Srebrenica: Opfer von Vergewaltigungen kämpfen immer noch um Gerechtigkeit
Mit geübten Handgriffen rüttelt Bakira Hasečić am Eingangsgitter, bis der Schlüssel sich dreht. „Žena žrtva rata“ steht auf dem ausgebleichten Zettel, der mit Tixo an der Tür ihres Vereinslokals in Sarajevo angeklebt wurde: „Kriegsopfer Frau“. Dann läuft sie an einer mit Möbeln vom Sperrmüll zusammengezimmerten Rezeption vorbei durch einen dunklen, engen Schlauch in ihr mit Zetteln, Fotos und Kaffeebechern übersätes Büro.
Noch im Gehen faltet sie ein Plakat auf: „Stadt der lebendig Verbrannten“. Man sieht darauf das Gesicht ihres früheren Nachbarn Radomir Šušnjar. Jahrelang trug sie Beweise dafür zusammen, dass er im Juni 1992 in Višegrad zwei Häuser in Brand gesteckt hatte. 70 Frauen, Kinder und ältere Männer kamen darin um. Hasečić spürte den Mann in Paris auf. Jederzeit kann ihr abgegriffenes Handy läuten. Wenn eine Frau dran ist, die gerade irgendwo ihren Vergewaltiger gesehen hat, „dann lasse ich Sie hier sitzen und fahre los – ich bin so“. Es ist eine Feststellung, keine Entschuldigung. „Simon Wiesenthal von Sarajevo“ wurde Bakira Hasečić schon genannt.
Ihre genaue Zahl werden wir vielleicht nie erfahren – auch deshalb, weil viele Opfer schweigen (Bakira Hasečić)
Es sind unbeschreibliche Zumutungen, die sie auf sich nimmt, um jene Kommandanten und deren Schergen vor Gericht zu bringen, die während des Bosnienkriegs von 1992 bis 1995 Frauen erniedrigten und quälten, in Lager sperrten, als Schutzschilder missbrauchten, verschleppten, versklavten, vertrieben oder gar ermordeten. Schätzungsweise 25.000 Frauen und rund 1000 Männer wurden von serbischen Soldaten und Angehörigen der Armee der Republica Srpska vergewaltigt. „Ihre genaue Zahl werden wir vielleicht nie erfahren – auch deshalb, weil viele Opfer schweigen“, sagt Hasečić.
Nicht alle, die mit dem Leben davonkamen, hatten danach die Kraft weiterzuleben. Viele begingen Selbstmord. Bis heute stehen die Überlebenden gesellschaftlich und existenziell am Abgrund, können sich oft weder Medikamente gegen ihre körperlichen Schmerzen noch Psychotherapien leisten und fühlen sich außerstande, ihre Peiniger anzuzeigen.
Am 11. Juli jährt sich das Massaker von Srebrenica zum 20. Mal. Es gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Doch so wie sich 1965 in Österreich kaum jemand für die Berichte von Holocaust-Überlebenden interessierte und ihre Versuche, anerkannt und entschädigt zu werden, von Behörden notorisch abgeschmettert wurden, so wenig will das heutige Bosnien und Herzegowina von den Gräueln seiner jüngeren Vergangenheit wissen.
Ich lebe nur mehr aus Trotz
„Ständig hören wir: Ach, lasst uns mit den vergewaltigten Frauen in Ruhe“, sagt J. R., die in Miljevina sexuell gepeinigt worden war. Um das Schweigen zu beenden, das sich wie eine bleierne Decke über jede gesellschaftliche Entwicklung legt, hat Hasečić 2003 ihren Verein gegründet. „Ich lebe nur mehr aus Trotz“, sagt die Frau mit den kurzen, blonden Haaren und dem abgekämpften Lächeln.
Es ist ein Trotz, der Courage verleiht. Auf dem muslimischen Friedhof in ihrer Heimatstadt Višegrad plakatierte Hasečić für alle sichtbar die Namen und Fotos jener Männer, die sich im Krieg die Hände blutig gemacht haben und dafür nie zur Verantwortung gezogen wurden; der Bürgermeister der Stadt und ein angesehener Polizist sind darunter. 5000 Aussagen von vergewaltigten Frauen und Mädchen aus 72 Gemeinden in Bosnien sammelte ihr Verein. Fast alle Opfer sind muslimische Bosniakinnen, auch wenn der Krieg Serbinnen, Kroatinnen oder Roma nicht verschonte. Die meisten stammen aus Ostbosnien, aus Višegrad wie sie selbst, aus Foča, Rogatica, Prijedor und Srebrenica.
