Der mysteriöse Ukraine-Kurs von Olaf Scholz: Der Zauderkanzler
Von Siobhán Geets
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Olaf Scholz möchte dringend etwas klarstellen, entschlossen und ernst blickt er in die Kamera. „Wir wollen nicht, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO wird“, sagt er in einer kürzlich veröffentlichten Videobotschaft, und: Als deutscher Bundeskanzler werde er keine Soldaten der Bundeswehr in die Ukraine entsenden. „Darauf können sich unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen. Darauf können Sie sich verlassen.“
Selten hat Olaf Scholz so klare Worte gefunden. Der Sozialdemokrat gilt als kühler Hanseat, den nichts aus der Ruhe bringen kann, nicht einmal der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Nur: Niemand hatte die Entsendung deutscher Soldaten in die Ukraine gefordert.
Ich habe die große Sorge, dass wir uns von Putin erpressen lassen und das in der Folge zu einer Ausweitung des Krieges führen wird. Jedes Zögern kann gefährlich werden.
Scholz verdankt die Gelegenheit für die klaren Worte Emmanuel Macron. Frankreichs Staatspräsident hatte beim Abendessen mit Staats- und Regierungschefs angeregt, über eine Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine nachzudenken. „Nur über meine Leiche“, soll Scholz gesagt haben. Zwei Tage später nahm er das Video auf.
Keine Bodentruppen, keine Langstreckenraketen, keine direkte oder indirekte Kriegsbeteiligung – Olaf Scholz gibt sich als „Friedenskanzler“, der sein Land so gut wie möglich aus dem Krieg in der Ukraine heraushält. Immer wieder spricht er von einer drohenden Eskalation. Vom „Spiegel“ auf die Bitte der Ukrainer nach Waffenlieferungen angesprochen, sagte Scholz: „Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben.“ Seine Rhetorik der Angstmache stößt bei Kritikern im In- und Ausland auf Unverständnis. Mit Blick auf die Bundestagswahlen 2025 inszeniere er sich als Friedenskanzler, so der Tenor, verschweige dabei aber, welche Ziele er damit verfolge.
Die SPD hoffe nach wie vor, bald zu den ehemals guten Beziehungen zu Moskau zurückzufinden, wenn sie nur konziliant genug vorgehe, heißt es aus grünen Kreisen in Berlin. „Der Ansatz, an Putins Vernunft zu glauben, ist seit Jahren der falsche, aber das dringt nicht durch.“ Scholz sei beratungsresistent.
Das Zaudern des Kanzlers begann im April 2022. Zwar unterstützte Berlin die Ukraine am Ende auch mit schweren Waffen, doch den Lieferungen von Panzern und Haubitzen gingen lange Debatten voraus, und freigegeben hat Scholz sie immer erst, nachdem die USA ankündigten, ihrerseits schwere Waffen in die Ukraine zu schicken.
Seither erhält die Regierung in Kyiv (Kiew) „zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben“, wie Experten betonen. Am Schlachtfeld herrscht eine gefährliche Pattsituation mit leichten Vorteilen der russischen Seite, und in den USA blockieren die Republikaner von Donald Trump Militärhilfen für die Ukraine in Höhe von 60 Milliarden Dollar. In Europa drängen Länder wie Frankreich und Großbritannien darauf, mehr Verantwortung zu übernehmen. Doch dafür brauchen sie Deutschland – und der Kanzler zaudert.
Entsetzen in London und Paris
Seit Monaten weigert sich Scholz, der Ukraine Marschflugkörper der Marke „Taurus“ zu liefern. Zuletzt behauptete er, dass es dafür deutsche Soldaten auf ukrainischem Boden bräuchte, und insinuierte, dass das bei französischen und britischen Truppen bereits der Fall sei. Das Entsetzen über die Aussage war nicht nur in London und Paris groß; immerhin schien der Kanzler nahezulegen, dass britische und französische Soldaten aktiv ins Kriegsgeschehen eingreifen.
„Taurus“-Marschflugkörper haben eine Reichweite von 500 Kilometern und durchschlagen selbst Panzerungen und Bunker. Mit ihrer Hilfe könnte die Ukraine die Krimbrücke sprengen und Russland so den Versorgungsweg zur Krim nehmen.
Doch genau davor scheint sich Scholz zu fürchten.
