Soziologe Kreissl: "In Menschen investieren, nicht in Technik"
Interview: Edith Meinhart
profil: So viel Polizei wie dieser Tage sieht man in Europa selten auf der Straße. Macht uns das vor Terroranschlägen sicher? Reinhard Kreissl: Das ist eine politische Maßnahme, für den eigentlichen Schutz bringt das nichts. Man kann ja nicht vor jedes Gebäude Polizisten stellen. Außerdem wird man einen hochelektrisierten Selbstmordattentäter nicht abhalten, der nietet die halt auch um.
profil: Ist das subjektive Sicherheitsgefühl den Aufwand wert? Kreissl: Beruhigung ist wichtig, aber die Wahrheit ist, dass man kritische Infrastruktur, etwa ein U-Bahn-System, mit noch so viel Überwachung nicht sicher machen kann. Mit einem Koffer, Giftgas und einem Handy kann man am Karlsplatz ein Inferno mit einer dreistelligen Anzahl von Toten anrichten, ohne auf einer einzigen Videokamera zu sein.
profil: Das ist ja sehr beruhigend. Kreissl: Man muss sich fast fragen, warum so wenig passiert, wenn man bedenkt, wie angreifbar die moderne Gesellschaft ist. Das geht los bei Cyber-Attacken und hört bei der Lahmlegung des Stromverkehrs oder des Handynetzes auf.
Die Fantasie ist schlimmer als die Wirklichkeit
profil: Warum passiert wirklich nicht mehr? Kreissl: Weil die Bedrohung nicht so groß ist. Wenn man anfängt, die moderne Welt und im Besonderen die städtische Gesellschaft nur unter dem Gesichtspunkt anzuschauen, was passieren könnte, hat man schnell eine lange Liste beisammen. Doch die Fantasie ist schlimmer als die Wirklichkeit. Nehmen Sie die Gerichtsgebäude. Das sind Orte, an denen Lebensgeschichten dramatisch durcheinandergebracht werden. Man wird geschieden, delogiert, verliert einen Prozess, und am Ende sagt der Richter: Jetzt gehen Sie ins Gefängnis. Trotzdem läuft hier nur alle zehn Jahre jemand Amok.
profil: Bei allen spektakulären Anschlägen der Vergangenheit - New York, London, Madrid, Boston und jetzt Paris - waren den Behörden die Attentäter bekannt. Es ist schwer, zu verstehen, dass das nicht gereicht hat, die Terrorakte zu verhindern. Kreissl: Es ist wie bei den Lottozahlen: Am Montag weiß man, wie sie waren.
profil: Was bedeutet es in der Praxis, auf einer Warnliste zu landen? Kreissl: Wenn Sie Pech haben, kommen Sie in keinen Flieger mehr hinein, haben unglaubliche Kontrollen an den Grenzen und werden dauernd überwacht. Der Idee nach sind diese Listen gut. Aber wie man sieht, fliegen immer wieder auch Personen, die auf solchen Listen stehen, durch die Weltgeschichte. Ich halte es mit dem früheren Chef der Londoner Polizei, der sagte: Wir müssen in Menschen investieren, nicht in Technik.
profil: Wären Sie Innenminister, wofür würden Sie Ihre knappen Mittel jetzt ausgeben? Kreissl: Für Human Resources, für mehr Informationsverarbeitung statt Informationssammlung.
profil: Wie müsste der Satz weitergehen: Ein guter Verfassungsschutz … Kreissl: … ist ein Frühwarnsystem, ein Gesellschaftsforschungsinstitut, weniger eine Zugreiftruppe.
profil: So versteht sich das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung aber nicht. Kreissl: Es gibt zweifellos eine Schlapphutmentalität, eine stark polizeiliche Denkart und eine Art von falsch verstandener Dramatisierung.
profil: Eine Haltung, die nicht gerade den Kontakt zu den ethnischen Communitys erleichtert. Sehen Sie das als Versäumnis? Kreissl: In Frankreich wird man als Angehöriger einer Minderheit den Teufel tun, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Der berühmte Satz von Sarkozy, er würde am liebsten mit dem Kärcher durch die Banlieus gehen, zeigte, wie angespannt das Verhältnis ist. In Berlin, Mannheim und anderen deutschen Städten bemüht sich die Polizei seit einiger Zeit um bessere Kontakte. Das Gerede von Parallelgesellschaft entsteht dort, wo es dieses kapillare System nicht gibt, das auf Gemeinde- und Nachbarschafts-ebene hinunterreicht. Die CSU in Bayern ist so erfolgreich, weil sie genau das bis heute auf die Stammtische hinunter hat. Deshalb hat sie ein Gespür für die Temperatur in der Gesellschaft.
profil: Derzeit ruft man quer durch Europa, auch in Österreich, vor allem nach mehr Überwachung. Kreissl: Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist, dass sich nach 9/11 für Konzerne wie Siemens oder Nokia bis hin zu kleinen Unternehmen, die irgendwelche Algorithmen zur Mustererkennung bauen, ein unglaubliches Investitionsfeld eröffnet hat. Die Sicherheitsbranche wächst als einzige Branche immer noch zweistellig. Ein anderer Grund ist ein Missverständnis der Behörden, die meinen, mehr Daten gingen mit besserem Wissen einher. Schon Joseph Fouché, der Polizeiminister während der Französischen Revolution, legte Dossiers von Parteien, Adeligen, Bürgerlichen, Freunden und Feinden an, um Macht durch Wissen auszuüben, so wie später auch FBI-Chef Edgar J. Hoover. Das geht eine Weile gut, irgendwann aber erstickt das System an den Daten.
profil: Immerhin flog die Sauerland-Zelle in Deutschland durch NSA-Hinweise auf. Kreissl: Das stimmt in diesem Fall, aber es gab in den USA auch Fälle, in denen man junge Muslime mit eingeschleusten Agenten dazu brachte, ein Auto auf dem Times Square abzustellen. Was ein verhinderter Anschlag ist und was nicht, ist auch eine Frage der Interpretation.
profil: Die Öffentlichkeit erfährt nie, mit welchen konkreten Maßnahmen die Dienste erfolgreich waren. Wissen Sie da mehr? Kreissl: Dienste leben davon, dass sie Informationen nicht herausgeben. Man muss ihnen glauben. Es wäre sehr sinnvoll, Datensätze für die Forschung freizugeben, um eine unabhängige Evidenz zu schaffen. Die gibt es leider nicht.
profil: Seit Kurzem gibt es in Österreich eine Deradikalisierungs-Hotline. Welche Hoffnungen setzen Sie darin? Kreissl: Die Arbeit mit Schulen, Gemeinden, Jugendgruppen, muslimischen Vereinen und Leute mit Street Credibility halte ich im Rahmen der Möglichkeiten für eine der sinnvolleren Maßnahmen. Wir befinden uns in einer Lage, die sich mit einem Topf Wasser vergleichen lässt. Sie wissen, ab einer bestimmten Temperatur kommt irgendwann oben eine Blase, aber Sie wissen nicht, wo. Das kann auch die Physik nicht berechnen. Es gibt in unserer Gesellschaft jede Menge Verlierer, ohne Chancen und Perspektiven. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein 18-jähriger Jugendlicher mit Migrationshintergrund und sind hier "der Tschusch“, und dann kommt einer und verspricht Sex, Geld, Abenteuer, einen Sinn im Leben. Die Chance, dass Sie auf so etwas hereinfallen, ist relativ hoch, wenn Sie keine Alternative haben.
