Spanische Exklave Ceuta: Ein Traum von einem Zaun

Spanische Exklave Ceuta: Ein Traum von einem Zaun

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20. Februar 2017, irgendwann kurz nach Mitternacht. Leise waren sie an den weißen Wachhäuschen der Marokkaner vorbeigeschlichen, den Hügel hinauf und wieder hinunter, durchs kniehohe Gestrüpp, hinter ihnen die Dunkelheit, über ihnen die Sterne und vor ihnen nur dieses in gleißendes Scheinwerferlicht getauchte Metallungetüm. Ein paar Hundert Meter tappsten sie geduckt weiter, die Köpfe eingezogen, mit dem Hügel als Deckung, damit die Wärmebildkameras sie nicht entdeckten. Wann er dann loslief, weiß Alex S. nicht mehr.

Es dauerte nur Minuten, für ihn eine halbe Ewigkeit, bis er vor dem Zaun stand. Die beiden Tore hatte die Vorhut bereits aufgebrochen, überall sprangen Gestalten aus der Dunkelheit. Es müssen Hunderte gewesen sein, mit denen er sich durch das Loch drängte, ein Chaos aus Leibern, die kurz ins Scheinwerferlicht stürzten und gleich wieder ins Dunkel der Nacht, die über der spanischen Exklave Ceuta lag. Für diesen Moment hatte Alex S. trainiert, diese Minuten hatte er mit den anderen wieder und wieder durchgespielt. Ein paar der Kameruner probierten es nicht zum ersten Mal: Sie hatten sich schon die Finger am Stacheldraht wund geschnitten, Knöchel geprellt, Schläge abbekommen. Alex S. dachte nicht, er lief nur noch. Als ihm klar wurde, dass er es beim ersten Versuch schaffen würde, wusste er, dass Gott doch noch einen Plan für ihn haben musste.

Mehr als einen Monat später, Ende März. Dort, wo die Zone B8 aufhört und die Zone B9 beginnt, muss es gewesen sein. Nichts erinnert mehr an das Drama dieser Nacht. Das Tor haben sie repariert, den Maschendraht geflickt, das Alarmsystem neu eingestellt. Alfonso Cruzado Pousa, Beamter der spanischen Guardia Civil, blinzelt gegen die Mittagssonne den Hügel hinauf zu Wachposten der Marokkaner und fragt sich, wie die Eindringlinge da vorbeigekommen sind. Die Grenzer des benachbarten Königreichs hätten die mehr als 350 Afrikaner, die in der Nacht die Böschung heraufgestürmt waren, doch sehen müssen.

Gemeldet haben die Marokkaner jedenfalls nichts, sonst hätten die Spanier besser reagieren können. Sie hätten Zeit gehabt, die Bereitschaftsliste der Guardia Civil durchzufunken, von den Wachposten bis zu den Besatzungen der Patrouillenboote; um ihre Schutzausrüstung anzulegen; um Schlagstöcke und Tränengasgewehre auszufassen; um sich auf den Ansturm vorzubereiten.

Aber so standen die Afrikaner völlig überraschend vor dem Zaun, und die spanischen Wachebeamten konnten nicht mehr tun, als anschließend die Löcher zu flicken und den Vorfall abzuhaken.

Alex S., 21, Elektrotechniker, kommt aus Kamerun. Alfonso Cruzado Pousa, 55, Grenzer, ist Spanier. Sie kennen einander nicht und könnten nicht einmal miteinander reden. Der eine spricht Englisch und Französisch, der andere nur Spanisch. Trotzdem spielen sie in der derselben Geschichte mit. Alex S. sagt, er habe sich im vergangenen November aus seinem Heimatland in den Norden aufgemacht, um ein neues Leben in Europa suchen. Denn in Kamerun habe er keine wirkliche Zukunft, das Land sei am Ende, die Dschihadisten würden sich ausbreiten, es gebe keine Jobs. Ob das alles stimmt, kann man nur schwer überprüfen: Er hat seine Dokumente und mit ihnen seine belegbare Vergangenheit vernichtet.

