Schatten am Evros: Querung des Grenzflusses als Mittelmeer-Alternative
3986 - die Zahl überraschte alle: griechische Regierungsbeamte, Bürgermeister, Helfer des UNHCR, NGOs. 3986 Flüchtlinge kamen im April dieses Jahres über den Grenzfluss Evros aus der Türkei nach Griechenland. Im Monat davor waren es 1658, auch das galt schon als untypisch. 2017 hatten 6000 Flüchtlinge und Migranten den Evros gequert.
Der April ist der bisher einzige Monat, in dem mehr Menschen auf dem Landweg über den Evros nach Griechenland gelangten als über die Ost-Ägäis zu den griechischen Inseln (rund 3000). Im Mai ging die Zahl der Evros-Querungen wieder auf unter 1000 zurück.
Drei Tage lang beobachtete der profil-Reporter die Lage im nordostgriechischen Grenzdorf Pythio und Umgebung. Hier ist einer der häufiger benutzten Übertrittspunkte. Von der Terrasse des Cafés "Charama" fällt der Blick auf die Auen des Evros. Eine kleine Brücke führt über einen Seitenarm. "Über die kommen sie meistens", sagt Ortsvorsteher Charis Theocharidis. "Schau, da unten", meint er gleich am ersten Abend, nach dem Kennenlernen. Unterhalb der Terrasse verlaufen die Straße und ein Bahndamm. Wie Schatten huschen zehn Gestalten auf den Schienen vorbei, in Zweier-und Vierergruppen, in kleinen Abständen. Es ist bereits dunkel, die jungen Männer tragen kleine Rucksäcke, leichte Jacken, Turnschuhe. Einem von ihnen ist zu entlocken, dass sie Palästinenser sind.
Zwei Tage später stößt der Reporter im Nachbardorf Sofiko am helllichten Vormittag auf offener Landstraße auf Adel Ali (31) und Suleiman Khalid (30). Sie geben an, Kurden aus dem Nordirak zu sein. Sie sind gerade aus den Uferböschungen des Evros gekrochen und klagen über Hunger und Durst. "Vier Tage mussten wir drüben im Unterholz warten", erzählt Adel Ali. Schlepper organisierten das Boot und gaben schließlich grünes Licht für die Abfahrt. Türkische Sicherheitskräfte hätten sie keine gesehen, sagen sie. Beide wollen nach Deutschland.
Das Herumlungern im "Charama" führte zu zahlreichen Gesprächen mit ortsansässigen Bürgern, die viel sehen und hören. Der Bahndamm im Evros-Tal dient vielen Flüchtlingen als Orientierungshilfe. Das Gebiet um den Friedhof über dem Dorf sei ein gelegentlicher Sammel-und Rastpunkt. Hier geschehe die Kontaktaufnahme zu jenen Schleppern, die die Flüchtlinge weiterbringen sollen. Konsens herrscht unter den Einwohnern darüber: Wenn Familien mit Kindern kommen, dann gibt man ihnen Trinkwasser, Milch, Brot, Keks, Sandwiches. Die Frage, warum plötzlich so viele Menschen über den Fluss kamen und dann wieder wesentlich weniger, bleibt ohne Antwort.
Auf einer Länge von fast 200 Kilometern bildet der Evros (türkisch: Meric, bulgarisch: Mariza) über weite Strecken die natürliche Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Grundsätzlich erscheint die Flucht über den höchstens 150 Meter breiten Fluss weniger gefährlich als die mindestens Acht-Kilometer-Fahrt über die manchmal stürmische Ägäis.
Trotzdem hat das Binnengewässer seine Tücken. "Es ist ein gefährlicher Fluss", sagt ein Einheimischer. "An der Oberfläche ist er glatt und ungetrübt, aber von unten wühlt es. Da ziehen einen Strudel und Wirbel hinunter."
Tatsächlich ertrinken immer wieder Flüchtlinge in den Fluten des Evros. Allein in diesem Jahr kamen nach offiziellen Angaben bereits zwölf Menschen im Fluss um, neun waren es im gesamten Vorjahr. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer höher. Manche Leichen tauchen nie oder erst nach Jahren auf. Wenn der griechische Zivilschutz zu Bergungsarbeiten anrückt, feuern die türkischen Wachtposten am anderen Ufer manchmal Warnschüsse über ihre Köpfe hinweg ab.