In der Öffentlichkeit kommt ihm der Satz, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss, nicht über die Lippen, nur so viel: „Russland darf nicht gewinnen, die Ukraine nicht verlieren.“ Will sich Deutschlands Bundeskanzler im Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht für eine Seite entscheiden, wie ihm der Politologe Benjamin Tallis vorwirft? Hält er an der Welt vor dem Krieg fest, damit Deutschland seine internationalen Beziehungen nicht überdenken muss? Hat er „in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg den Kompass verloren“, wie der „Spiegel“ attestiert?
Er nimmt in Kauf, die Ukraine subtil in einen Diktatfrieden zu zwingen – und Russland kann weitermachen wie bisher.
Die Presseabteilung des Bundeskanzleramts in Berlin will sich zu den einzelnen Vorwürfen nicht äußern. Auf profil-Anfrage lässt eine Regierungssprecherin wissen, dass sich Scholz zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine immer wieder und sehr ausführlich äußert. Deutschland sei nach den USA der stärkste Unterstützer der Ukraine und habe allein für die militärische Hilfe mehr als 28 Milliarden Euro aufgebracht. „Der deutsche Bundeskanzler wirbt darüber hinaus intensiv diesseits und jenseits des Atlantiks für eine Fortsetzung und Verstärkung der Unterstützung“, schreibt die Regierungssprecherin. Der ukrainische Präsident Selenskyj habe die wichtige und konstruktive Rolle von Bundeskanzler Scholz wiederholt öffentlich gewürdigt.
Kritiker werfen ein, dass Deutschland gemessen am Bruttoinlandsprodukt weit hinten liegt und kleine EU-Staaten deutlich mehr geben.
Klima der Angst
Bei einem Besuch in Washington ließ Scholz im Februar wissen, dass die Ukraine ohne die Hilfen der USA verloren wäre. Das wird auch in Moskau gehört. Verfolgt Scholz eine Strategie oder ist es eine Mischung aus Unvermögen und schlechter Kommunikation, die ihn zu solchen Aussagen treibt?
Der grüne Bundestagsabgeordnete Anton Hofreiter glaubt an eine Mischung aus beidem. „Ich habe die große Sorge, dass wir uns von Putin erpressen lassen und das in der Folge zu einer Ausweitung des Krieges führen wird.“ Gegenüber Autokraten wie Putin müsse man entschlossen und konsequent agieren und kommunizieren: „Jedes Zögern kann gefährlich werden.“
Schwere Vorwürfe gegen Scholz erhebt die oppositionelle CDU. „Er nimmt in Kauf, die Ukraine subtil in einen Diktatfrieden zu zwingen – und Russland kann weitermachen wie bisher“, sagt der CDU-Abgeordnete und ehemalige Oberst der Bundeswehr Roderich Kiesewetter. Scholz habe bereits im April 2022 vor einer nuklearen Eskalation gewarnt. „Das verfängt, gerade in Ostdeutschland.“ Umfragen zufolge will eine Mehrheit der Deutschen keine „Taurus“-Marschflugkörper an die Ukraine liefern. Und im Osten, wo im September in drei Bundesländern gewählt wird, ist die Skepsis gegenüber Waffenlieferungen besonders hoch. Kiesewetter wirft Scholz vor, das Klima der Angst mit seiner Rhetorik erst geschaffen zu haben.
Scholz traut den Ukrainern nicht, darum geht es.
Kiesewetters CDU-Kollege Norbert Röttgen sieht das ähnlich: „Ein Kanzler darf einem kriegsführenden Diktator keine Angst zeigen. Das nutzt Putin.“ Röttgen glaubt nicht daran, dass Scholz einer Strategie folgt. Den Beleg dafür sieht er in Scholz’ Behauptung, dass die Lieferung von „Taurus“-Raketen einem Kriegseintritt gleichkäme. „Das ergibt keinen Sinn und ist schlicht falsch“, sagt Röttgen. „Scholz traut den Ukrainern nicht, darum geht es.“
Von den Grünen in Berlin heißt es, Außenministerin Annalena Baerbock würde der Ukraine die Marschflugkörper gerne liefern, doch Scholz habe Baerbock schon zu Beginn, als es um die „Leopard 2“-Panzer ging, zwei Mal ins Kanzleramt zitiert und zurückgepfiffen. Die Enttäuschung der Grünen über den Kanzler sei groß. Mit Blick auf die Bundestagswahlen im Herbst 2025 gebe es bereits informelle Gespräche mit der CDU über eine mögliche Zusammenarbeit.
Siobhán Geets
ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.