Einem Dschihadisten die Ausreise zu verweigern, bringt wenig
profil: Im Moment schwirren noch viele andere Vorschläge herum: Was halten sie von der Einschränkung der Reisefreiheit? Kreissl: Einem Dschihadisten die Ausreise zu verweigern, bringt wenig - der geht über die grüne Grenze. Davon abgesehen: Soll man zwischen guten und bösen Dschihadisten unterscheiden oder auch den nicht rauslassen, der in Kobane gegen die IS-Miliz kämpfen will? Das bringt uns nicht weiter.
profil: Speichern von Fluggast- und Vorratsdaten? Kreissl: Für die Beweissicherung und Strafverfolgung kann das wichtig sein. Es stellt sich hier das gleiche Problem wie bei Überwachungskameras. Hinterher kann man sagen: Wo ist jemand gewesen? Ah, in Pakistan! Im Vorhinein aber gibt es zu viele verdächtige Personen, unter denen sich möglicherweise ein Dschihadist versteckt.
profil: Schärfere Kontrollen an den Flughäfen? Kreissl: Der Sicherheitsverantwortliche eines Flughafens hat mich zu einer Frage inspiriert, die ich bei Workshops oft stelle: Angenommen, es gäbe für einen Flug von Berlin nach New York zwei Gates: Beim ersten kostet das Ticket - mit Sicherheitskontrolle - 800 Euro. Beim anderen - ohne Sicherheitskontrolle - 400 Euro. Die Kosten für ein Flugticket bestehen ja zur Hälfte aus dem Aufwand für Security. Welches würden Sie nehmen?
profil: Ich weiß es nicht. Kreissl: Leute, die mit Sicherheit zu tun haben, sei es in der Forschung oder bei der Polizei, sagen mehrheitlich: Ich fliege für 400.
profil: Sie meinen, wir könnten es uns sparen, die Schuhe am Gate auszuziehen? Kreissl: Das geht nicht. Wenn Sie sagen, Sie verzichten auf Sicherheitsmaßnahmen, und es passiert etwas, richten sich alle Zeigefinger auf Sie. Deshalb neigen Innen- und Sicherheitspolitiker dazu, von einem Worst-Case-Szenario auszugehen und jede noch so absurde Maßnahme zu unterstützen.
profil: Was bringt es, Finanzströme zu überwachen? Kreissl: Das soll man unbedingt machen, aber es wird Ihnen jeder Banker sagen, dass es ein stumpfes Instrument ist, solange es Schwarzgeld-Paradiese gibt.
profil: Welche Anti-Terror-Maßnahmen fallen in die Kategorie empfehlenswert? Kreissl: Langfristige Prävention, also darauf schauen, dass Menschen nicht in Isolation und Radikalisierung abgleiten, außerdem die Kontrolle von Vorprodukten für Sprengmittel und Giftstoffe. Kurzfristig gehört auch "Target hardening“ dazu, die Sicherung potenzieller Anschlagsziele. Daneben gibt es eine Reihe relativ trivialer Strategien. Zum Beispiel sollten in London nach den U-Bahn-Anschlägen alle auf herumstehende Koffer und Taschen aufpassen. Die Polizei ist bald in Meldungen untergegangen und musste lernen, zu unterscheiden: Steht ein Koffer neben einem Fahrkartenautomaten, hat ihn vermutlich jemand vergessen, steht er dahinter, sollte man sich etwas denken. Dieses Sensorium für auffällige Situationen hat der Menschheit geholfen zu überleben und ist, glaube ich, auch in der Polizeiarbeit sehr nützlich.
profil: Und ansonsten heißt es, mit dem Terror-Risiko leben lernen zu müssen? Kreissl: Wenn man sich das einmal ganz kalt anschaut: Auf jedes Terroropfer in der westlichen Gesellschaft kommen 100 oder 200 in Pakistan, Afghanistan, Afrika. In Frankreich sind jetzt 20 Menschen tot, und die psychologischen, symbolischen Wirkungen dieses Anschlags sind gewaltig.
profil: Immerhin geht es um unsere Freiheit. Kreissl: Sie zu beschwören, kann nicht schaden. Mir gefällt die Botschaft aus Frankreich: Wir lassen uns nicht einschüchtern! Wir haben keine Angst!
Der Soziologe Reinhard Kreissl forscht und publiziert zu Fragen der öffentlichen Sicherheit und Überwachung, war bis 2013 einige Jahre lang Mitglied der Security Advisory Group der EU-Kommission und gründete kürzlich das Vienna Centre for Societal Security (Vicesse). Davor leitete er das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien.
Foto: Monika Saulich