NATO

Sicherheitsexpertin: „Wir haben uns selbst entwaffnet“

Die Verteidigungsexpertin Ulrike Franke über eine Rückkehr Donald Trumps, Russlands Erfolge in der Ukraine und die Frage, ob die EU ein eigenes Heer braucht.

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Unlängst witzelte Donald Trump, er werde Putin „ermutigen“, jeden NATO-Staat anzugreifen, der seinen finanziellen Verpflichtungen dem Militärbündnis gegenüber nicht nachkommt. Nehmen Sie das ernst?
Franke
Ja, es ist wahnsinnig gefährlich, was Donald Trump da macht. Das war eine direkte Einladung an Russland, näherzukommen. Es schwächt die NATO, weil ihre Beistandsklausel auf Vertrauen basiert. Konkret auf dem Vertrauen, dass sich Mitglieder aufeinander verlassen können, aber auch auf der Abschreckung, dass im Falle eines Angriffs alle reagieren. Wenn der mögliche zukünftige Präsident der USA sich auf Bühne stellt und mit solchen Aussagen Jubel von seinen Anhängern kassiert, ist das ein Problem für die NATO. Aber auch ohne Trump müssen wir uns auf eine neue Situation einstellen. Es wird in den nächsten Jahren keinen so pro-europäischen Präsidenten wie Joe Biden mehr geben. Die Amerikaner wollen sich stärker im Indopazifik engagieren. Wenn es dort zu einem Konflikt kommt, werden die USA ihre Ressourcen aus Europa abziehen. Sie werden von ihren Verbündeten erwarten, die NATO-Ostflanke zu sichern und damit ihre eigene Sicherheit. Es ist nicht mehr zu rechtfertigen, warum 350 Millionen Amerikaner in so einem Ausmaß für die Sicherheit von 500 Millionen Europäern verantwortlich sind. Wir müssen uns darauf vorbereiten, mehr für unsere eigene Verteidigung zu tun.
Sie kommen gerade von der Münchner Sicherheitskonferenz. Wie war die Stimmung?
Franke
Im Vergleich zum letzten Jahr: Gedrückt. Es war eine geradezu pessimistische Konferenz. Auch vergangenes Jahr gab es wenig Grund zum Jubeln. Aber man hatte den Eindruck, dass Europa zusammensteht und die Ukraine bei der Sommeroffensive vorankommt. 
Dieses Jahr haben zwei Ereignisse die Konferenz überschattet. Russland verzeichnet Geländegewinne im Donbass. Und Nawalny, der wichtigste Oppositionelle des Landes, ist tot.
Franke
Die Ukraine steckt im Krieg fest. Awdijiwka, eine strategisch wichtige Industriestadt im Donbass, ist vor wenigen Tagen an die Russen gefallen. Auch die Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz ausrief, war kein großer Wurf. Seit Ende Dezember wurde wegen innenpolitischer Querelen kein Kriegsgerät mehr aus den USA in die Ukraine geliefert. Die transatlantische Allianz steht nicht geeint da. Das hat auch mit dem Krieg in Gaza zu tun.
Inwiefern ?
Franke
Nach dem Krieg in der Ukraine hat der Westen realisiert: Der globale Süden steht nicht geeint hinter uns, zumindest nicht so, wie wir uns das erhofft hatten. Das Ziel war, die Kommunikation mit dem globalen Süden zu verbessern, den Ländern auf Augenhöhe zu begegnen. Das hat, vereinfacht gesagt, nicht funktioniert. Der Krieg in Gaza hat das alles noch viel komplizierter gemacht. Es hat sich das Narrativ durchgesetzt, dass der Westen mit einer Doppelmoral vorgeht, wenn es um Konflikte auf der Welt geht.

Ulrike Franke

Ulrike Franke ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin. Die Sicherheits- und Verteidigungsexpertin forscht am „European Council on Foreign Relations“ (ECFR) in Paris. Franke hat an der Universität Oxford den Einsatz von Drohnen in westlichen Armeen erforscht und ist Co-Host des Podcasts „Sicherheitshalber“. 

Es gibt einfach gerade so viele Krisen auf der Welt.
Franke
Viele wollen wieder in das alte Normal zurück. Sie fragen sich: Wann ist der Krieg in der Ukraine endlich zu Ende? Können wir mit Russland nicht umzugehen lernen? Die Menschen ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück, was ich emotional total nachvollziehen kann. Aber es hilft nichts. Wir leben in einer neuen Welt.
Inwiefern hat Russlands Angriff auf die Ukraine die Welt verändert?
Franke
Seit dem 24. Februar 2022 wird in Europa anders über Sicherheits- und Verteidigungspolitik gesprochen. Lange Zeit war es so, dass diese Themen dezidiert negativ gesehen wurden. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal in Berlin in einer Bar saß und erzählte, dass ich wegen einer Sicherheitskonferenz angereist war. Und die Reaktion war: Wie können Sie zu dem Thema arbeiten? Ich bekam E-Mails, in denen mir vorgeworfen wurde, den Dritten Weltkrieg zu fordern. Mittlerweile liefern wir Waffen in die Ukraine, und auf EU-Ebene werden die Produktionskapazitäten für Munition ausgebaut. Vor einigen Jahren hätte ich mir noch gedacht: Was ist denn da passiert? Die Antwort ist: Russland.
Malen Sie sich manchmal das Horrorszenario aus? Was, wenn Russland Kiew erobert und die Regierung austauscht?
Franke
Worst-Case-Szenarien durchzuspielen, gehört zu meinem Job. Wenn Russland gewinnt, dann entsteht ein Präzedenzfall. Das Signal wäre: Ein Land kann sich mit Militärgewalt durchsetzen und Grenzen verschieben, wenn es nur stark genug ist. Wenn Putin gewinnt, dann befinden wir uns in einer neuen Ära oder anders gesehen in einer sehr alten, in der wieder das Recht des Stärkeren gilt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz gab es Stimmen, die warnten: Wenn heute die Ukraine fällt, dann fällt morgen das Baltikum oder Polen.
Polen ist aber, anders als die Ukraine, in der NATO. Bei einem Überfall gilt Artikel 5, also der Bündnisfall. Ein Angriff gegen einen ist ein Angriff gegen alle.
Franke
Das stimmt, aber gleichzeitig stellt Donald Trump den Bündnisfall offen infrage. Das macht ihn noch viel gefährlicher als 2016.
Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.