8,2 Kilometer Zaun

Alfonso Cruzado Pousa wiederum führt ein amtlich verbrieftes Leben, schließlich ist er bei der Guardia Civil, einer halbmilitärischen Polizeitruppe, die in Spanien unter anderem dafür zuständig ist, die Grenzen und Küsten zu bewachen. Für die Polizei war er zu klein gewesen, aber die Grenzer nahmen ihn. In jungen Jahren ist er noch selber tagelang auf Patrouille gegangen. Jetzt kümmert er sich um Journalisten und Politikerdelegationen aus aller Welt, die wissen wollen, wie man denn eine Grenze so richtig dichtmachen könne.

Die beiden Männer verbindet wenig, außer ein 8,2 Kilometer langes Stück Zaun. Der eine musste es in der Nacht des 20. Februar überwinden, um seinem Traum näher zu kommen. Der andere hat mehr als sein halbes Leben dafür gearbeitet, genau das zu verhindern und seine Pflicht zu erfüllen.

Auf Spanisch heißt die Grenzbarriere "la valla", was nur "der Zaun" bedeutet: Sechs Meter hohe, in Beton eingelassene Stahlpfeiler, dazwischen Gitter und Drähte, oben eine mit rasiermesserscharfen Klingen bestückte Drahtrolle. Es ist die erste militärisch ausgebaute Grenzanlage der EU, die Mutter aller europäischen Anti-Migrations-Zäune. In einer Doppelreihe schlängelt sie sich funkelnd durch die Wälder im Süden von Ceuta.

Acht Kilometer, auf denen unter Einsatz von Menschenleben ausgetestet wird, wie dicht die Außengrenze der EU gemacht werden kann, ohne die eigenen Werte vom Rechtsstaat für alle zu verraten. Auf der marokkanischen Seite sollen in den Wäldern der Provinz Tetuan angeblich Zehntausende Afrikaner auf ihre Chance warten. Auf der spanischen stehen ihnen rund 600 Mitarbeiter der Guardia Civil gegenüber, die neben dem Zaun auch noch die Küsten und den offiziellen Grenzübergang zu Marokko überwachen müssen, der im Schnitt von 20.000 Personen am Tag benutzt wird.

Schmugglerstadt für Cannabis

Alfonso Cruzado Pousa arbeitete schon an der Grenze, als sie noch unsichtbar irgendwo im Grünen verlief. Damals, in den 1980er-Jahren, galt Ceuta als Schmugglerstadt für Cannabis, das im nahe gelegenen Gebirge angebaut und mit Schnellbooten von marokkanischen Gangs ans Festland gebracht wurde. 1992 unterschrieb Spanien den Schengen-Vertrag und wurde über Nacht von der unbeachteten Exklave zum Tor nach Europa. Die Madrider Regierung ließ kurz darauf einen ersten Zaun an der Grenze errichten: hüfthoch, mit grünem Plastik ummantelt.

Dass dieses Zäunchen nicht reichen würde, war nicht nur erfahrenen Grenzern wie Cruzado Pousa klar. Also bauten die Spanier - großteils mit EU-Geldern -im Jahr 1995 eine zweite Absperrung: drei Meter hoch, diesmal mit Stacheldraht. Weil auch das nicht genug war und jedes Jahr mehrere Tausend Flüchtlinge und Migranten hereindrängten, wurde der Zaun zehn Jahre später auf sechs Meter erhöht.

Wie viele Millionen Euro insgesamt in die Grenzüberwachung geflossen sind, kann heute nicht einmal die spanische Delegation sagen, die im autonom verwalteten Ceuta die Madrider Regierung vertritt. Der Aufwand ist jedenfalls enorm: Wärmebildkameras, Lkw-Scanner, ein Radar-System für das Meer. Lediglich 2525 Personen sind im vergangenen Jahr illegal nach Ceuta eingereist. Weniger als die Hälfte probierte es über den Zaun, die meisten kamen wie in den Jahren zuvor über das Meer. Wie hoch die Dunkelziffer jener ist, die auf der von tückischen Strömungen durchzogenen Straße von Gibraltar ihr Leben riskieren, um direkt an den europäischen Küsten Spaniens zu landen, weiß niemand genau. Im Jahr 2016 wurden mehr als 6000 Asylsuchende registriert, die diese Route genommen hatten.

