Schriftstellerin Elif Shafak: „Wir haben verlernt, über uns selbst zu lachen“
Interview: Tessa Szyszkowitz/London; Foto: Alex Schlacher
So leise, höflich und bedacht Elif Shafak auch spricht, so laut und deutlich wird jedes ihrer Worte dennoch in der Öffentlichkeit wahrgenommen: Viele von den 14 Büchern der 44-jährigen türkischen Intellektuellen sind zu Bestsellern geworden und wurden in mehrere Sprachen übersetzt (zuletzt: „Der Architekt des Sultans“, Verlag Kein&Aber). Auch in den sozialen Netzwerken wird ihrer Stimme Gewicht beigemessen: Auf Twitter hat sie etwa 1,7 Millionen Follower. Shafak lebt in Istanbul und London, wo sie profil in einem Kaffeehaus im Stadtteil Marylebone zum Gespräch traf.
profil: Der jüngste Skandal um deutsche Satirebeiträge und Schmähgedichte auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wirft wieder einmal die Frage auf: Muss Satire Grenzen kennen? Und wenn ja, wo sollten sie gezogen werden? Elif Shafak: Humor ist wichtig für die Demokratie. Leider haben wir in der Türkei verlernt, über uns selbst zu lachen. Der Verlust des Humors ist eines der wichtigsten Anzeichen für ansteigenden Autoritarismus. Seit Erdogan Präsident wurde, wurden mehr als 1800 Menschen für „Beleidigung des Präsidenten“ angeklagt. Darunter sind auch Hochschüler, die auf Facebook gepostet haben. Das halte ich für ganz ganz falsch.
profil: Aber darf man alles sagen, was man will, solange es als Satire bezeichnet wird? Shafak: Hassreden gegen Minoritäten und Einzelpersonen gehen nicht. Demokratische Gesellschaften müssen sich und die Minderheiten davor schützen. Vor allem, wenn dabei zur Gewalt aufgerufen wird. Bei humorvoller Kritik am Staat aber handelt es sich um etwas anderes. Regierende Politiker, die Machtelite, die religiösen Autoritäten – die haben doch sowieso zu viel Macht. Die türkische Führung sollte sich daran erinnern, dass Humor ein Geschenk ist. Ohne Humor können die Menschen nicht atmen.
Die Türkei wird immer autoritärer, konservativer und illiberaler.
profil: Die türkische Regierung schickt syrische Flüchtlinge zurück ins Kriegsgebiet. Hätte Angela Merkel lieber keinen Deal mit Präsident Erdogan machen sollen? Shafak: Dieses Abkommen ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Menschenrechtler haben es offen kritisiert. Die aktuelle massive humanitäre Krise kann nur durch internationale Kooperation gelöst werden. Es gibt in der Türkei zur Zeit drei Millionen Flüchtlinge. Sie sind überall – in den Städten, den Dörfern am Land. Es ist nicht nur für die Flüchtlinge schlecht, auf der Straße und in den Parks zu leben. Die Lage führt zu sozialen und kulturellen Spannungen. Es gibt vermehrt Kinderbräute. Türkische Männer heiraten syrische Frauen als Zweit- oder Drittfrauen. Obwohl Vielweiberei bei uns verboten ist! Niemand spricht über diese Themen. Türkische Demokraten machen sich große Sorgen.
profil: In Westeuropa ist die Stimmung gegen die Flüchtlinge schon am Kippen. Shafak: Währenddessen machen die Golfstaaten mit ihrem verrückten Reichtum erst mal gar nichts. Wie kann das sein? Das sind doch muslimische Länder! Wir alle zusammen müssen uns hier wie Weltbürger benehmen und zusammenarbeiten.
profil: Hätte die EU gar nicht erst mit der Türkei über eine EU-Mitgliedschaft sprechen sollen? Shafak: Wir stehen vor einem riesigen Dilemma. Die Mitgliedschaft der Türkei in der EU ist im Moment keine Option. Das heißt aber nicht, dass wir sie nicht betreiben sollten. Die Türkei wird immer autoritärer, konservativer und illiberaler. Zu einem gewissen Zeitpunkt 2005/2006 schien es plötzlich möglich, dass die Türkei der EU beitreten könnte. Dann scheiterte die Sache aus zwei Gründen. Die türkische Regierung erfüllte die Kriterien nicht. Wir hätten das so gebraucht! Nicht nur für den Beitritt, sondern für uns. Ich gebe die Schuld auch den populistischen Politikern in Europa. Die haben kurzsichtig gehandelt. Sie haben die Angst vor der Türkei als politische Karte ins Spiel gebracht.