Nicht zuletzt ihren Nachstellungen ist es zu verdanken, dass auch die örtliche Justiz allmählich in die Gänge kommt. Derzeit warten mehrere Anführer aus Rogatica auf ihre Prozesse. Im Besprechungszimmer von Hasečićs Verein hängen handgeschriebene Zettel, Zeitungsausschnitte und ein Foto von Milan Lukić an der Wand. Aufgenommen wurde es am 29. Oktober 2008 vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Der zu lebenslanger Haft verurteilte Kommandant serbischer Freischärler grinst, als könnte kein Gericht der Welt ihm etwas anhaben. Er ist der Mann, der Hasečić in Višegrad vergewaltigte.
Es ist zu viel passiert. Mehr kann ich nicht erzählen
Viele Täter laufen noch frei herum. Der Lagerkommandant etwa, dessen Foto auf dem großen, schwarzen Tisch im Besprechungszimmer liegt. Ein Mann und acht Frauen haben hier Platz genommen. Einige Frauen haben bemalte Lippen und tragen eine hübsche Kette, doch ihre Augen sind erloschen, und ihre Hände tasten oft nach Zigaretten und Taschentüchern. Manchmal fängt jemand an zu reden und verstummt wieder: „Es ist zu viel passiert. Mehr kann ich nicht erzählen.“
Ermutigt durch das Beispiel ihrer Obfrau, haben einige von ihnen vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und dem Staatsgerichtshof in Bosnien und Herzegowina ihre Erlebnisse bezeugt. In Den Haag sind ihre Aussagen für 30 Jahre unter Verschluss – zu ihrem eigenen Schutz, denn immer wieder versuchen Verdächtige über Mittelsleute, Opfer einzuschüchtern oder zu bestechen. profil liegen anonymisierte Auszüge ihrer gerichtlichen Aussagen vor.
Die Aufzeichnungen von A. N., die beim Treffen mit profil im vergangenen November kaum sprach, enden mit den Worten: „Ich bin krank geworden. Wenn jemand mich anschaut, denkt er vielleicht, mit mir ist alles in Ordnung. Ich lebe, weil ich leben muss. Ich bin Zeugin und spreche, damit die Verbrechen nicht vergessen werden.“ T. M. fehlte dafür lange die Kraft. „Wenn du etwas erzählst, töten wir deine Kinder, dann hast du niemanden mehr“, hatte der Tschetnik gedroht, der sie im Mai 1992 in ihrem Haus misshandelte. Hasečić wusste davon und rief M. jeden Tag an, um sie zum Reden zu bewegen. Erst im Jahr 2000 fand man die Überreste ihrer Angehörigen. 15 aus ihrer Familie wurden ermordet. 13 Jahre später sagte M. gegen den Mann aus, der ihren Bruder und 50 weitere Männer umgebracht hatte. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er lächelte. Das Gericht in Sarajevo verurteilte ihn zu 20 Jahren Haft.
Noch einmal getötet werden geht nicht
Und dann ist da noch J. Z., die Frau mit der kehligen Stimme und den schlanken Eve-Zigaretten. Bis 2005 war kein Wort über die Verbrechen Veselin Vlahovićs über ihre Lippen gekommen. Erst nachdem sie im Fernsehen ein Vergewaltigungsopfer gesehen hatte, gab sie zu Protokoll, was sie selbst erlebt und beobachtet hatte. Der montenegrinische Milizenführer, der als Monster von Grbavica in die Annalen der Kriegsgräuel einging, hatte zahlreiche Frauen vergewaltigt und ihre Männer mit Messern abgeschlachtet. Als er 2013 zu 45 Jahren Haft verurteilt wurde, kollabierte J. Z. Seither arbeitet ihr Herz nur noch mit einem Drittel seiner ursprünglichen Kraft.
Für Z. und die anderen Kriegsopfer ist Hasečić eine Heldin. „Wir alle sind Bakira“, sagt sie trocken. Sie hatte Todesängste ausgestanden, als sie zum ersten Mal in Den Haag in den Zeugenstand trat. Am Abend hängte sie in ihrem Hotel Decken vor das Fenster. „Warum machst du das?“, frage ihr Mann. „Weil es kalt ist“, antwortete sie. Sie wollte nicht zugeben, dass sie von dem Gedanken beherrscht war, ein Scharfschütze könnte von draußen auf sie zielen. Frei sei sie erst geworden, als sie eines begriffen habe: „Noch einmal getötet werden geht nicht.“
Der Internationale Strafgerichtshof für Ex-Jugoslawien in Den Haag, der Strafgerichtshof in Bosnien und Herzegowina, der seit 2006 in komplexen Causen aktiv wird, sowie die Gerichte der beiden Entitäten verurteilten mehrere Dutzend Kriegsverbrecher wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs. Das ist angesichts der Opferzahlen eine beschämende Bilanz.
