Eklat bei der Fecht-WM: Olha Charlan (li.) aus der Ukraine verweigert der Russin Anna Smirnowa den Handschlag.
Ausland

Sollen Athleten aus Russland 2024 an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen?

Die falsche Antwort auf diese Frage könnte einen fatalen Boykott auslösen. Eine Chronologie des Hürdenlaufs auf der Suche nach einer richtigen.

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Wenn in einem Jahr die Olympischen Spiele in Paris stattfinden, wird vieles kaum vorstellbar sein: etwa, dass ein Athlet den olympischen Rekord im Weitsprung übertrifft – er stammt aus dem Jahr 1968, Bob Beamon (USA) sprang damals 8,90 Meter. Oder dass eine Frau im Kugelstoßen die 22,41 Meter von Ilona Slupianek (DDR) schafft – ihre olympische Bestmarke hält seit 1980. Aber möglich ist es. Irgendwann wird jeder Rekord gebrochen. Das ist das Faszinierende am Sport.

Und doch gibt es eine Hürde, an der auch der Sport scheitert, und die Olympischen Spiele in Paris könnten dies besonders deutlich machen: der Krieg. Präzise: die Frage, wie Wettkämpfe, an denen eigentlich die ganze Welt teilnehmen soll, organisiert werden können, nachdem Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfallen hat.

Die erste Antwort nach Kriegsbeginn war fast einhellig: Alle russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten wurden vom internationalen Sport ausgeschlossen. Der Gedanke, dass Sportler aus Russland in welcher Disziplin auch immer Wettkämpfe bestreiten, Siege feiern oder gar auf Gegner aus der Ukraine treffen könnten, war den internationalen Verbänden unerträglich.

Doch es gab bereits damals, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, auch einen Gegenstandpunkt. Die Organisationen der internationalen Herren- und Damen-Tennisturnierserien ATP und WTA verurteilten den russischen Angriffskrieg, aber sie entschieden, Spieler mit russischer Staatsbürgerschaft „unter neutraler Flagge“, also ohne Angabe ihrer Nationalität, weiter an den Wettbewerben teilnehmen zu lassen. Als das Grand-Slam-Turnier Wimbledon dagegen 2022 beschloss, keine Russen antreten zu lassen, geißelte die ATP dies als „Diskriminierung aufgrund der Nationalität“. Heuer waren die Russen als „Neutrale“ wieder dabei, Daniil Medwedew etwa scheiterte erst im Halbfinale.

Tennis blieb jedoch eine Ausnahme. Von den meisten Sportarten – Leichtathletik, Schwimmen, Turnen, Boxen, Fechten, Judo, Fußball und einige mehr – wurden Russen damals ausgeschlossen. Dabei handelt es sich durchwegs um Disziplinen, die olympisch sind, und die Spiele von Paris kamen immer näher. Der spontane Entschluss, Russland und seine Staatsangehörigen zu treffen, wo immer es nur geht, wich langsam, da und dort, einem aufkeimenden Unwohlsein. Weshalb durften Sportler, die sich gegen den Krieg Russlands aussprachen, nicht mehr an Wettbewerben teilnehmen – bloß, weil sie einen russischen Pass hatten?

Das IOC wird aufgefordert, „die Nicht-Diskriminierung von Athleten auf Basis deren Nationalität sicherzustellen“.
Aus einem Experten-Bericht der Vereinten Nationen

Damit geriet das Internationale Olympische Komitee (IOC) ins Zentrum der Debatte. Es hatte im Februar 2022 Sanktionen gegen russische Sportler beschlossen, aber ein Jahr später sah es sich mit einem Bericht von Experten der Vereinten Nationen (UN) konfrontiert, in dem das IOC aufgefordert wurde, „die Nicht-Diskriminierung von Athleten auf Basis deren Nationalität sicherzustellen“. Die Grundlage dieser Rechtsmeinung waren die Olympische Charta und die allgemeinen Menschenrechte.

