Kein Jux: TV-Komiker Wolodymyr Selenskyj Präsident der Ukraine
(Anmerkung. Dieser Artikel ist erschienen in profil 19/16 vom 14.April 2019)
Am Abend seines bislang größten Erfolges wurde ihm der Rummel zu viel: ausgerechnet ihm, dem beliebten Schauspieler, der das Rampenlicht doch so sehr liebt. Als auf den TV-Bildschirmen die Balken mit den Ergebnissen in die Höhe schnellten und klar wurde, dass Wolodymyr Selenskyj eine Sensation geglückt war, trat er auf die Bühne des Veranstaltungssaals, den er für die Wahlparty gemietet hatte. Er küsste seine Frau, bedankte sich kurz, formte schüchtern das Victory-Zeichen und machte einen Witz. Doch so schnell, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder. Zurück blieben ratlose Journalisten.
Es war der Abend des 31. März, und der Fernsehkomiker Wolodymyr Selenskyj hatte soeben den ersten Durchgang der ukrainischen Präsidentschaftswahlen für sich entschieden – mit 30 Prozent sogar deutlicher als erwartet. Damit war klar, dass es eine Stichwahl gegen den amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko geben würde, der weit abgeschlagen auf Platz zwei lag – mit 16 Prozent und halb so vielen Stimmen.
Jetzt sind sich viele Beobachter einig, dass Selenskyj der Sieg bei der Stichwahl am 21. April kaum zu nehmen sein wird. (Anmerkung: Selenskyj hat die Wahl mit 73 Prozent gewonnen) Doch wer ist der Mann, und was will er?
Alles hatte Selenskyj in diesem Wahlkampf anders gemacht als seine Konkurrenten: Er schüttelte keine Hände auf Wahlveranstaltungen, sondern drehte die letzten Folgen einer Fernsehserie; er führte keine TV-Debatten, sondern nahm auf Kabarettbühnen seine politischen Gegner aufs Korn; er gab keine Pressekonferenzen, sondern spielte mit Journalisten Tischtennis.
Doch der etwas unbeholfene und scheue Auftritt des kleinen, drahtigen Schauspielers am Wahlabend zeigte, was er wohl nicht sein wird, wenn er am Sonntag tatsächlich zum nächsten Präsidenten der Ukraine gewählt wird: ein polternder Populist wie US-Präsident Donald Trump oder Beppe Grillo, ebenfalls Komiker und Gründer der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung. Mit beiden wurde Selenskyj von Kritikern bereits verglichen.
Vielleicht war sein bescheidenes Auftreten aber auch nur eine Rolle, ähnlich der Kunstfigur des tollpatschigen, aber gutherzigen Fernsehpräsidenten Wassyl Holoborodko, den Selenskyj in der bekannten Fernsehserie „Sluga Naroda“ (Diener ds Volkes) spielt.
Durchbruch mit „Diener des Volkes“
Wolodymyr Selenskyj, 1978 in der südukrainischen Industriestadt Krywyj Rih in eine russischsprachige jüdische Familie geboren, ist seit Jahren eine fixe Größe im ukrainischen Showgeschäft. In den 1990er-Jahren gründete er mit Freunden die Kabarettgruppe Kwartal-95, mit der er bis heute durch das Land tourt. 2015 schaffte er als Hauptdarsteller und Ko-Autor der Serie „Diener des Volkes“ den großen Durchbruch: Die Polit-Satire über den Geschichtslehrer Holoborodko, der nach einer Wutrede auf die ukrainischen Verhältnisse zum Internetstar und quasi über Nacht zum Präsidenten gewählt wird, avancierte zum Renner – vor allem, weil der Held darin korrupte Politiker, die ihn zu ihrer Marionette machen wollen, zum Gaudium eines Millionenpublikums überführt und feuert. Auf YouTube wurde die erste Staffel 6,3 Millionen Mal geklickt und inzwischen von Netflix gekauft.
Die Fernsehrolle ist Selenskyjs größter Erfolg – bisher. Immer wieder wurden über die politischen Ambitionen des „Dieners des Volkes“ spekuliert, bis er seine Kandidatur am vergangenen Silvesterabend tatsächlich verkündete. Im Wahlkampf ist Selenskyj allerdings nur mit den traditionellen Gemeinplätzen der ukrainischen Politik aufgefallen: Annäherung an EU und Nato, Beendigung des Krieges in der Ostukraine, Kampf gegen Korruption und die Oligarchen und Hebung des Lebensstandards.
Dass Selenskyj politisch so vage bleibe und damit eine Projektionsfläche für die Hoffnungen vieler Ukrainer darstelle, sei gewiss Teil seines Erfolgs, analysiert das Warschauer Centre for Eastern Studies: „Er muss nichts versprechen, da er ohnehin mit dem Helden seiner TV-Serie gleichgesetzt wird.“ Zwar ist Selenskyj nicht der erste Film- oder Fernsehstar, der in die Politik geht – man denke etwa an Ronald Reagan, Arnold Schwarzenegger oder Donald Trump –, „aber noch nie war es so schwer, den Menschen von der Maske, die Figur vom Kandidaten und den Wähler vom Fernsehzuseher zu trennen“, schreibt die britische Internet-Zeitung „The Independent“. Bei ihm sei „nie klar, wo die Figur Holoborodko endet und der Kandidat Selenskyj beginnt“.