Ich hoffe auf muslimische Feministinnen.
profil: Soll Europa jetzt allen Türken erlauben, ohne Visum in der EU einzureisen? Shafak: Dieses EU-Türkei-Abkommen ist nicht realistisch. Ich bin sehr traurig. Denn nicht Demokratie, sondern Stabilität und Sicherheit sind jetzt die Priorität. Wir aber sollten die Flüchtlingskrise lösen, ohne Demokratie und Menschenrechte aufs Spiel zu setzen. Alles andere ist ein Fehler. Das wissen wir aus dem Nahen Osten. Seit 9/11 glauben die Leute im Westen, wenn sie in einer Welt leben, die auf isolierten, homogenen Gesellschaften beruht, dann werden sie sicher sein. Aber das stimmt nicht. Unsere Welt ist globalisiert. Wenn jemand in Pakistan unglücklich ist, dann werden das die Menschen in Kanada zu spüren bekommen.
profil: Sie haben 1,7 Millionen Twitter-Follower, ihr Einfluss als Vorbild ist enorm, auch für Frauen. Wie wichtig ist das Kopftuch in der Debatte um Selbstbestimmung? Shafak: Ich war gegen das Verbot des Kopftuchs. Ich unterrichte schon seit vielen Jahren an Universitäten. Ich habe 19-jährige Studentinnen gesehen, die am Eingang der Uni aufgehalten wurden, weil sie ein Kopftuch trugen. In einem Land, in dem Frauen es ohnehin schon schwer haben, überhaupt in die Schule gehen zu dürfen, war das kontraproduktiv. Die Türkei ist immer noch ein Land, in dem viele Familien es sich nicht vorstellen können, dass ihre Töchter das Kopftuch ablegen. Diese Mädchen auf der Uni zu haben, ihnen höhere Bildung zu ermöglichen, schien mir um vieles wichtiger, als dass sie das Kopftuch abnahmen. Wenn man Dinge von oben herab verbietet, klappt das nie so richtig.
profil: Sie selber würden aber doch auch kein Kopftuch tragen, ist das nicht Unterwerfung? Shafak: Ich persönlich will natürlich nicht, dass Frauen Kopftuch tragen müssen. Ich bin da sehr europäisch geprägt. Ich hoffe auf muslimische Feministinnen. Wir brauchen Frauen im Islam, die das Recht einfordern zu arbeiten, zu den Wahlen zu gehen und politische Positionen einzunehmen. Ob sie Kopftuch tragen oder nicht, ist dabei nicht ausschlaggebend.
profil: Hat Präsident Erdogan Ihre Bücher gelesen? Shafak: Ich würde es mir wünschen. Ich bin nicht sicher, ob er Romane liest.
Schreiben und lesen ist das Gegenteil von Faschismus. Totalitarismus ist eine kollektivistische Krankheit.
profil: Warum wäre das wichtig? Shafak: Der Roman als Genre basiert auf Individualismus. Wenn ich ein Buch schreibe, bin ich sehr einsam. Der Leser ist auch allein. Schreiben und lesen ist das Gegenteil von Faschismus. Totalitarismus ist eine kollektivistische Krankheit. Damit Fanatismus funktioniert, braucht es die Masse. Es gibt keine Individualität im Faschismus.
profil: Als Erdogan antrat, war er eine Hoffnungsfigur. Er sollte die traditionellen Kräfte mit den pro-europäischen einen. Er repräsentierte das Experiment des demokratischen Islam. Es ging schief. Warum? Shafak: Die konservative AKP ist jetzt seit 14 Jahren an der Macht. Am Anfang stand sie für proeuropäische Reformen. Viele Liberale unterstützten sie, und heute sagt man uns: „Ihr habt sie verkannt! Die hatten immer schon eine islamistische Agenda.“ Ich stimme dem nicht zu. Ich glaube, dass Macht korrumpiert.
profil: Seit der Silvesternacht in Köln herrscht in Europa Unbehagen, ob man sich mit den Flüchtlingen aus Nahost eine große Zahl von Vergewaltigern und Grapschern eingehandelt hat. War Köln ein Einzelfall oder stehen wir vor einem generellen Problem? Shafak: Sexuelle Belästigung ist im Nahen Osten weit verbreitet. Ich habe das so viele Male erlebt, während ich in der Türkei aufwuchs. Man nimmt dort als Frau keinen Bus, ohne sich eine Sicherheitsnadel einzustecken. Es kommt unter Garantie einer, der versucht, dich anzufassen. Mit der Nadel kann man ihn von sich abhalten. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man über so etwas nachdenken muss, bevor man in einen Bus steigt?
profil: Wie soll Europa damit umgehen? Shafak: Ich würde sagen: Holt vermehrt Mädchen und Frauen als Flüchtlinge nach Europa. Investiert in die Frauen. Das nützt Europa und schützt gleichzeitig die Frauen vor dem Leben in Flüchtlingslagern.