Dagegen lässt sich rational nur schwer argumentieren, allerdings bedeutet jegliches Aufweichen der ursprünglich verhängten Sanktionen, dass Russland und Belarus triumphieren und die Ukraine sich gedemütigt fühlt.

Boykottdrohung

Die politischen Positionen wurden bezogen. 35 Staaten, darunter Österreich, stellten sich demonstrativ an die Seite der Ukraine und zeigten sich skeptisch gegenüber den Versuchen des IOC, Russen und Belarussen die Teilnahme an internationalen Sportveranstaltungen zu ermöglichen. Das IOC arbeitete Empfehlungen aus, nach welchen Kriterien dies erlaubt sein solle. Die Ukraine drohte mit Boykott, das IOC schärfte nach: Für Russen gelte, sie müssten als neutrale Teilnehmer starten, ohne Herkunftsbezeichnung, ohne Flagge, ohne Hymne; ausschließlich Einzelsportler, keine Teams; die Sportler dürfen keine Armeeangehörigen sein und sie dürfen den Krieg Russlands nicht aktiv unterstützen. Für die Olympischen Spiele in Paris gilt diese Empfehlung jedoch – noch – nicht.

Die 35 Regierungen blieben bei ihrer prinzipiellen Skepsis, ob Russen als „Neutrale“ an den Start gehen können, während sie vom russischen Staat „unterstützt und finanziert“ werden. Doch langsam klangen die Erklärungen weniger ablehnend.

Anfang Mai fragte Österreichs Sportminister und Vizekanzler Werner Kogler in einem Interview mit dem „Standard“: „Ist es ukrainischen Sportlern zumutbar, auf russische zu treffen?“

Genau das geschieht mittlerweile. Bei der Fecht-WM in Mailand im Juli durften Russinnen und Russen als Neutrale teilnehmen. Prompt kam es in der ersten Runde zum folgenschweren Aufeinandertreffen der Ukrainerin Olha Charlan und der Russin Anna Smirnowa. Charlan siegte klar, doch nach dem Gefecht verweigerte sie der Russin den im Reglement vorgeschriebenen Handschlag. Sie wurde disqualifiziert. Das IOC schaltete sich ein und gab Charlan eine Startplatzgarantie für Paris 2024. Der Fechtverband änderte die Regel und ersetzte den Handschlag durch einen Säbelgruß. Charlan wird in Paris dabei sein dürfen – es sei denn, die Ukraine macht ihre Boykottdrohung wahr.

Ein Boykott der Ukraine bleibt der Alptraum des IOC – und auch des Österreichischen Olympischen Komitees, dessen Präsident Karl Stoss ein demonstratives Fernbleiben für „kein adäquates Mittel zur Konfliktlösung“ hält. Die Ukraine würde in der öffentlichen Wahrnehmung von der internationalen Gemeinschaft fallen gelassen werden.

Der Gedanke an einen Olympia-Boykott ruft Erinnerungen an die Spiele von 1980 in Moskau – damals Hauptstadt der Sowjetunion – wach. Sowjetische Truppen waren 1979 in Afghanistan einmarschiert, und die USA verlangten, dass Moskau als Austragungsort ausgetauscht werden solle. Das IOC lehnte ab, woraufhin die USA beschlossen, zu Hause zu bleiben. Das deutsche Olympische Komitee traf dieselbe Entscheidung, Großbritannien, Kanada und weitere 40 Staaten, mehrheitlich des Globalen Südens, folgten. Österreich hingegen nahm an den Spielen teil, die Athletinnen und Athleten trugen bei der Eröffnungsveranstaltung sogar ihre rot-weiß-rote Kleidung und marschierten hinter der österreichischen Flagge her, anstatt aus Protest auf die nationalen Symbole zu verzichten.

Vier Jahre später organisierte die Sowjetunion einen Gegenboykott der Olympischen Spiele in Los Angeles. 18 weitere, fast ausschließlich kommunistisch regierte Staaten machten mit.