Dass Selenskyj auf die Konventionen des Wahlkampfs pfeift, scheint viele Ukrainer nicht zu stören – im Gegenteil: Ihnen reicht es, dass er so anders ist als die politische Elite, die das Land seit dessen Unabhängigkeit 1991 führt. Doch auf das „neue Leben“, das Präsident Poroschenko nach den Maidan-Protesten vor fünf Jahren versprochen hatte, warten viele Ukrainer immer noch vergebens. Zwar hat Poroschenko die Armee modernisiert, konnte als „patriotischer Oberbefehlshaber“ im Krim-Konflikt mit Russland punkten und hat sich zuletzt für die Gründung einer unabhängigen ukrainisch-orthodoxen Kirche eingesetzt, doch das ist den Ukrainern nicht genug.
Der Erfolg Selenskyjs ist die Rechnung, die Poroschenko für seinen zögerlichen Kampf gegen die Korruption kassiert. Gut möglich, dass der Amtsinhaber die Dynamik des Wahlkampfs unterschätzt und Selenskyj schlichtweg zu lange nicht ernst genommen hat.
Das Märchen vom ehrlichen „Diener des Volkes“, das Selenskyj in seiner Fernsehserie erzählt, ist indes wohl zu schön, um wahr zu sein. Sie läuft auf dem Sender 1+1 des Oligarchen Ihor Kolomojskyj. Der Multimillionär, mit Anteilen aus dem Energie-, Banken- und Flugsektor reich geworden, lebte bis 2014 in der Schweiz und wurde nach dem Maidan zum Gouverneur seiner Heimatregion Dnipropetrowsk ernannt. Später überwarf er sich mit Poroschenko und lebt heute in Israel. Selenskyj könnte sein Hebel sein, um sich wieder ins Spiel zu bringen.
Zuletzt sind aber auch immer mehr angesehene Reformer auf den Selenskyj-Zug aufgesprungen, wie etwa der ehemalige Finanzminister Oleksandr Danyljuk, ausgerechnet jener Mann, der 2016 Kolomojskyjs Privatbank verstaatlichte. Ein Beweis, wie integer das Team des Komikers ist – oder doch nur ein brillantes Alibi?
„Clown-Challenge“ und Drogentest
Es ist gerade dieses Spiel mit den doppelten Böden, das so typisch ist für die ukrainische Politik – mit oder ohne Fernsehpräsident. Sollten die Ukrainer den Komiker zum Präsidenten wählen, wird wohl die zentrale Frage sein, welche Gruppe am Ende den größten Einfluss auf den politisch völlig unerfahrenen Selenskyj haben wird: seine Freunde der Kabarett-Truppe Kwartal-95, die noch immer zu seinen engsten Vertrauten zählen?
Die Reformer rund um den ehemaligen Finanzminister Danyljuk, die in ihm die letzte Hoffnung auf Veränderung sehen? Oder doch die gewieften Juristen aus dem Dunstkreis der Oligarchen, wie Kolomojskyjs ehemaliger Anwalt Andrij Bohdan, der am Wahlabend mit Selenskyi den Sieg feierte?
Das ist genau die Kerbe, in die seine Gegner schlagen. Poroschenko wird nicht müde, den Komiker als eine „Marionette Kolomojskyjs“ zu schmähen. Das allein wird wohl nicht reichen, um ihn noch bis zur Stichwahl abzufangen. Es ist kein Geheimnis, dass Poroschenko – selbst ein Oligarch – vom Präsidentenamt wirtschaftlich durchaus profitiert hat.
Zudem ist es Selenskyj immer wieder gelungen, die Spielregeln in diesem bizarren Wahlkampf zu bestimmen. Den Vorwurf, nur ein „Clown“ zu sein, konterte er mit einer „Clown-Challenge“ in den sozialen Medien: „Wir sind Clowns, aber wir sind 40 Millionen. Erzähle deine Geschichte.“ Besonders surreal wurde der Wahlkampf, als Poroschenko den Komiker in einem Video zum Fernsehduell aufforderte („Sei ein Mann!“) und Selenskyj wiederum seine Bedingung stellte – nur, wenn sich beide einem Drogentest unterzögen, da „das Land einen gesunden Präsidenten braucht“. Poroschenko stieg darauf ein, ließ sich beim Blut- und Harntest filmen – und sah dabei selbst nicht besonders präsidiabel aus.
Auch wenn den Ukrainern bewusst ist, dass ein Präsident Selenskyj keine Garantie dafür wäre, dass alles anders wird im Land: Vielen reicht es schon, dass die arrivierten Politiker ihre Auftritte als „Diener des Volkes“ bereits hatten – und sie verpatzten.