realistisch die Geschehnisse des Dezember 1989 ins Zwielicht tauchte, erst 2014 in Rumänien gezeigt wurde. Dornhelm: „Es hat sich bislang auch keine rumänische Fernsehanstalt für den Film interessiert, obwohl dieser fast umsonst angeboten wird.“

Das nachrevolutionäre Rumänien wollte die längste Zeit an der Vergangenheit nicht wirklich rühren. Kein Wunder: Eine derartig starke Kontinuität zwischen dem alten Regime und den neuen Eliten hat es in keinem anderen ost- und mitteleuropäischen Land gegeben. Die Apparatschiks und Geheimdienstler Ceauşescus tauchten als neue Demokraten und Kapitalisten wieder auf und rissen sich das Land unter den Nagel.

Revolution oder Inszenierung?

Ein direktes Opfer dieser Entwicklung ist auch Robert Dornhelm: Ein großer, dunkler Jugendstil-Gebäudekomplex auf dem Siegesplatz in Sichtweite der Oper hatte einst seiner Familie gehört. Diese wurde von den Kommunisten enteignet. Alle Versuche, die Immobilie restituiert zu bekommen, sind bisher gescheitert. Der Filmemacher freut sich über die Verleihung der Ehrenbürgerschaft, aber sie sollte doch dazu führen, „dass mir der Schlüssel zu meinem Haus übergeben wird“, meint er. Es ginge ihm nicht um die materiellen Werte, sondern darum, dass ein Unrecht wiedergutgemacht wird. „Aber dahin ist der Weg noch weit.“ Und auch er wirft die Frage auf, die seit 25 Jahren diskutiert wird: Waren die Ereignisse des Dezember 1989 wirklich eine Revolution oder aber eine Inszenierung von Teilen des alten Regimes, ein von oben geplanter und gelenkter Umsturz?

Dornhelm glaubt eher an die letztere Version. „Es war von beidem etwas“, sagt hingegen Adrian Adelan, Journalist bei mehreren deutschsprachigen Medien Rumäniens. Natürlich habe es da Verschwörungen und Manipulationen gegeben. „Wir Jungen auf der Straße aber wollten damals den Sturz der Diktatur. Für uns war es tatsächlich eine Revolution.“ Und wie sehr die großen Hoffnungen von damals in den darauffolgenden Jahren auch enttäuscht wurden – „der Kommunismus wurde doch gestürzt, das Land ist in der EU und in der NATO. Und jetzt macht auch die Demokratie Fortschritte.“

Rumänien hat mit Klaus Johannis, dem ehemaligen Bürgermeister von Sibiu (Hermannstadt), einen Politiker zum Präsidenten gewählt, der nicht aus den alten Seilschaften kommt. Er verspricht, gegen die grassierende Korruption vorzugehen. In diesem Jänner wurden bereits mehrere ehemalige hohe Beamte und Politiker verhaftet, freut sich Adelan: „Seit Langem sehen die Leute wieder zuversichtlich in die Zukunft.“ Was aber damals in den Dezembertagen des Jahres 1989 wirklich passiert ist – das werde man so bald nicht wissen. Wenn überhaupt je.

Georg Hoffmann-Ostenhof