„Wir wollen das IOC davon überzeugen, die eigenen Empfehlungen ernst zu nehmen und streng auszulegen.“

Werner Kogler, Sportminister

„Doppelmoral“

Seither sind weitere große Boykotte ausgeblieben, und das IOC verhält sich so diplomatisch wie möglich, um einen Boykott in Paris zu verhindern. Man könnte auch sagen: prinzipienlos. Anfang Juli dieses Jahres unterzeichneten 120 sogenannte „blockfreie“ Staaten eine Erklärung, in der sie die Teilnahme der Athleten „aller 206 Nationalen Olympischen Komitees“ forderten. Unter den 206 sind auch Russland und Belarus. Dennoch hieß das IOC diese kaum verhohlen prorussische Erklärung der Blockfreien „willkommen“.

Zudem kritisierte das IOC, dass europäische Regierungen nicht auf den von manchen Staaten vorgebrachten Vorwurf der „Doppelmoral“ eingingen. Es gebe derzeit nicht nur den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, sondern „70 andere aktuelle Kriege, bewaffnete Konflikte und Krisen“. Sportminister Kogler reagiert gegenüber profil auf diesen Vorhalt scharf: Der „bestialische“ Angriffskrieg Russlands mit „seiner Unzahl an Kriegsverbrechen, der Verschleppung von Kindern, der Vergewaltigung von Frauen, dem systematischen Angriff gegen die zivile Infrastruktur, dem Einsatz von Hunger als Waffe und den wiederkehrenden Drohungen, Atomwaffen einzusetzen“, könne nicht mit anderen militärischen Konflikten gleichgesetzt werden.

Kogler sieht die gemeinsame Position der 35 proukrainischen Nationen so, dass man versuche, das IOC davon zu überzeugen „die eigenen Empfehlungen ernst zu nehmen und streng auszulegen“. Etwa die Frage, was als „Unterstützung des Krieges“ gilt oder bis zu welchem Stichtag ein Athlet Mitglied der Armee gewesen sein darf.

Was also passiert jetzt?

Längst sind die Wettbewerbe im Gange, bei denen sich Sportler für die Olympischen Spiele qualifizieren können. In manchen Disziplinen – etwa im Fechten – sind Russinnen und Russen dabei. Der Internationale Leichtathletikverband hingegen lässt bis auf Weiteres niemanden mit einem russischen Pass an den Start – auch nicht als „neutral“. Damit ist es ihnen nicht möglich, sich für Paris zu qualifizieren.

Das IOC wartet mit seiner formellen Entscheidung, ob Russen und Belarussen als Neutrale in Paris an den Start gehen können, noch ab. Es will offensichtlich sichergehen, dass die Ukraine und ihre engsten Mitstreiter ihre Boykottabsichten fallen lassen. Vergangene Woche setzte der ukrainische Premierminister Denys Schmyhal auf der Kurznachrichtenplattform

Telegram eine Nachricht ab, in der er bekräftigte, dass die Ukraine zu einem Boykott „bereit“ sei, wenn es „der Russischen Föderation und Belarus“ erlaubt werde, in Paris teilzunehmen. Über die Teilnahme neutraler Sportler schrieb er nichts.

Der wahrscheinlichste Ausgang des Konflikts um die Teilnahme russischer und belarussischer Sportler in Paris 2024 ist somit wohl eine Erlaubnis für neutrale Athleten – die jedoch für viele zu spät kommen wird, um sich noch zu qualifizieren. Ein Sport-Insider vermutet, dass deshalb in jedem Fall 2024 deutlich weniger Athleten aus Russland antreten werden als sonst üblich. So richtig zufrieden wird am Ende kaum jemand sein, aber das Schlimmste – ein Boykott der Ukraine – wird auf diese Weise vermieden. Dann wäre die internationale Sportgemeinschaft endlich im Ziel.

Eine Medaille im 110-Meter-Hürdenlauf zu erringen, ist leichter.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur