Saudi Arabien: Wie Kronprinz Mohammed bin Salman sein Land umkrempelt
Auf der Landkarte unseres Weltwissens gibt es kaum einen Flecken, der gleichzeitig so dicht beschrieben und so blank ist wie Saudi-Arabien: dicht beschrieben, weil wir eine klare Vorstellung davon zu haben glauben, was dort vor sich geht; blank, weil das Ausmaß unserer tatsächlichen Kenntnisse denkbar gering ist.
Das liegt allerdings nicht nur an westlicher Ignoranz, sondern auch an jahrzehntelang gepflogener Selbstabschottung. Das Königreich öffnete seine Grenzen zwar traditionell für alle Muslime auf der Pilgerfahrt nach Mekka, darüber hinaus aber nur für wirtschaftsrelevante Ausländer - vor allem Dienstboten aus asiatischen Schwellenländern und Mitarbeiter der Ölbranche.
Umgekehrt traten Saudis vor allem in Gestalt betuchter Luxusurlauber an der Côte d'Azur oder in teuren Alpenresorts in das Bewusstsein der Öffentlichkeit - oder durch Skandale um verzogene Prinzessinnen, die aus Launenhaftigkeit ihre Leibdiener oder das Hotelpersonal misshandelten.
Das wenige, was aus der Monarchie nach außen drang, waren Berichte über eine ans Absurde grenzende Geschlechter-Apartheid, barbarische Bestrafungsmethoden und religiösen Fanatismus. Repräsentiert wurde das herrschende System durch die Scharia-Polizei, die mit brutalen Mitteln dafür sorgte, dass die Vorschriften des saudischen Staatsglaubens eingehalten wurden: des Wahhabismus, einer besonders rigiden Auslegung des Islam.
Umsturzversuch vor 40 Jahren
Endgültig unter die Fuchtel des Fundamentalismus war das Land eigentlich erst vor vier Jahrzehnten geraten. Im Jänner 1979 hatte das Königshaus mitansehen müssen, wie die Islamische Revolution in ihrem Nachbarland Iran das Schah-Regime hinwegfegte. Wenige Monate später wurde es selbst zum Ziel eines Umsturzversuchs: Anfang November stürmten militante Islamisten, denen die Monarchie zu liberal erschien, die Große Moschee in Mekka und nahmen Tausende Pilger als Geiseln. Der Kampf um das Heiligtum dauerte zwei Wochen und forderte Hunderte Menschenleben.
Unter dem Eindruck dieser Ereignisse gingen die saudischen Herrscher weitreichende Konzessionen gegenüber den Erzkonservativen ein. Sie tolerierten, dass sich der Wahhabismus im eigenen Land ungehindert ausbreiten und von dort aus weltweit exportiert werden konnte.
Die stille Allianz mit den radikalen Islamisten und ein durch Erdölerträge alimentierter Wohlfahrtsstaat sicherten dem Königshaus das innenpolitische Überleben, die Partnerschaft mit den USA zugleich das außenpolitische. Bereits in den 1940er-Jahren hatten die Saudis mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt einen Deal ausgehandelt, der ihnen im Gegenzug für günstiges Öl eine weitreichende Militärpartnerschaft garantierte.
Eine absolute Monarchie, regiert von greisen Königen, gestützt von westliche Interessen, in Geiselhaft einer fundamentalistischen Religion: Von außen betrachtet deutete nichts darauf hin, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern würde. Anfang November 2017 jedoch wurde plötzlich sichtbar, dass in der Black Box des Hauses Saud längst ein Machtkampf um die Zukunft im Gang war.
Schlag gegen Korruption
Am 4. November verwandelte sich das Ritz-Carlton Hotel in der Hauptstadt Riad zum Gefängnis für Hunderte Prinzen, Minister und andere hochrangig Funktions- und Würdenträger. Kronprinz Mohammed bin Salman, Sohn und designierter Nachfolger des regierenden Königs Salman, hatte deren Festnahme angeordnet. Es war ein Schlag gegen die korrupten Eliten des Landes. Um ihre Freilassung zu erkaufen, mussten sich die Fünf-Stern-Häftlinge verpflichten, Geld zurückzuerstatten, das sie zuvor ergaunert hatten. Mehr als 100 Milliarden Dollar flossen so in die Staatskassen zurück, ließ Mohammed bin Salman später wissen.
Mit diesem Putsch von oben signalisierte der 32-Jährige (der gemeinhin auch unter dem Kürzel MBS bekannt ist) aber auch möglichen politischen Gegnern ganz klar, ihm besser nicht in die Quere zu kommen.
Der Aufstieg des Kronprinzen hatte sich für Kenner Saudi-Arabiens bereits seit Jahren abgezeichnet. MBS galt als Lieblingssohn seines Vaters. König Salman habe ihn Gesprächspartnern immer mit offensichtlichem Stolz vorgeführt, erinnert sich Joseph Westphal, ehemaliger US-Botschafter in Riad, in einem eben erschienenen Artikel des Magazins "The New Yorker".
Als König Salman 2015 den Thron bestieg, ernannte er seinen Sohn zum Verteidigungsminister und Generalsekretär des königlichen Hofes. Inzwischen ist MBS zudem Vorsitzender des königlichen Wirtschaftsrates und kontrolliert sämtliche Sicherheitsbehörden des Landes. Vergangenes Jahr avancierte er zum Kronprinzen.
Und er nutzte seine Stärke, um unter dem Titel "Vision 2030" eine Reihe von Reformen zu verkünden , die nach 40 Jahren religiöser Repression längst überfällig waren. "Wir gehen zurück zum moderaten Islam, der offen gegenüber der Welt und allen Religionen ist", hatte MBS bereits im April 2017 angekündigt und damit auf die Ära vor dem Jahr 1979 angespielt. Im Gegensatz zu vielen anderen hat MBS nie im Ausland studiert, weshalb muslimische Hardliner ihm schwer vorwerfen können, von westlichen Ideen vergiftet zu sein.
Religionspolizei entmachtet
Mittlerweile ist die gefürchtete Religionspolizei entmachtet: Sie darf nicht mehr mit Schlagstöcken, sondern nur noch "beratend" für die Einhaltung wahhabitischer Vorschriften sorgen. Und Letztere haben für die Gesellschaft bereits merklich an Bedeutung eingebüßt, seit der Kronprinz etwa die Verhüllung des weiblichen Gesichtes durch den Niqab für obsolet erklärt und das verpflichtende Tragen der Abaya - des traditionellen, bodenlangen Überkleides - infrage gestellt hat. Der Koran verlange nur, dass Männer und Frauen anständig angezogen seien, und das sei eine Definitions-, keine Glaubensfrage: "Die Entscheidung, welche dezente und respektvolle Kleidung sie tragen wollen, liegt vollständig bei den Frauen."
Das System der Vormundschaft, in dem Frauen bislang komplett unter Kuratel männlicher Angehöriger standen, existiert immer noch, wurde aber zumindest in Teilbereichen aufgeweicht. Zumindest für Behördengänge und die Gründung von Unternehmen ist keine Zustimmung von Vätern, Ehegatten, Brüdern oder auch Söhnen mehr erforderlich; was Reisen, Ausbildungswege und andere Bereiche betrifft, ist allerdings immer noch eine Erlaubnis von Männern nötig, wenngleich diese seit Längerem pauschal auf mehrere Jahre hinaus erteilt werden kann.
In den Städten Saudi-Arabiens werden gerade die ersten Theater und Konzerthäuser gebaut, am Mittwoch kommender Woche läuft in einem neu errichteten Kino in Riad der allererste Film. Ende Februar fand in Jeddah, der vergleichsweise liberalen Handelsmetropole am Roten Meer, das erste Jazzfestival in der Geschichte des Königsreiches statt.
Vergangene Woche schließlich brach MBS öffentlich eines der ehernen Tabus der islamischen Welt: Er propagierte öffentlich das Existenzrecht Israels. "Ich glaube, dass die Palästinenser und die Israelis Anspruch auf ein eigenes Land haben. Aber wir brauchen ein Friedensabkommen, um Stabilität für alle und ein normales Verhältnis zu haben", erklärte er gegenüber dem US-Magazin "Atlantic".
Druck der Realität
All das geschieht nicht in erster Linie aus reiner Reformfreude, sondern auch unter dem Druck der Realität. Die Bevölkerung hat sich seit dem Jahr 1950 bis heute von 3,5 Millionen auf derzeit rund 31 Millionen fast verzehnfacht und wächst bei einer Geburtenrate von 2,7 Kindern pro Frau weiter; 65 Prozent der Bevölkerung sind weniger als 30 Jahre alt. Gleichzeitig ist ein Ende des Öl-Zeitalters und damit der einzigen nennenswerten Einnahmequelle des Königreichs abzusehen. Nicht von ungefähr hat Saudi-Arabien jüngst die Treibstoffpreise um 80 Prozent auf umgerechnet rund 30 Cent pro Liter erhöht, eine - mit fünf Prozent äußerst moderate - Mehrwertsteuer eingeführt und den Einstieg in die friedliche Nutzung der Atomenergie beschlossen.
In diesem Zusammenhang ist auch ein gigantisches Prestigeprojekt namens Neom zu sehen, das im Norden des Landes entsteht und jordanisches sowie ägyptisches Territorium einschließt. Dort soll auf mehr als 26.000 Quadratkilometern, also einer Fläche von der Größe der Bundesländer Steiermark und Kärnten, der modernste Technologiepark der Welt entstehen - mit einer Stadt, die auf dem jüngsten Stand der Technik ist und auch nicht den strengen Gesetzen Saudi-Arabiens unterliegt.
"In 20 Jahren ist es mit dem Öl vorbei, und dann sind die erneuerbaren Energien an der Reihe. Ich habe also 20 Jahre, um mein Land neu auszurichten und in die Zukunft zu führen", soll MBS laut "New Yorker" bei einem Treffen mit Risikoinvestoren in San Francisco unverblümt gesagt haben.
Umso entscheidender ist es, die Wirtschaft zu diversifizieren - und den Hunderttausenden jungen Leuten, die in den vergangenen Jahren dank üppig dotierter Stipendien im Ausland studieren konnten, zu Hause eine Perspektive zu bieten. Damit verbunden sind erstmals auch Arbeitsmarktmaßnahmen. Bislang waren saudische Bürger vor allem im staatsnahen Sektor oder als Grundstücks- und Immobilienhändler tätig; nun sollen sie dazu gebracht werden, sich in der Privatwirtschaft zu betätigen. Derzeit entstehen vor allem rund um das Auto neue Jobs. Dass bald Frauen am Steuer sitzen dürfen, macht sich nicht nur bei den Verkaufszahlen bemerkbar, sondern auch in der Versicherungsbranche. Zudem eröffnet eine Fahrschule nach der anderen. Währenddessen verlieren Zehntausende Chauffeure, die als Gastarbeiter im Land sind, ihre Arbeit und damit auch ihre Aufenthaltsgenehmigung.
Unter ähnlichem Druck wie im wirtschaftlichen Bereich stehen die Saudis in sicherheitspolitischer Hinsicht. Die Amtszeit von US-Präsident Barack Obama hat ihnen schmerzlich vor Augen geführt, dass es mit ihrer bevorzugten Stellung im Weißen Haus durchaus auch einmal vorbei sein kann, wenn der falsche Mann im Oval Office sitzt. Obama hatte nämlich auf Entspannung ausgerechnet gegenüber dem Iran gesetzt, zu dem nach der Islamischen Revolution und der Besetzung der US-Botschaft in Teheran alle Kontakte abgebrochen worden waren - und damit den Erzfeind der Saudis aufgewertet.
Erzfeind Iran
Das Verhältnis zwischen dem Königreich und der Islamischen Republik Iran ist seit jeher vergiftet. Das sunnitisch dominierte Saudi-Arabien betrachtet sich als Hüter des Glaubens, weil die Heiligen Stätten von Mekka und Medina auf seinem Territorium liegen. Der Iran wiederum sieht sich als Schutzmacht der schiitischen Muslime. Und die zwei staatlichen Alphatiere verfolgen über religiöse Interessen hinaus auch ganz profan strategische: Sie rittern um die Vormacht in der Region.
Derzeit führen die beiden ganz offen mehrere Stellvertreterkriege. Im Jemen kämpft das Königreich gegen die schiitischen Houthi-Rebellen, die vom Iran mit Waffen versorgt werden: etwa Raketen, die - wie erst Ende März wieder einmal geschehen - selbst Riad erreichen können. In Syrien wiederum hat das Haus Saud diverse Rebellenfraktionen finanziert, während das Regime in Teheran die Diktatur von Bashar al-Assad unterstützt. Auch im Libanon mischen die Saudis mit. Dort versuchten sie im vergangenen November, Regierungschef Saad Hariri zu stürzen, der ihrer Meinung nach zu weich gegenüber der Hisbollah-Miliz auftritt, die wiederum mit dem Iran verbündet ist.
In der Außenpolitik erweist sich Kronprinz MBS bislang als Hardliner. Anlässlich eines Staatsbesuchs bei US-Präsident Donald Trump drohte er etwa damit, Saudi-Arabien werde Atomwaffen entwickeln, sollte auch der Iran entsprechende Anstalten machen. Bei seinen Landsleuten machen ihn Ankündigungen wie diese nicht unpopulär - im Gegenteil.
Ähnliches gilt für sein grundsätzliches Beharren auf den bestehenden Machtverhältnissen. Davon, dass er die Monarchie zur Disposition stellen würde, kann keine Rede sein. Auch den Reichtum, den er mit seiner Herkunft ererbt hat, will sich MBS nicht streitig machen lassen: einen Palast in Frankreich, eine Yacht im Mittelmeer Er spende ohnehin mehr als die Hälfte seines Einkommens für soziale Zwecke, ließ er auf eine Interviewfrage wissen. Was er mit dem Rest anfange, gehe niemanden etwas an.
Und auch was Menschenrechte und Meinungsfreiheit betrifft, bleibt immens viel aufzuholen. Noch immer ist der Blogger Raif Badawi in Haft, der 2013 wegen "Beleidigung des Islam" zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenhieben verurteilt wurde. Viele andere politische Aktivisten teilen sein Schicksal.
Andererseits: MBS war schon mehrmals für Überraschungen gut. Möglich, dass weitere folgen.