Der Zaun ist ein wachsendes Stückwerk

Trotzdem interessieren sich die vielen Journalisten, Polizisten und Politiker aus dem Ausland vor allem für den berühmten Zaun, und Cruzado Pousa kann ihnen jedes Detail erklären: Nahe dem Boden sollen Baugitter verhindern, dass der Drahtzaun mit Bolzenschneidern durchtrennt wird. Weiter oben spannt sich ein Stahlnetz, das zu fein ist, um sich mit Fingern oder Fußspitzen festzuhalten. Um es zu überwinden, basteln sich die Migranten Haken und drehen sich Schrauben durch die Schuhsohlen. Der Zaun ist ein wachsendes Stückwerk, ein Frage-und-Antwortspiel zwischen den Grenzern und denen, die drüberwollen.

Alex S. wäre eher gestorben, als sich abhalten zu lassen. Er hatte bereits ein halbes Vermögen ausgegeben, um nach Marokko zu kommen. Einen Monat lang hatte er dort in provisorischen Lagern im Wald ausgeharrt, die Füße im Schlamm, über sich der freie Himmel; er hatte sich vor den marokkanischen Polizisten versteckt, die Schwarze wie ihn schikanieren, bestehlen oder sie - noch schlimmer - ins Gefängnis stecken; er hatte gehungert und gefroren.

Als er dann mit Hunderten anderen am 20. Februar durch die Straßen der Stadt lief, brach das alles aus ihnen heraus. "Bosa!", riefen sie immer wieder. Das heißt in etwa "Sieg" oder "Tor", weil doch der Zaun aussieht wie ein Tornetz.

Schafft es einer wie Alex S. nach Ceuta, wird er ins Auffanglager Ceti gesteckt. Es wurde vor Jahren für 512 Personen gebaut, mittlerweile sind mehr als 1500 dort untergebracht. Einen Aslyantrag stellen dort pro Jahr nicht mehr als einer oder zwei von ihnen. Der Grund: Wer das tut, muss bis zu zwei Jahre in Ceuta auf sein Verfahren warten. Den meisten dauert das zu lange. Das spanische System bevorzugt jene, die keinen Antrag stellen und darauf vertrauen, dass sie nicht in bestimmte afrikanische Länder zurückgeschoben werden können. Sie müssen meist nur ein paar Monate warten, bis sie aufs Festland gebracht und in die Obhut von NGOs übergeben werden. Von dort verschwinden sie meist in andere Länder, sagt ein Sprecher des Roten Kreuzes in Ceuta.

Trostloses Warten

Jeden Tag geht Alex S. zum grauen Stadtstrand hinunter, wo er mit anderen Kamerunern zusammensitzt, die alle das Gleiche tun: ein offenes WLAN-Netz anzapfen, um mit ihren Smartphones ins Internet zu kommen. Zwischendurch verdienen sie sich ein paar Euro am Tag, indem sie sich gelbe Warnwesten anziehen und spanischen Autofahrern beim Einparken helfen. Es ist ein trostloses Warten auf den zweiten Sieg, den zweiten Jubel: der kommt, wenn ihre Namen auf der Liste derjenigen steht, die mit der Fähre auf das Festland dürfen.

