„Wenn Poroschenko mit Putin reden kann, wird es für die Ukraine besser”

Schriftsteller Andrej Kurkow über die Krise in der Ukraine

Interview. Schriftsteller Andrej Kurkow über Petro Poroschenko, den vermutlich künftigen Präsidenten der Ukraine

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Wie begrüßt man jemanden, der einem vor Kurzem sehr viel Schokolade weggenommen hat? Möglicherweise wird Petro Poroschenko schon bald vor dieser Frage stehen – und sie wohl mit den einfachen Worten „Guten Tag, Wladimir Wladimirowitsch Putin“ lösen.

Es spricht alles dafür, dass Poroschenko zum neuen Präsidenten der Ukraine gewählt wird. Umfragen geben dem 48-jährigen Kandidaten einen so großen Vorsprung vor seinen Konkurrenten, dass sogar eine Entscheidung im ersten Durchgang diesen Sonntag möglich scheint.

Der neue Staatschef steht vor Herausforderungen, die größer kaum sein könnten. Er muss so rasch wie möglich ein Land befrieden, das an den Rand des Bürgerkrieges geraten ist. Und er muss dabei mit dem Hauptverantwortlichen für diese Eskalation verhandeln – seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin.

In diesem Zusammenhang spielt konfiszierte Schokolade tatsächlich eine Rolle. Bei seinen Versuchen, die West-Bindung der Ukraine zu verhindern, setzte der Kreml in den vergangenen Monaten auch gezielte Wirtschaftssanktionen ein. Sie trafen unter anderem Poroschenko, der für seine Unterstützung pro-europäischer Initiativen bekannt ist. Zunächst wurde gegen Konfiserieprodukte seines Nahrungsmittelkonzerns Roshen wegen „Gesundheitsgefährdung“ ein Einfuhrstopp verhängt, später führten die Behörden Razzien an zwei seiner Schokofabriken in der zentralrussischen Stadt Lipezk durch und legten die Produktion still.
Poroschenko hielt das nicht davon ab, sich politisch zu betätigen – ganz im Gegenteil: Die Schikanen dürften ihn erst recht dazu bewogen haben, für das Präsidentenamt zu kandidieren.

Die politische Erfahrung und die Verbindungen, die dafür nötig sind, bringt er zweifelsohne mit. Seit 1989 sitzt Poroschenko als Abgeordneter im Parlament, unter dem westlich orientierten Präsidenten Viktor Juschtschenko diente er als Außenminister, unter dem pro-russischen Staatschef Viktor Janukowitsch als Wirtschaftsminister. Parallel dazu baute er ein Geschäftsimperium auf, dessen Aktivitäten weit über die Produktion von Schokolade hinausreichen. Poroschenko besitzt Landwirtschaftsbetriebe, Speditionsunternehmen, Auto- und Rüstungsfabriken sowie Medienbeteiligungen. Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ taxiert sein Vermögen auf rund 1,6 Milliarden Dollar.
Dennoch erfüllt Poroschenko in der Öffentlichkeit weder das Klischeebild des Politikers noch jenes des Oligarchen. An den wüsten Konflikten im Parlament, die gar nicht selten zu Schlägereien ausarten, hat er sich nie aktiv beteiligt. Korruption im großen Stil wurde ihm nie nachgewiesen.
Bei den Euromaidan-Protesten verschaffte er sich nicht nur durch finanzielle Zuwendung Respekt, sondern auch durch beherztes Eingreifen: Als vergangenen Dezember ein Demonstrant drohte, Polizisten mit einem Bagger niederzuwalzen, stellte sich Poroschenko zwischen die Fronten und verhinderte zumindest für den Moment ein Blutbad.

Von der Bevölkerung im Osten des Landes wird Poroschenko nicht als Angehöriger der nationalistischen westukrainischen Eliten in Kiew betrachtet – und schon gar nicht als „Faschist“. Gegen Letzteres spricht, dass er nicht nur zweisprachig ukrainisch-russisch aufgewachsen, sondern auch eine russische Schwiegertochter hat.

Alles in allem ist der mutmaßlich nächste Präsident offenbar vor allem eines: ein Pragmatiker. Das zeigen auch die ganz konkreten Umstände des Zustandekommens seiner Kandidatur. Ausgehandelt wurde sie vor wenigen Wochen in Wien – im Büro des Oligarchen Dimitri Firtash, einem langjährigen Verbündeten des gestürzten Präsidenten Janukowitsch.

Firtash, gegen den wegen Korruptionsvorwürfen ein Auslieferungsbegehren der US-Behörden an Österreich läuft, unterhält als Geschäftspartner des russischen Staatskonzerns Gazprom zudem enge Beziehungen zum Kreml.
An dem Treffen nahm auch Vitali Klitschko teil, der damals noch selbst in Erwägung zog, bei der Präsidentschaftswahl anzutreten. Die drei Herren einigten sich jedoch auf eine andere Vorgangsweise: Klitschko kandidiert lieber als Bürgermeister von Kiew und scheidet damit als pro-westliche Konkurrenz für Poroschenko aus. Welche Gegenleistung dafür vereinbart wurde, ist nicht bekannt.

Poroschenkos Wahlkampf lässt jedenfalls darauf schließen, dass er einen Balanceakt zwischen der EU und Russland versuchen wird. Er redet zwar weiterhin der West-Integration das Wort, spricht sich gleichzeitig aber gegen einen NATO-Beitritt aus. Vorerst scheint dieses Strategie nach beiden Seiten zu funktionieren: Ein Bericht der „New York Times“ insinuiert, Poroschenkos Favoritenrolle habe wesentlich dazu beigetragen, dass der Internationale Währungsfonds einem 18-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Ukraine zustimmte. Währenddessen ging der Kreml davon ab, die Präsidentschaftswahlen offensiv zu torpedieren.

Ob Poroschenko als Präsident die Hoffnungen erfüllen kann, die in ihn gesetzt werden, muss sich erst erweisen. Ukrainer wie der Schriftsteller Andrej Kurkow sind jedenfalls zuversichtlich: „Ich glaube, dass er in dieser Situation die beste Wahl ist, weil er kein politischer Mensch ist, sondern eher ein Geschäftsmann.“

profil: Herr Kurkow, wir führen dieses Gespräch noch vor den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine. Für wen werden Sie stimmen, und warum?
Andrej Kurkow: Für Petro Poroschenko. Ich kenne ihn seit der Orangen Revolution, also schon zehn Jahre lang, und vertraue ihm mehr als jedem anderen Kandidaten. Ich glaube, dass er in dieser Situation die ­beste Wahl ist, weil er kein politischer Mensch ist, sondern eher ein Geschäftsmann. Außerdem ist er kein Radikaler. Er hat bis zuletzt darauf verzichtet, in der Sprache des Krieges zu sprechen – anders als Julia Timoschenko, die Putin mit Aggression drohte und versprach, die Krim zurückzuholen.

profil: Es wird spekuliert, dass auch Russland Poroschenko bevorzugen würde, weil ihn Putin für einen Pragmatiker hält, der mit sich verhandeln lässt.
Kurkow: Wenn Poroschenko mit Putin reden kann, wird es für die Ukraine besser. Poroschenko wird aber unter Druck stehen. Er muss seine Vergangenheit als Geschäftsmann vergessen und zu einem Vollzeit-Politiker werden.

profil: Kann Poroschenko eine integrative Figur werden, zu der auch die russischsprachige Bevölkerung im Osten des Landes Vertrauen fasst?
Kurkow: Natürlich. Er stammt nicht aus dem Westen der Ukraine, wird aber vom Westen unterstützt. Er hat zwei Muttersprachen, Ukrainisch und Russisch, er wird vom Osten nicht als Repräsentant des ukrainischen Nationalismus betrachtet. Es war gut, dass er nach dem Flop der Orangen Revolution nicht allzu sehr in der Politik involviert war.

profil: In Teilen der Ostukraine wird die Wahl voraussichtlich nicht stattfinden können. Was bedeutet das für die Legitimität des neuen Präsidenten?
Kurkow: Nichts, denn der Rest des Landes – wir sprechen über rund 40 von insgesamt 45 Millionen Wählerinnen und Wählern – wird abstimmen können. Leute, die in Gebieten leben, die von den Terroristen besetzt sind, können zum nächstgelegenen Wahllokal gehen, wo die ukrainische Armee die Kontrolle hat.

profil: War es also die richtige Entscheidung, bereits jetzt zu wählen?
Kurkow: Es war die einzig richtige Entscheidung. Das Land benötigt dringend einen legitimen Präsidenten und in der Folge eine legitimierte Regierung. Danach können wir über Parlamentswahlen und anschließend über eine Verfassungsreform reden.

profil: Sollte die Verfassungsreform zu einer Dezentralisierung der Ukraine führen?
Kurkow: Dezentralisierung ist der wichtigste Punkt, und er sollte mit allen politischen Parteien diskutiert werden, auch im Osten. Lokalen und regionalen Regierungen sollten so viele Befugnisse gegeben werden wie möglich – aber nicht in Form einer kompletten Föderalisierung. Die würde das Land zerstören. Schon bislang haben regionale Gouverneure immer wieder versucht, ihr eigenes Süppchen zu kochen und die Entscheidungen der Zentralregierung zu sabotieren. Denken wir etwa an die Krim: Sie war politisch gar kein echter Teil der Ukraine, weil Kiew nie wirklich versucht hat, seinen Machtanspruch dort durchzusetzen. Noch Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Halbinsel von der Kommunistischen Partei und der Mafia regiert.

profil: Wie würden Sie die Leistung der Interimsregierung in den vergangenen Monaten bewerten?
Kurkow: Ich hätte nicht gedacht, dass es Premierminister Arseni Jazeniuk schaffen würde, die Lage unter Kontrolle zu halten. Ich habe alles sehr genau beobachtet und war anfangs natürlich verärgert über den Mangel an Aktivität im Osten des Landes. Aber dann habe ich verstanden, dass sich die Separatisten eine richtige militärische Operation im Osten nur herbeigewünscht hatten: Das hätte es möglich gemacht, das Eindringen von noch mehr Freiwilligen der russischen Armee zu rechtfertigen.

profil: Dennoch war die Übergangsregierung nicht in der Lage, der russischsprachigen Bevölkerung die Hand zu reichen. Warum?
Kurkow: Russischsprachige Ukrainer gibt es auch in Kiew, in Odessa, in Dnjepropetroswk – insgesamt sind es zehn bis 14 Millionen, und ich bin einer von ihnen. Die Regierung ist sehr wohl in der Lage, mit uns zu kommunizieren, und sie ist aus meiner Sicht vertrauenswürdig. Aber wenn jemand für eine Botschaft nicht empfänglich ist, wird er sie natürlich nicht hören. Das war bei vielen Menschen im Osten der Fall, die sich stattdessen an russische Politiker hielten.

profil: Im Osten geht die Übergangsregierung militärisch gegen militante Separatisten vor, anderswo lässt sie es gleichzeitig zu, dass uniformierte ukrainische Milizen mit der Polizei patrouilllieren, als wären sie offizielle Sicherheitskräfte – ist das nicht problematisch?
Kurkow: Es gab keine andere Möglichkeit. Die Milizen waren schon da, als das Janukowitsch-Regime stürzte. Ich habe sie selbst in meiner Straße beobachtet. Aber die Repräsentanten der Maidan-Bewegung waren nicht bewaffnet. Nur die Angehörigen des Rechten Sektors hatten Waffen – allerdings auch nicht so viele wie die ostukrainischen Separatisten, die mit automatischen Waffen aus Russland beliefert wurden.

profil: Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation im Osten? Herrscht dort Bürgerkrieg?
Kurkow: Es gab den Versuch, einen Bürgerkrieg zu provozieren, aber dieser Versuch ist fehlgeschlagen. Vor wenigen Tagen hat Igor Girkin, Kommandant der so genannten „Vereinten Bewaffneten Kräfte des Südostens“ und ehemaliger russischer Offizier, mitgeteilt, man habe ihm 27.000 Freiwillige für seine Armee versprochen – es seien aber weniger als tausend gekommen, um Waffen abzuholen und sich mit ihm zu verstecken. Zugleich gab er zu, dass die Waffen in die Hände von Kriminellen gelangt seien, die begonnen hätten, Autos zu rauben, Banken zu überfallen und so weiter. Die Separatisten behaupten, die Interessen der Leute in der Region zu vertreten. Weshalb werden sie dann nicht einmal von den Bergarbeitern in Donezk unterstützt? Weil sie nur eine sehr kleine Minderheit repräsentieren.

profil: Sie haben ein Buch über die Proteste am Maidan in Kiew geschrieben, das in wenigen Tagen auch auf Deutsch veröffentlicht wird. Noch immer läuft eine Untersuchung, wer für die tödlichen Schüsse und möglichen Menschenrechtsverletzungen bei den Protesten verantwortlich ist. Was ist Ihre Einschätzung?
Kurkow: Die Untersuchung kommt langsam vorwärts. Am Dienstag wurde etwa bekanntgegeben, dass sieben Verdächtige im Zusammenhang mit den tödlichen Schüssen verhaftet wurden, einige andere sind auf der Flucht. Wir wissen inzwischen auch, dass während der Kämpfe nicht weniger als 27 Generäle und hochrangige Offiziere der russischen Geheimdienste das Janukowitsch-Regime beraten und die Operation gegen den Maidan dirigiert haben.

