ZAUN: Mit Stacheldraht entlang der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien will Ungarn Flüchtlinge an der Einreise hindern.

Reportage: Unterwegs auf der Westbalkan-Route von Serbien nach Ungarn

Reportage: Unterwegs auf der Westbalkan-Route von Serbien nach Ungarn

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Sie ziehen an Kukuruzfeldern und schilfbewachsenen Gräben vorbei, passieren stille Datschen-Siedlungen, alte Wachtürme und Bahngleise. Tausende Flüchtlinge machen sich täglich von dieser Ecke der pannonischen Ebene aus auf den Weg in die Europäische Union. Sie suchen Schlupflöcher im Zaun. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat ihn entlang der 175 Kilometer langen Grenze zu Serbien aufstellen lassen.

Immer mehr Menschen fliehen über die sogenannte Westbalkan-Route in die EU-Länder. Um einen unkontrollierten Andrang zu verhindern, befestigen die Staaten in Südosteuropa ihre Außengrenzen mit neuen Zäunen. Die Befestigungen stoppen die Einwanderungsströme allerdings nicht, sie verschieben sie nur: zuerst von der griechischen Landesgrenze zur bulgarischen und anschließend wieder über den Seeweg nach Griechenland, weiter nach Mazedonien und Serbien, wo sie am Ende vor Ungarns neuer Befestigung stehen, die ihnen den Weg in den Westen versperren soll: ein bis zu eineinhalb Meter hoher Stacheldraht mit messerscharfen Klingen, der mit 31. August die Schengen-Außengrenze bewachen soll. Bis Ende Oktober soll ein drei Meter hoher Maschendraht hinzukommen.

Die Menschen kommen trotzdem. Allein am vergangenen Mittwoch waren es über 3000 Flüchtlinge, Tausende folgten ihnen in den Tagen danach. Ein profil-Lokalaugenschein an den drei wichtigsten Stationen entlang der ungarisch-serbischen Grenze.

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Erste Station: Bahndamm bei Horgos

Inzwischen kommen sie ungestört aus Mazedonien. Seit Flüchtlinge die griechisch-serbische Grenze durchbrochen haben und Mazedonien sie nicht mehr aufhält, steigen sie busweise in Horgos aus. Horgos ist ein serbisches Dorf an der Grenze zu Ungarn, in dem fast ausschließlich ethnische Ungarn leben. Doch neuerdings wimmelt es vor Fremden: Syrer, Iraker, Afghanen, Pakistaner, einige Afrikaner, denen serbische Polizisten freundlich den Weg zum Bahndamm weisen. Zwei Mal am Tag fährt ein Zug, ein gelb-roter Schienenbus der Ungarischen Staatsbahnen, der von Horgos in Serbien bis nach Szeged in Ungarn fährt. Dort, wo die Geleise die Staatsgrenze überqueren, klafft die sichtbarste Lücke in Orbáns Zaun.

100 Meter vor dem Grenzstein sitzt eine Gruppe von 20 Syrern, unter ihnen fünf Frauen und ein Kind, auf dem sandigen Feldweg neben dem Bahndamm. Zwei Männer haben eine Art Landkarte in den Sand gezogen und bestimmte Stellen mit Maiskolben markiert. Hier wird der Grenzübertritt strategisch geplant. Drei Männer sind auf den heute ungenutzten, 30 Meter hohen Wachturm aus der jugoslawischen Zeit geklettert und rufen von dort aus ihre Beobachtungen zu den unten Sitzenden. Sie sehen genau, was auf der ungarischen Seite geschieht. 500 Meter weiter, wo der Bahndamm die Landstraße nach Röszke kreuzt, halten Polizisten die Ankömmlinge an und weisen sie an, sich auf dem Feld neben der Landstraße niederzusetzen.

Hier auf der serbischen Seite sagt die 18-jährige Selma aus Syrien, ein zierliches Mädchen mit wachen Augen hinter schmalen Brillen, in fließendem Englisch: "Die Ungarn nehmen unsere Fingerabdrücke und registrieren uns. Die meisten von uns wollen nach Deutschland, andere nach Belgien und England. Wenn wir in Ungarn registriert sind, können uns diese Länder nach Ungarn zurückschicken.“ Dass Deutschland eben beschlossen hat, keinen einzigen Syrer mehr nach Ungarn zurückzuschicken, wissen sie noch nicht.

Selma ist mit Vater, Mutter und der achtjährigen Schwester Soha aus der umkämpften nordsyrischen Stadt Idlib geflohen. Die "Fassbomben“ der Regimetruppen - mit Nägeln, Schrapnell und Explosivstoffen gefüllte Metallbomben, die von Hubschraubern meist über Wohngebieten abgeworfen werden - haben ihnen das Leben zur Hölle gemacht. Ihre Gruppe fand sich bei der Überfahrt von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos zusammen. Dem kleinen Schlauchboot ging mitten auf dem Meer das Benzin aus. Zuvor hatte sich Selma noch am Motor das Bein verbrannt. "Wir hatten Todesangst. Über WhatsApp haben wir die griechische Küstenwache zu Hilfe gerufen.“

Seitdem wandert die Gruppe gemeinsam gen Westen. Man hat sich organisiert und Arbeitsteilungen beschlossen. "Wir haben Anführer, wir haben welche, die für die Sicherheit zuständig sind, und ich bin die Dolmetscherin, weil ich Englisch kann“, erzählt Selma. Am Ende entscheidet die Gruppe, die Dunkelheit abzuwarten, um nicht den ungarischen Polizisten in die Arme zu laufen.