Es gibt kaum Flecken in Ceuta, von denen sie ihr Ziel nicht vor Augen haben: den nur wenige Kilometer entfernten Hafen von Algeciras oder den Felsen von Gibraltar, an dem die Frachtschiffe vorüberziehen. Immer wieder verlieren die wartenden Afrikaner die Geduld. "Ceuta ist für alle nur ein Trampolin", sagt Germinal Castillo vom Roten Kreuz. Fünf Mal mussten seine Kollegen allein in der vergangenen Woche ausrücken, um Migranten zu versorgen, die sich bei dem Versuch verletzt hatten, sich in einem Schiff zu verstecken, das den Hafen verließ. Ceuta, das ist ein Kommen und Gehen, nur ein Traum von einer abgedichteten Grenze. Der zentrale Spieler ist dabei ein unangenehmer: das autoritäre Königreich Marokko und dessen übel beleumundete Polizei. "Von zehn Leuten halten die Marokkaner sieben auf, die restlichen drei kommen zu uns durch", sagt Guardia-Civil-Sprecher Cruzado Pousa. Die EU und Spanien zahlen Millionen an den Nachbarn, damit er mithilft. Im Jahr 2015 erließ die Madrider Regierung sogar ein umstrittenes Gesetz, das im Nachhinein eine langjährige Praxis der Guardia Civil legalisieren sollte. Bei sogenannten "heißen Rückschiebungen" drängen die Grenzer die Afrikaner am Zaun an Ort und Stelle wieder auf marokkanischen Boden zurück. Erst wer die Reihen der Guardia Civil überwindet, hat sich in eine Art seltsames Leo gerettet, darf bleiben, obwohl er keinen Asylantrag stellt, und wird nicht mehr nach Marokko gebracht.

Dass es seit Jahresbeginn ungewöhnlich viele Afrikaner aus Ländern südlich der Sahara über den Zaun schafften, führt in den spanischen Medien zu viel beachteten Gerüchten: Die marokkanische Polizisten würden wegsehen, weil ihre Regierung die lukrativen Deals mit Europa neu verhandeln wolle.

Was die Marokkaner machen, sei die Sache der Marokkaner, findet Cruzado Pousa, und mehr will er dazu nicht sagen. Über Funk spreche man jeden Tag miteinander, die Zusammenarbeit funktioniere blendend, sie seien loyale Kollegen. Er weiß, dass es Zwischenfälle mit Toten gegeben hat, dass die marokkanische Polizei mit scharfer Munition auf Migranten schoss und auch die Guardia Civil in der Kritik stand. Erst vor drei Jahren hatten die Spanier mit Tränengas und Gummigeschossen auf Hunderte Afrikaner gefeuert, die beim Grenzübergang Tarajal über das Meer auf einen spanischen Strand schwimmen wollten. 15 Leichen wurden insgesamt auf beiden Seiten der Grenze angeschwemmt. "Wir verwenden dieselben Mittel wie bei Demonstrationen in Madrid oder anderswo", sagt Pousa. Niemand wünsche sich, dass an den Grenzen die Menschen wegen eines Vergehens sterben, das genau genommen nicht mehr als eine Verwaltungsübertretung ist.

Der Zaun, ein passives Element

So ist es am Ende gar nicht der mächtige Zaun, der die Dramen von Ceuta schreibt. "Das ist ein passives Element, das allein hält niemanden ab", sagt Cruzado Pousa. Ohne die Schilder, die Helme, das Tränengas und die Marokkaner ginge es nicht. Denn auch die Migranten seien in den letzten Monaten brutaler geworden: Sie würden spucken, mit Steinen schmeißen, lange Knüppel mitbringen. Weil es in den vergangenen Wochen schon zwei große Durchbrüche - er nennt sie "Angriffe" - gab, sind mittlerweile rund 100 Mitglieder der "Grupo Reserva y Seguridad" in einem Hotel in der Innenstadt abgestiegen. Bullige Spezialeinheiten mit dunklen Sonnenbrillen und schwarzen Baretten auf dem Kopf. "Hombres de negro", die Männer in Schwarz, so ihr Spitzname. "20 von denen sind wie 50 von uns", sagt der Grenzer.

Dabei sei es nicht so, dass er die vor dem Zaun so gar nicht verstehen würde. Alfonso Cruzado Pousa blickt nach oben in den Stacheldraht und stellt eine Frage: "Würdest du da rüberklettern? Nein? Dann stell dir vor, dass ein Löwe hinter dir her ist!" Es ist eine einstudierte Pointe, aber auch einer der Momente , in denen man spürt, dass den alten Spanier mehr mit dem jungen Kameruner Alex S. verbindet als nur der Kampf an einem acht Kilometer langen Zaun in einer Nacht im Februar. "Es ist doch so: Hinter jedem von uns kann irgendwann einmal ein Löwe her sein", sagt Cruzado Pousa dann, setzt seine Guardia- Civil-Mütze auf und fährt in seinem Geländewagen weiter den Zaun entlang.