Botschafter Dmitri Ljubinski in der russischen Botschaft in Wien
Krieg in der Ukraine

Russischer Botschafter: „Das ist keine Frage der Wahrheit.“

Dmitrij Ljubinskij behauptet, die Ukrainer sprengten ihre eigenen Krankenhäuser und hält die Sanktionen für „reine Räuberei“.

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Aufmerksame Leserinnen und Leser werden sich an ein Interview mit dem russischen Botschafter erinnern können, dass dieser profil noch vor der Invasion Russlands in der Ukraine gab (profil Nr. 7/ 2022). Damals, vor knapp zwei Monaten, standen russischen Truppen an der ukrainischen Grenze, und die Welt war besorgt. Botschafter Dmitrij Ljubinskij wollte damals dennoch nichts von einer Bedrohung durch Russland wissen. Mittlerweile dauert der Krieg bereits über sechs Wochen, und nun gibt Botschafter Ljubinskij profil sein erstes Interview seit Kriegsbeginn. Fühlt er sich durch die Ereignisse in seinen damaligen Aussagen widerlegt?

Das Gespräch findet in der Russischen Botschaft in der Wiener Reisnerstraße statt. Das Straßenschild ist überklebt, „Straße der ukrainischen Helden“ steht da jetzt. Ein Bauzaun gegenüber dem Eingang der Botschaft ist übersät mit Slogans gegen den Krieg und gegen Russlands Präsident Wladimir Putin.

profil: Herr Botschafter, Sie haben in einem Interview mit profil Mitte Februar spöttisch angemerkt, dass westliche Medien und Regierungen einen Einmarsch Russlands in die Ukraine befürchteten. Sie sagten damals, die Leute seien „müde von diesen Geschichten“. Zehn Tage später begann die russische Invasion. Hat Ihnen Ihre Regierung damals nicht die Wahrheit gesagt, oder haben Sie uns nicht die Wahrheit gesagt? 

Ljubinskij: Das ist keine Frage der Wahrheit. Ich habe damals sehr ausführlich mit Ihnen über die ganze Situation gesprochen. In den Tagen danach haben wir zusätzliche zuverlässige Informationen erhalten über bevorstehende Angriffspläne der ukrainischen Truppen in der Donbass-Region mit schwersten Folgen für die Zivilbevölkerung. Das Datum für diesen Angriff stand bereits fest, es sollte der 8. März sein. Jetzt haben wir weitere Belege dafür, wie auch über Chemie- und Biowaffenlabors in der Ukraine.

profil: Sie behaupten, die Ukraine habe einen Angriff im Donbass vorbereitet, während rund 150.000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze standen, bereit zum Einmarsch? Wie realistisch ist das?

Ljubinskij: Wie realistisch das ist? Also ich weiß nicht, wie realistisch überhaupt die ukrainische Militärführung und deren Planung sind. Jedenfalls wurden damals die beiden Volksrepubliken Lugansk und Donezk von Russland anerkannt, was die Lage völkerrechtlich gänzlich änderte. Was die russische Armee anschließend tat, entspricht der UN-Charta gemäß Artikel 51, der die Selbstverteidigung und Verteidigung von Verbündeten regelt.

profil: Das müsste der Internationale Gerichtshof entscheiden, der bereits vor zwei Wochen in einem ersten Urteil Russland aufgefordert hat, die militärischen Operationen in der Ukraine zu stoppen. Aber kommen wir zum Ziel, das Präsident Wladimir Putin für diesen Krieg genannt hat: die „Entnazifizierung“ der Ukraine. Im profil-Interview vor Kriegsbeginn haben Sie kein einziges Mal den Begriff „Nazis“ erwähnt oder über eine Notwendigkeit gesprochen, die Ukraine zu entnazifizieren. Zehn Tage später war das der Grund, mit 150.000 Soldaten einzumarschieren. Das klingt doch sehr nach einem Vorwand?