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Zweite Station: Grenzzaun bei Röszke

Rund einen Kilometer östlich des Bahndamms markiert ein trockener, schilfbewachsener Graben die Staatsgrenze. Aus dem Schilf schält sich eine Gruppe Menschen heraus, sie suchen einen Weg über die drei übereinander gelegten Stacheldrahtrollen. Schließlich finden sie eine Stelle, an der der Zaun eine zwei Meter hohe Markierungsstange für die Landwirtschaft umschließt. Einer der Männer erklimmt das Flurzeichen, drückt mit den Beinen die Stacheldrahtrollen nieder und springt als Erster hinüber. Dann machen sich etwa 25 Syrer an dem Metallhindernis zu schaffen, sie gehen hektisch und zielbewusst vor. Einige lösen die Halterungen aus dünnem, glattem Draht, dann drückt einer von ihnen den Zaun mit einem Ast weiter hinunter. Immer mehr Menschen überwinden die Sperre, Kinder werden hinübergereicht. Eine junge Frau verletzt sich an den messerscharfen Klingen Drahtes. Die Wunde blutet stark, die Frau verzieht jedoch keine Miene und verschwindet mit den anderen im Kukuruzfeld jenseits des Feldweges.

Die ganze Zeit über hat 200 Meter entfernt ein Streifenwagen der ungarischen Polizei auf dem Feldweg gegenüber geparkt. Wenig später tauchen drei bullige Bereitschaftspolizisten auf und suchen nach Spuren im Gelände.

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Dritte Station: Datschen-Weg bei Röszke

Wer es über die Grenze geschafft hat, der schlägt sich zu einer jener Stellen durch, wo Schlepper auf ihre Kunden warten - Orte, wie die Wochenendsiedlung Kisszekso westlich von Röszke. Eine schmale Asphaltstraße führt durch eine lockere Ansammlung von Datschen und leerstehenden Bauernhäusern. Die Anwohner klagen über den regen Verkehr der Schlepper, die immer wieder in hohem Tempo die sonst stille Straße entlangrasen. "Wir arbeiten in Szeged und sind mit unserem Kind extra hierhergezogen, um die Ruhe im Grünen zu genießen“, sagt einer der Bewohner, der 35-jährige Friseur Zoltan Laszlo. "Die Schlepper haben sich in den leerstehenden Gehöften eingenistet. Oft hört man Streit und Geschrei, wenn sie mal wieder die Flüchtlinge reingelegt haben“, sagt seine Frau Eva Varga, eine 37-jährige Juwelierin. "Wir sind froh über den Zaun“, meint Laszlo: "Am Ende werden hier weniger Flüchtlinge kommen. Ich weiß, es ist ideologisch falsch, weil es den Ruch von Eisernen Vorhang hat, aber wir sehen keine andere Lösung.“

Die Schlepper in Kisszekso sind meist Roma aus dem armen Nordosten Ungarns. Das Geschäft hier läuft bestens: 500 bis 1000 Euro bezahlt ein Flüchtling, der von Südungarn nach Wien will. Allerdings ist auch das Risiko hoch. Wer in Ungarn ertappt wird, dem droht, in Schnellverfahren zu drei oder vier Jahren Gefängnis verurteilt zu werden.

Am Rand von Kisszekso stehen kleine Autos, in denen Frauen mit dem Handy am Ohr sitzen. Ein Mann in einem alten Audi bringt die Flüchtlinge, dann geht alles blitzschnell. Die Fahrzeuge bilden einen Konvoi und rasen im Höllentempo die Asphaltstraße entlang, bis sie irgendwann im Landesinneren. verschwinden.

Die Westbalkan-Route

Der Weg über den Balkan hat das inzwischen verstärkt kontrollierte Mittelmeer als wichtigste Route für Flüchtlinge abgelöst. Die meisten Menschen machen sich nun von Griechenland aus über Mazedonien und Serbien auf den Weg in das EU-Land Ungarn. Im Schnellverfahren ließ dessen Premier Viktor Orbán deshalb den Bau eines Zauns in Auftrag geben, dessen erste Linie am 31. August fertiggestellt sein soll. Griechenland machte seine Grenze zur Türkei 2012 dicht, was den Einwanderungsstrom zur bulgarischen Grenze verschoben hat. Darauf beschloss Bulgarien vergangenen Jänner, seine Grenze ebenfalls abzuriegeln. Seither kommen die Menschen meist über den Seeweg nach Griechenland. Mazedonien hat kürzlich vor dem Ansturm von Flüchtlingen kapituliert und sieht nun Straffreiheit bei illegalem Grenzübertritt vor, wenn Flüchtlinge binnen drei Tagen weiterreisen - was sie dazu drängt, möglichst schnell das zu tun, was sie ohnehin vorhaben: nach Norden weiterzuziehen.