Der Hersteller der LRADs, die US-Firma Genaysis, bestätigte nach Analyse des Tonmaterials, dass ihre Geräte darauf nicht zu erkennen seien – und verwies auf eine Expertise der NGO „Earshot“, die auf die Untersuchung des Einsatzes von Schallwaffen gegen Menschenmengen spezialisiert ist. Sie gelangte zur Schlussfolgerung, dass eine sogenannte Luftwirbelkanone (vortex ring gun) die Panik ausgelöst haben könnte. Dieses Gerät erzeugt eine starke Druckwelle, die sich über Hunderte Meter ausbreitet.
Schwindel, Brechreiz, Paranoia
Das Vučić-Regime bestreitet beharrlich, eine traumatisch wirkende Schockwaffe gegen friedliche Demonstranten eingesetzt zu haben. Doch der Verdacht erhärtet sich durch Zeugenaussagen und Expertenmeinungen.
Einer der Zeugen ist Miha Turk. Der Redakteur der slowenischen Tageszeitung „Dnevnik“ war auf einen Müllbehälter am Rand der König-Milan-Straße geklettert, um die Demonstration zu beobachten. Zu seiner linken das Präsidentenpalais, im Pionier-Park dahinter lagerten seit Tagen, umringt von Traktoren und Bereitschaftspolizisten, Gegendemonstranten, unter ihnen ein paar Studenten, die angesichts der Uni-Besetzungen „wieder studieren wollen“. „Ich rechnete fest mit einer Provokation, und zwar an dieser Stelle“, erzählt Turk acht Tage später in einem Ćevapčići-Lokal in Ljubljana.
Er sollte recht behalten.
„Ich hörte keinen Ton, sondern spürte einen kalten Luftzug, eine kurze Trübung des Bewusstseins. Ich sah die Menschen laufen, sprang vom Müllbehälter, lief ein Stück, spürte ein Kribbeln im linken Bein und musste mich an einem Denkmalsockel festhalten.“ Er erlebte einen Moment des Kontrollverlusts, handelte instinktiv, „wie ein Tier in Todesgefahr“.
Turk fing sich rasch und ging in sein Quartier. Erst am nächsten Tag, als er über den möglichen Einsatz von Schallwaffen las, überkamen ihn Symptome einer posttraumatischen Störung: Schwindel, Brechreiz, Schlaf- und Appetitlosigkeit, das Gefühl, losgelöst zu sein von allem, was ihn umgab. „Ich hatte plötzlich eine Paranoia vor Hunden, das hatte ich nie in meinem Leben.“ Turk übermannte das Gefühl, dass „die serbische Regierung in meinen Kopf gekrochen ist“. Die ausführliche Niederschrift seiner Erfahrungen erscheint am Samstag unter dem Titel „Psycho-Reportage“ in der Wochenendbeilage des „Dnevnik“.
Bei Ćevapčići und Bier macht Turk am vergangenen Sonntag einen gefassten Eindruck. In Ljubljana suchte er die Psychiaterin Breda Jelen Sobočan auf. „Sie ließ mich meine Symptome beschreiben, den Hergang dessen, was ich erlebt hatte. Sie sagte: „Sie haben eine Gehirnerschütterung.“ Und dann beschrieb sie es mir so: Das Etwas aus dem unbekannten Gerät drang direkt in meinen Kopf ein. Für vielleicht nur eine Sekunde trennte es den Thalamus von der Großhirnrinde.“
Infraschallwellen – Töne aus dem tiefen Spektrum, die für den Menschen nicht hörbar sind – können derlei bewirken. „In unserem Gehirn filtert und verarbeitet der Thalamus Reize – auch solche, die Angst und Panik auslösen – bevor sie in unser Bewusstsein gelangen“, sagt Turk. „Diese kurzzeitige Unterbrechung der Relais-Funktion habe mir und den anderen Betroffenen ein paar Sekunden lang ungefilterte Ängste in den wachen Bewusstseinszustand geschwemmt. Die Folgen: Panik, Schock, Verwirrung, zum Teil auch anhaltende Apathie.“
Regierung dankt Moskau
In Serbien haben inzwischen fast 600.000 Menschen – rund zehn Prozent der Bevölkerung – eine Petition unterschrieben, die eine internationale Untersuchung des möglichen Einsatzes einer Schallwaffe verlangt. Adressaten sind die Vereinten Nationen und der Europarat.
Indirekte Indizien verweisen auf die Urheberschaft der Regierung. Auf Videos ist zu sehen, wie Männer in Zivil, die aussehen wie die üblicherweise in Demonstrationen eingeschleusten Geheimdienstler, die Demonstration eine Minute vor der mutmaßlichen Schallattacke schnellen Schrittes verlassen. Der stellvertretende Ministerpräsident Aleksander Vulin reiste vergangene Woche nach Moskau, um sich für die „Unterstützung“ bei der Abwendung einer angeblichen Revolution zu bedanken. Im Boulevard-Kanal „Informer TV“, einem der Sprachrohre der Vučić-Leute, johlte das Studio bei der Liveübertragung, als die Menschen davonrannten.
Miha Turk spricht von einer „neurologischen Waffe“, die auf die Demonstranten zielte. „Möglicherweise wurden wir alle zu Versuchskaninchen eines Experiments.“ Was ihm noch mehr Angst mache: Komme die serbische Regierung damit durch, könnte sie die Wirkung der mysteriösen Maschine das nächste Mal noch steigern. Die Folgen wären nicht absehbar.