Ljubinskij: Wir haben acht Jahre lang – seit Beginn des Krieges im Donbass 2014 – ständig über Nazis gesprochen. In unserem letzten Gespräch konnten wir nicht über alles reden. Sie stellten die Fragen.

profil: Ihre Regierung verbietet es Medien in Russland, von einer „Invasion“ zu sprechen. Die Definition des Begriffs „Invasion“ lautet: das feindliche Einrücken von militärischen Einheiten in ein fremdes Gebiet. Was davon trifft im Fall der russischen Truppen in der Ukraine nicht zu?

Ljubinskij: Unsere militärische Operation ist ganz klar begründet: Dadurch, dass wir die beiden Volksrepubliken anerkannt haben, üben wir das Recht auf Verteidigung unserer Verbündeten aus.

profil: Niemand außer Russland hat diese selbst ernannten Volksrepubliken anerkannt. Völkerrechtlich bewirkt das gar nichts. Aber eine Invasion ist das, was Ihre Truppen machen, in jedem Fall.

Ljubinskij: Nein, wir verteidigen unsere Verbündeten.

profil: Auf fremdem Staatsgebiet. Wie kann man Medien verbieten, das auszusprechen?

Ljubinskij: Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg hat in einem Fernsehinterview zugegeben, dass sich der Westen in einem Informationskrieg mit Russland befindet. Russische Medien werden überall im Westen verboten. Es herrscht eine totale Informationsblockade.

profil: Im Westen können Leute öffentlich heftige Kritik an der NATO üben und auch für Russland demonstrieren, ohne verhaftet zu werden.

Ljubinskij: Ich wiederhole mich. Wir erleben eine totale Informationsblockade, wo man im Westen überhaupt kein wahres Bild sieht von dem, was vor Ort wirklich geschieht und welche Kriegsverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung und gegenüber Kriegsgefangenen begangen werden. Man bekommt überhaupt keine Möglichkeit, etwas darüber zu sehen, zu lesen oder zu erfahren.

profil: Immerhin werden Sie gerade zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit von profil interviewt, und eine Interviewanfrage von uns haben Sie bereits am ersten Tag nach der Invasion bekommen.

Ljubinskij: Ich gebe zu, profil ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme.

profil: Bitte erklären Sie unseren Leserinnen und Lesern, was das eigentliche Ziel dieses Krieges ist. Putin nannte die Entnazifizierung und Demilitarisierung. Er sagte, in der ukrainischen Regierung säßen „Drogenabhängige und Neonazis“.

Ljubinskij: Unser Präsident hat das ganz klar und eindeutig gesagt. Ich brauche es nicht zu wiederholen. Die Entnazifizierung ist eine schwierige Sache. Das Problem löst sich nicht von heute auf morgen in Luft auf.

profil: Wer sind die Nazis in der ukrainischen Regierung?

Ljubinskij: Sie möchten konkrete Namen?

profil: Ja.

Ljubinskij: Das ist nicht meine Aufgabe. Wir sprechen über ein grundlegendes Problem in der Ukraine.

profil: Die rechtsextreme Partei Swoboda schaffte bei den Parlamentswahlen 2019 gerade einmal knapp mehr als zwei Prozent.

Ljubinskij: Es geht um die Politik. Sie im Westen wollen nicht sehen, dass es seit acht Jahren einen Krieg im Donbass gibt, bei dem 13.000 Menschen getötet wurden.

profil: In einem Krieg zwischen der Ukraine und Separatisten, die von Russland unterstützt werden.

Ljubinskij: Wer hat denn die Kontrolle über die paramilitärischen Truppen der Ukraine? Der gewählte Präsident?

profil: Im Moment versucht er jedenfalls mit seinen Streitkräften die Ukraine zu verteidigen, nicht?

Ljubinskij: Ich sehe vielmehr, dass er versucht, sich im Westen auf Bildschirmen zu zeigen.

profil: Was kein kriegerischer Akt ist.