Uns läuft die Zeit davon
Hunderte Täter leben unbehelligt in Städten und Dörfern. Manche ließen sich für tot erklären oder änderten ihre Namen, um nicht gefunden zu werden, so wie der ehemalige Präsident der Republika Srpska, Radovan Karadžić, der in Zagreb als Alternativmediziner untertauchte. Seit 2008 sitzt er in Untersuchungshaft. Er gilt als hauptverantwortlich für das Massaker von Srebrenica. Sein Verfahren in Den Haag, in dem Karadzic sich selbst verteidigt, ist nach fast 500 Verhandlungstagen immer noch nicht abgeschlossen.
Viele Täter und Opfer könnten bald sterben, sagt Hasečić: „Uns läuft die Zeit davon.“ Im Vorjahr erkannte sie in einem Polizisten in Višegrad jenen Mann, der in einem Vergewaltigungslager das Licht aus- und eingeschaltet hatte. Er rannte davon, als sie ihr Handy zückte, um den Mann mit dem Spitznamen „Licht an, Licht aus“ zu filmen. Am 29. Juni postete Hasečić auf ihrer Facebook-Site, dass der Serbe Slavko Savic zu acht Jahren verurteilt wurde, weil er 1993 eine Frau in Vogosca vergewaltigt hatte. Wenige Tage zuvor waren Bosiljko und Ostoja Markovic für die Vergewaltigung einer 14-jährigen in Kotor Varos verurteilt worden. Zum ersten Mal bekam ein Opfer eine Entschädigung zugesprochen.
In ihre Dörfer können die Opfer bis heute nicht zurück. V. A. stammt aus Foča, wo proserbische Kräfte im April 1992 mit Erschießungen, Deportationen und Inhaftierungen begannen. Die Täter seien nie vor ein Gericht gekommen – bis auf einen, doch selbst ihn habe man mangels Beweisen wieder freigelassen. „Die Männer haben Frauen weggebracht, die für immer verschwunden sind. Was braucht es noch?“ Bis heute hat A. Angst, nach Foča zu fahren: „Man trifft dort an jeder Ecke auf Kriegsverbrecher, die verhindern wollen, dass die Opfer sie an ihre die Vergangenheit erinnern.“
Die Stätten des Grauens sollen verschwinden, Journalisten sind unerwünscht, Gedenktafeln, Kundgebungen und jede Form des öffentlichen Erinnerns verboten. Im Jänner 2014 entrollte Hasečić am muslimischen Friedhof in Višegrad ein „Justice for victims“-Transparent. Die Polizei hatte hier das Wort „Genozid“ aus einem Gedenkstein entfernt. Das Haus, in dem 70 Menschen lebendig verbrannten, möchte die Gemeinde lieber heute als morgen abreißen lassen. Hasečić kämpft darum, es als einen Ort der Erinnerung zu erhalten, weil es für sie „ohne Wahrheit auch keine Zukunft“ gibt.
Ein normales Leben werden wir nicht mehr haben. Aber wir können dafür sorgen, dass die Verbrecher zur Verantwortung gezogen werden und sich die Geschichte nie mehr wiederholt
Aus den systematischen Vergewaltigungen entstanden Kinder, die zu jungen Erwachsenen herangewachsen sind. 62 von ihnen hat der Verein „Kriegsopfer Frau“ registriert. Dunkelziffer: unbekannt. Viele Überlebende brachten es nicht über sich, ihren Töchtern und Söhnen die Wahrheit zu sagen, ließen die Kinder bei den Tätern zurück oder gaben sie zur Adoption frei. Eine Frau lebte mit ihrem Peiniger und zwei Kindern zusammen. Vor acht Jahren flüchtete sie. Ihre Söhne sind mittlerweile erwachsen und drohen, den Vater eigenhändig zur Strecke zu bringen.
Jede einzelne dieser Geschichten ist nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern auch eine gesellschaftliche Zeitbombe. „Ich wünschte, ich wäre bei deiner Geburt gestorben“, sagte eine vergewaltigte Frau zu ihrer Tochter. Als sie den Frauen des Kriegsopfervereins davon erzählte, riss sie sich vor Verzweiflung ein Büschel Haare aus. Hasečić und ihre Mitstreiterinnen nahmen sich eines Heimmädchens an, das vor zwei Jahren hinter das Geheimnis seiner Herkunft gekommen war. Das Schweigen in den Familien zerstört die nächste Generation. „Mit ihr müssen wir dringend arbeiten“, sagt Hasečić.