profil: Und wer wurde verhaftet?
Kurkow: Soweit ich weiß, waren es ukrainische Staatsbürger, Mitglieder von Spezialtruppen der Polizei-Sondereinheit Berkut. Aber es gibt noch immer viele Unklarheiten. Einige der Waffen, mit denen geschossen wurde, waren offenbar zuvor der Polizei gestohlen worden. Manche haben definitiv das Bedürfnis, die Aufklärung zu verhindern.

profil: Ist das Janukowitsch-Regime ihrer Meinung nach alleine für die tödlichen Vorfälle verantwortlich?
Kurkow: Erinnern wir uns doch an den Ablauf der Ereignisse: Die ersten beiden ­Todesopfer waren Demonstranten. Sie starben durch Projektile, die nicht zur offiziellen Munition der ukrainischen Sicherheitskräfte gehören. Danach wurden weitere Angehörige der Protestbewegung umgebracht, es kam zu Entführungen, Folterungen und der Ermordung von Oppositionellen. Am Ende sind beide Seiten mit Gewalt vorgegangen, auf Seiten der Demonstranten war besonders der „Rechte Sektor“ radikalisiert. Es ist durchaus möglich, dass Angehörige dieser Gruppierung und Anhänger der Swoboda-Partei für den Tod von einigen der Polizisten verantwortlich sind.

profil: Glauben Sie, dass auch diese Täter unter der derzeitigen Regierung strafrechtlich verfolgt werden?
Kurkow: Vielleicht nicht alle auf jeder Seite, das scheint mir allerdings auch unmöglich zu sein. Aber wenn sich die Situation erst einmal stabilisiert hat, wird es sicher weitere Untersuchungen geben.

profil: Der Generalstaatsanwalt, der für die Untersuchung verantwortlich ist, gehört zur rechtsnationalistischen Swoboda-Partei. Vertrauen Sie darauf, dass er unabhängig vorgeht?
Kurkow: Er wird neutral sein. Das ist aber schwierig, solange der Konflikt im Osten der Ukraine nicht gelöst ist und die Spannungen mit Russland weiter bestehen.

profil: Sie sagen von sich selbst, durch den Konflikt zu einem Patrioten geworden zu sein. Was bedeutet das konkret?
Kurkow: Zunächst einmal nicht, dass ich ein Nationalist wäre: ich bin ja selbst ethnischer Russe. Aber die Ukraine gehört Menschen wie mir genauso wie ethnischen Ukrainern, den Krimtataren und den Juden. Wir müssen alle zusammenhalten. Und es hat mich auf den Maidan gezogen, weil ich sowohl die demokratischen Werte meiner Heimat verteidigen wollte als auch die künftige Existenz des Landes. Ich habe erkannt, wie fragil Frieden und Stabilität in der Ukraine sind, und wie leicht es in einigen Teilen des Landes ist, die Leute zu manipulieren.

profil: Wird es die Ukraine in ihrer bekannten Form nächstes Jahr noch geben?
Kurkow: Die Ukrainer sind sehr flexibel, und das Land hat schon viel schlimmere Zeiten erlebt – etwa die vorsätzlich herbeigeführten Hungersnöte unter Stalin oder die Massendeportationen von West-ukrainern vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich will nicht sagen, dass die derzeitige Situation nicht dramatisch wäre. Aber sie ist anders als die Katastrophen der Vergangenheit. Es wird leichter sein, sie zu bewältigen und danach die Brüche in der Gesellschaft zu kitten.

profil: Und das Verhältnis mit Russland?
Kurkow: Schauen Sie, der Handel mit Russland ist die ganze Zeit weitergegangen. Während die Russen Waffen in den Osten der Ukraine geliefert haben, kaufen sie auf der anderen Seite ukrainisches Fleisch, Wurst, Bier und Wodka. Gleichzeitig halten wirtschaftliche Erwägungen Deutschland und andere Staaten davon ab, die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen. Die Situation ist absonderlich. Aber die Ukraine wird überleben. Sie wird vielleicht kein westlicher Staat werden, aber mehr prowestliche Werte annehmen: Wenn die Ukrainer künftig etwa mehr auf den Rechtsstaat vertrauen können, ist das möglicherweise wertvoller für sie als das Versprechen eines Beitritts zur EU.

profil: Sie meinen, dass die Ukraine aus der Krise gestärkt herausgeht?
Kurkow: Ich hoffe es zumindest. Es gibt jetzt so viel Energie, so viele Menschen hoffen, die Zukunft des Landes mitbestimmen zu können, und sie wollen möglichst schnell geordnete Zustände herstellen, um wieder an die Arbeit gehen zu können. Mit technologischer und finanzieller Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sollte es sehr rasch möglich sein, das System zu reformieren und aus der Ukraine ein zivilisierteres und moderneres Land zu machen.