Ljubinskij: Das ist kein kriegerischer Akt, aber zur selben Zeit werden von militärischen Verbänden der Ukraine massenhaft Kriegsverbrechen begangen.

profil: Den russischen Streitkräften werden Kriegsverbrechen vorgeworfen, weil sie mehrere Krankenhäuser, das Theater in Mariupol und andere zivile Gebäude wie Wohnhäuser und Einkaufszentren bombardiert haben.

Ljubinskij: Sind Sie sicher, dass das Fakten sind? Woher wissen Sie das?

profil: Wer hat denn die Krankenhäuser bombardiert?

Ljubinskij: Es gibt Belege, dass es überhaupt kein Bombardement war, sondern eine Explosion. Die Ukrainer platzieren Sprengsätze.

profil: In ihren eigenen Theatern, in ihren eigenen Krankenhäusern?

Ljubinskij: Und sie benutzen die Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde. Die Gräueltaten des berüchtigten Bataillons „Asow“, auch jetzt in Mariupol, sind in dieser Hinsicht ungeheuerlich. 

profil: Haben Sie irgendeinen Beleg für diese Behauptungen?

Ljubinskij: Ja. Wir dokumentieren alles und werden es bis zum Ende verfolgen.

profil: Werden Sie diese angeblichen Belege einer internationalen Untersuchung – zum Beispiel dem Internationalen Strafgerichtshof – zur Verfügung stellen?

Ljubinskij: Ich will nicht weiteren Entwicklungen vorgreifen. Aber solche Kriegsverbrechen werden wir zweifellos verfolgen.

profil: Wenn Sie behaupten, die Ukrainer würden ihre eigenen Krankenhäuser sprengen, wer bombardiert denn Ihrer Einschätzung nach die Stadt Mariupol?

Ljubinskij: Russland bombardiert nicht Städte, sondern ausschließlich militärische Ziele.

profil: Dann besteht Mariupol offensichtlich fast zur Gänze aus militärischen Zielen.

Ljubinskij: Das müssen Sie einen Militärexperten fragen, ich bin nicht vor Ort, und Sie auch nicht. Was ich hingegen von hier aus feststellen kann, ist die Russophobie, von der sogar der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kürzlich eingeräumt hat, dass sie mittlerweile in der EU im Mainstream verankert sei.

profil: Was Morawiecki gemeint hat, ist, dass die Warnungen vor Russland, die lange als übertrieben und russlandfeindlich abgetan wurden, seit der Invasion weitgehend geteilt werden. Was meinen Sie, warum die links geführte deutsche Regierung, der auch die teilweise pazifistisch geprägten Grünen angehören, plötzlich Deutschland aufrüsten möchte?

Ljubinskij: Die Russophobie hat wohl auch damit zu tun: Botschafter Ljubinskij zieht ein Foto aus seinen Unterlagen, auf dem ein Demonstrant zu sehen ist, der ein Foto hochhält. Es zeigt ein Mädchen neben Trümmern einer Rakete. Das ist eine antirussische Demonstration in Wien mit angeblichen Beweisen für aktuelle russische Gräuel. Wissen Sie, aus welchem Jahr das Foto stammt? Aus 2014, und es kommt aus dem Donbass! Das ist ein Beispiel dafür, wie Medien im Westen arbeiten.

profil: Das sind aber keine Medien, das ist ein Demonstrant. Würde eine österreichische Zeitung so etwas abdrucken, könnte ich Ihren Vorwurf nachvollziehen.

Ljubinskij: Es geht ums Prinzip. Wann immer Österreicher oder Deutsche den Fernseher einschalten, sehen sie nur solche multiplizierten Bilder ukrainischer Propaganda. Alles wird in eine Richtung gedreht, immer gegen Russland.

profil: Ich vermute, die Wirtschaftssanktionen halten Sie ebenfalls für unbegründete Russlandfeindlichkeit?

Ljubinskij: Sanktionen gegen Russland sind nicht neu. Jetzt ist es zu einer Art Wettbewerb geworden, wer Russland härter bestraft. In vielen Fällen ist es reine Räuberei. Was will man damit erreichen?

profil: Ein Ende des Krieges.