Heerscharen von Traumatherapeuten und Psychiatern hätten für Jahre zu tun. Doch der Verein kann kaum seine Miete und die Telefonrechnungen bezahlen. Eine Psychologin arbeitet für das symbolische Gehalt von 300 Euro mit Überlebenden, die als Zeuginnen aussagen. Vor einem Prozesstermin bereitet sie die Frauen darauf vor, den höhnischen Blicken der Täter und den Einschüchterungen ihrer Verteidiger standzuhalten. Jede Frau, die vor Gericht zusammenbricht, nützt den Tätern. So sehen es Hasečić und ihre Mitstreiterinnen.
Vor zwei Wochen kam Hasečić nach Wien. Fahra Salihovic Hajdarevic, Obfrau des 2009 gegründeten Vereins Srebrenica-Wien, hatte sie zu einer Gedenkfeier eingeladen. In einem Vereinslokal in Meidling zeigte sie einen Film, der Hasečić und ihrem Kampf um Gerechtigkeit ein Denkmal setzt. Sein bezeichnender Titel: „Das Schweigen brechen“. Einige Frauen im Publikum weinten und hielten sich mit einem Taschentuch den Mund zu, als wollten sie verdrängte Geheimnisse daran hindern, nach außen zu treten. Hasečić hatte für sie eine nicht sehr tröstliche Botschaft: „Ein normales Leben werden wir nicht mehr haben. Aber wir können dafür sorgen, dass die Verbrecher zur Verantwortung gezogen werden und sich die Geschichte nie mehr wiederholt.“
Infokasten
Srebrenica, 17. April 1992: Der Bosnienkrieg war elf Tage alt, als serbische, paramilitärische Einheiten die in einem engen Tal eingekesselte ostbosnische Stadt Srebrenica überfielen. Bosniakische Truppen formierten sich zur Rückeroberung. Im Sommer 1992 begannen bosnische Serben mit der Belagerung der Stadt. Drei Jahre sollte sie Jahre dauern. Von den rund 36.000 Menschen, drei Viertel davon muslimische Bosniaken, die damals in der Region Srebrenica lebten, wurde ein großer Teil im Laufe des Bosnienkriegs vertrieben oder fiel serbischen Nationalisten zum Opfer. Erst im März 1993 trafen UN-Hilfstruppen ein.
Tausende Bosniaken wurden in Sicherheit gebracht und die Stadt zur Schutzzone erklärt. Die niederländische Blauhelm-Einheit Dutchbat sollte die Flüchtlinge in der Stadt schützen, doch die Lage wurde zusehends unerträglich, zumal bosnisch-serbische Verbände selbst Hilfslieferungen nicht zu den Eingeschlossenen durchließen. Viele starben an Hunger und Entkräftung.
Srebrenica. Am 11. Juli 1995 stürmten serbische Einheiten unter der Führung von General Ratko Mladić die muslimische Enklave. 15.000 bosnische Muslime versuchten, in die Berge zu entkommen. In den darauffolgenden Tagen ermordeten Mladics Truppen ungefähr 8000 männliche Bosniaken, vom kleinen Buben bis zum 70-Jährigen. In Prozessen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und vor dem Internationalen Strafgerichtshof wurde dieses Kriegsverbrechen als Genozid eingestuft. Der Kommandant der UN-Truppen hatte mehrfach französische NATO-Luftunterstützung angefordert. Doch sie blieb aus, auch um das Leben jener rund 30 Blauhelm-Soldaten zu schonen, die bereits als Geiseln genommen worden waren.
Die vor Ort stationierten UN-Einheiten räumten Beobachtungsposten und Straßensperren. Laut einem Bericht des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation von 2002 sahen sie dem systematischen Morden tatenlos zu. Andere Befunde sprechen dafür, dass die schlecht ausgerüsteten Kräfte der Aggression wenig entgegenzusetzen hatten. Über 6000 der in Massengräbern gefundenen Opfer des Massakers von Srebrenica wurden inzwischen identifiziert, von Hunderten fehlt bis heute noch jede Spur. Srebrenica wurde zum Synonym für den ersten Völkermord auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft.
Spendenkonto für Verein „Frau - Kriegsopfer“ Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung IBAN: AT79 5400 0004 0079 3444 OÖ Landesbank 54000