Ljubinskij: Es müsste jedem längst klar sein, dass Russland seine Politik im Fall der Ukraine nicht ändert. Was also will der Westen? Die britische Regierung hat offen ausgesprochen, dass man die russische Wirtschaft zerstören wolle. Wir werden es überleben. Es kann keine Rede davon sein, dass unser Land von der Welt abgeschnitten sei. Wir haben verlässliche Partner in allen Ecken der Welt.

profil: Welche?

Ljubinskij: China. Indien. Viele andere, insgesamt mehr als die Hälfte der Menschheit.

profil: Präsident Putin hat ein Dekret unterzeichnet, wonach ausländische Gas-Kunden ab sofort – entgegen den Verträgen – in Rubel zahlen müssen. Ist das der erste Schritt zu einem Lieferstopp?

Ljubinskij: Es geht unsererseits nicht um einen Lieferstopp, sondern um Zahlungsmodalitäten. Russisches Gas wird weiterhin zuverlässig nach Europa und Österreich geliefert. Unsere Konten und Aktiva sind im Westen rechtswidrig eingefroren. Deshalb wird das neue Zahlungsschema in Rubel vorgeschlagen. Dies ist gleichzeitig einfach und transparent. Eine Wohltätigkeit in Richtung unfreundlicher Staaten ist von uns nicht zu erwarten. Es sollte keine Schwierigkeiten bei der Umsetzung geben.

profil: Nach Aussagen Ihrer Regierung läuft der Krieg nach Plan. Wir kennen den Plan nicht, deshalb können wir das schwer beurteilen. Werden die russischen Streitkräfte noch einmal versuchen, Kiew einzunehmen?

Ljubinskij: Ich glaube, es ist nicht das Ziel, Kiew einzunehmen oder gar die ganze Ukraine.

profil: Die Angst der ukrainischen Bevölkerung vor diesem Angriff ist weiterhin groß. Die Flucht nach Westen hält an. Haben Sie das erwartet?

Ljubinskij: Eine Flüchtlingswelle ist eine schwerwiegende Herausforderung. Ich verstehe die Reaktion von Österreich, Familien aufzunehmen. Aber es gibt auch Sicherheitsbedenken, weil man nicht genau weiß, wer sich in der Masse der Flüchtlinge verbergen könnte. Ich habe die Paramilitärs erwähnt, die in den Neonazi-Bataillons der Ukraine gedient und Verbrechen begangen haben und jetzt fliehen.

profil: Sie kommen immer wieder darauf zurück. Aber wie stehen Sie eigentlich zu der rechtsextremen Miliz „Gruppe Wagner“, die Russland überall, wo es Krieg führt, als Schattenarmee dient – angeblich auch in der Ukraine.

Ljubinskij: Die kämpft nicht in der Ukraine.

profil: Wie beurteilen Sie diese Miliz in Bezug auf Rechtsextremismus?

Ljubinskij: Ich brauche das nicht einzuschätzen, es ist keine staatliche Struktur.

profil: Sie haben die Ukrainer als „Brudervolk“ bezeichnet. Was meinen Sie, welches Bild sie jetzt von Russland haben?

Ljubinskij: Ein sehr unterschiedliches. Sie werden in Lwiw, in Odessa, in Charkiw jeweils andere Antworten bekommen.

profil: Und was glauben Sie, ist die Mehrheitsmeinung? Fühlen sich die Ukrainer befreit oder verabscheuen sie die russische Führung?

Ljubinskij: Ich möchte keine Spekulationen anstellen. Nach dem Abschluss der Friedensverträge wird man ein klares Bild haben.

Dmitrij Ljubinskij, 54,

ist bereits zum zweiten Mal Botschafter Russlands in Wien. Zunächst von 2005 bis 2008, nun erneut seit 2015. Ljubinskij studierte in Moskau Internationale Beziehungen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur