Steven Pinker: "Kein Grund zur Panik - wir stehen nicht knapp vor dem Faschismus"
Interview: Tessa Szyszkowitz, London
profil: Schlechte Nachrichten, Professor Pinker: Die Lebenserwartung stagniert in Großbritannien in diesem Jahr. Wird doch nicht alles besser? Pinker: Wenn immer alles besser werden würde, dann hätten wir es nicht mit Fortschritt, sondern mit Zauberei zu tun. Es gibt keine Kraft, die Weiterentwicklung garantiert. Ja, es stimmt: Nicht nur in Großbritannien, auch in den USA hat sich die Lebenserwartung verringert - in unserem Fall wegen der Opoid-Krise.
profil: Rezeptpflichtige chemische Drogen führen in Amerika zu Sucht und Tod. Zwei Drittel aller Drogentoten sterben an Opoiden. Halten Sie dieses Phänomen für eine vorübergehende Delle in der Fortschrittskurve? Pinker: Der allgemeine Trend geht in Richtung Verbesserung. Vor 15 Jahren schrieb ich ein Buch -"Das unbeschriebene Blatt" -, in dem ich argumentierte, dass es eine menschliche Natur gibt, die auch eine dunkle Seite hat. Und dass wir deshalb nie in der Utopie leben werden, die wir uns ausmalen. Allerdings stellte ich bei der Recherche auch fest, dass die Gewalt beständig abnimmt. Diesen Trend habe ich in meinem darauffolgenden Buch "Gewalt" analysiert. "Aufklärung jetzt" habe ich geschrieben, weil es nicht nur mit der Gewalt so ist. Auch Armut, Krankheiten und Hunger gehen zurück. Das glaubt man zwar nicht, wenn man Nachrichten sieht -solange es Morde gibt, wird natürlich darüber berichtet. Doch wenn man Daten auswertet, dann verändert sich die Sichtweise.
profil: Der Zeitgeist scheint eher von dystopischen Ängsten und dem Zorn gegen Eliten und Experten erfüllt zu sein. War es Zufall, dass Sie gerade jetzt über die Vorzüge der Aufklärung schreiben, wo ihr der Wind ins Gesicht bläst? Pinker: Eine Art Unfall ist mein Buch schon, das stimmt. Die Wahl von Donald Trump stellt sicherlich einen Rückschritt für den Fortschritt dar. Trump hat keinen Respekt für internationale Organisationen, für demokratische Institutionen und für den Versuch, das Klima zu schützen. Und für den freien Handel auch nicht. Das ist beunruhigend. Wir sollten aber auch wissen, dass Fortschritt dann möglich wird, wenn Leute sich um bisherige Errungenschaften sorgen. Die jetzige Lage ist meiner Meinung nach kein Grund zur Panik. Wir stehen nicht knapp vor dem Faschismus.
Trump ist nicht die einzige Kraft in der amerikanischen Gesellschaft.
profil: Faschismus ist aber auch ein großes Wort. Pinker: Der jetzige US-Präsident vertritt Meinungen, die an den Faschismus erinnern. Das muss uns beunruhigen. Doch Trump ist nicht die einzige Kraft in der amerikanischen Gesellschaft. Wir haben ein System von "Checks and Balances", das bisher gehalten hat. Es gibt eine starke und breit gefächerte Reaktion auf seine Politik. Und seine Fans werden alt und sterben sowieso irgendwann. Sie werden von den Millennials ersetzt, die haben ein anderes Weltbild. Trumps Basis wird also allein schon deshalb schrumpfen. Dieser Trend wird noch durch die Urbanisierung verstärkt. Und durch steigende Erziehung. Es gibt also gute Gründe, anzunehmen, dass der Populismus nicht unbedingt die bestimmende Kraft der Zukunft sein wird.
profil: Sind Sie nicht ein bisschen zu optimistisch? Ihr Präsident ist immer noch erstaunlich beliebt bei den Amerikanern. Pinker: Trump kam mit einem tief pessimistischen Narrativ an die Macht. Seine Antrittsrede ist berüchtigt, er sprach von "Gemetzel" und davon, dass die Vereinigten Staaten in Gewalt und Chaos versinken würden. Das stimmt zwar nicht, aber teilweise wurde er wegen dieser Sichtweise gewählt. Uns bleibt gar nichts anderes übrig: Wir müssen mit Fakten dagegenhalten.
profil: Sie stellen fest, dass Ungleichheit in der Gesellschaft nicht unbedingt etwas Schlechtes bedeutet. Angesichts der Tatsache, dass es ein Prozent Superreiche in Amerika gibt und ein Drittel Ihrer Landsleute an oder jenseits der Armutsgrenze lebt, müssen Sie uns das bitte erklären. Pinker: Wenn ein Land aus der Armut geholt wird, dann steigt auch die Ungleichheit. Der Prozess ist also eher positiv. Um Armut zu bekämpfen, sollte man zudem nicht auf Ungleichheit schauen, sondern auf das Wohlergehen der Menschen. Das Problem ist ja nicht, dass arme Leute es sich nicht leisten können, zum Arzt zu gehen, und reiche Leute schon. Das Problem ist, dass arme Leute nicht zum Arzt gehen können, um gesund zu werden. Wir müssen den Fokus auf das Wohlergehen legen, die Menschen aufklären und Lösungen auf Basis von Fakten erarbeiten.
profil: Es scheint aber, dass die Leute die Wahrheit gar nicht schätzen. Sie werden gerne belogen, wie nicht nur die Wahl von Trump, sondern auch die Entscheidung zum Brexit in Großbritannien oder die Wahlsiege der Populisten in Europa zeigen. Pinker: Es ist nicht so, dass die Leute die Wahrheit nicht schätzen. Sie stufen aber Stammesloyalität oft höher ein als die Wahrheit. Sie wollen eine Version der Wahrheit glauben, die ihren Clan als tugendhaft und mächtig darstellt und die anderen als schwach, dumm und böse. Das ist in der Geschichte nichts Neues. Bei gewissen Alltagsfragen halten sich viele Menschen genau an die Fakten, etwa, wenn ein Kind krank ist und Medizin braucht oder ein Auto kaputt ist und zur Werkstätte gebracht werden muss. In der Politik ist es schwieriger, da wird durch die Komplexität der Materie der Irrationalität Tür und Tor geöffnet. Wer hat schon die Zeit, neben seinem Job Gesetzestexte oder Zollregime genau zu analysieren? Wir brauchen eine Politik, die der Versuchung von Mythologisierung und Stammesdenken widersteht.
Wir müssen uns einfach gegen die Fake News stellen.
profil: Das scheint zur Zeit eine große Aufgabe zu sein. Die Leute leben in ihren Blasen, und Trumps Wähler sehen Fox News und fühlen sich immer wieder in ihrer Weltsicht bestätigt. Pinker: Ich bin auch schon mehrfach bei Fox News aufgetreten - vielleicht nicht in den größten Sendungen, aber doch. Es ist alarmierend, wie tendenziös dort berichtet wird, aber es gibt immer noch eine Mehrheit, die CNN und andere große Stationen ansieht und "USA Today", das "Wall Street Journal" und die "New York Times" liest. Wir müssen uns einfach gegen die Fake News stellen. Egal ob sie in Mazedonien oder in Amerika produziert werden.
profil: Sie beschreiben in Ihrem Buch, was seit der Aufklärung passiert ist: Durch 3D-Drucker etwa kann jeder Heimwerker heute zum Hightech-Unternehmer werden. Er kann aber auch Waffen drucken und zum Mörder werden. Auch die sozialen Medien wie Facebook sind ein zweischneidiges Schwert. Wie können Sie sicher sein, dass uns dieser Fortschritt nur Gutes bringt? Pinker: Ich möchte unsere heutige Lage mit jener nach der Erfindung des Buchdrucks vergleichen. Damals tauchten sofort gefälschte Bibeln auf, Raubkopien wurden hergestellt. Es dauerte eine Weile, bis sich das beruhigte und sich das Vertrauen in einige glaubwürdige Institutionen herauskristallisierte. Mit den sozialen Medien heute geht es uns auch so: Wir müssen Normen entwickeln - ich meine damit nicht Regierungskontrolle, aber Benimmregeln, die Genauigkeit und Verantwortung fördern.
profil: Sie scheinen ja große Sympathien für Techno-Philantropen zu haben, wie Sie sie nennen. Sie meinen damit wohl weniger Facebook-Boss Mark Zuckerberg als Microsoft-Gründer Bill Gates. Er ist ein erklärter Fan Ihrer Bücher und versucht mit seiner Stiftung, die großen Probleme der Welt zu lösen: Aids in Afrika zum Beispiel. Wenn wir uns auf Wohltäter verlassen, besteht dann nicht die Gefahr, dass wir abhängig von ihrer Lust und ihren Launen werden? Diese Einzelpersonen sind unter Umständen mächtiger als manche Regierung. Pinker: Mark Zuckerberg wurde sehr demütig, als er vor dem US-Kongress aussagen musste. Ich hoffe, dass sein Neujahrvorsatz "Fix Facebook" ernsthaft ist und dazu führt, dass die Einmischung in Wahlen nicht mehr möglich wird. Wenn Sie sich aber solche Sorgen machen, dass private Individuen solche Macht haben, frage ich mal zurück: Wollen Sie wirklich, dass ein Präsident wie Donald Trump Facebook kontrolliert?
profil: Ist es nicht ein Alarmzeichen für den Zustand unserer Demokratien, wenn wir unseren Repräsentanten mit solcher Vorsicht begegnen und den Staat nicht mehr für vertrauenswürdig halten? Pinker: Es ist schon beunruhigend, dass es Trump völlig an Verständnis dafür fehlt, was kritische Medien eigentlich sind. Frühere Präsidenten haben auch unter schlechter Presse gelitten. Aber sie haben verstanden, dass es hier ein Konzept gibt, dass Medien nicht dafür da sind, dem Präsidenten zu schmeicheln, sondern ihn mit kritischer Berichterstattung zu kontrollieren. Trump kapiert nicht, dass eine Regierung, die ihre kritischen Medien dämonisiert, ein Problem hat.
profil: In Österreich hat auch gerade das Innenministerium die Polizei angewiesen, kritische Medien nur mehr mit den nötigsten Informationen zu versorgen. Wir schreiben 2018, und noch immer gibt es selbst in einer europäischen Demokratie wie Österreich kein Verständnis dafür, dass kritische Medien nicht schlecht, sondern gut für Demokratien sind. Pinker: Das kommt mir seltsam vor: Brave Medien belohnen und mit Informationen zu versorgen, heißt doch, dass die Öffentlichkeit immer noch erfährt, was los ist.
Schlimmer wäre es, wenn man kritische Journalisten gleich einsperrt.
profil: Sie meinen, es ist ein halbherziger Versuch, die Medien an die Kandare zu nehmen? Pinker: Ja. Schlimmer wäre es, wenn man kritische Journalisten gleich einsperrt. Medienkompetenz sollte jedenfalls Teil der Bildung ab der Volksschule sein. Und zwar sowohl für jene, die Nachrichten produzieren, als auch für die, die sie konsumieren. Wir brauchen Normen, die zur Genauigkeit anhalten und von Verschwörungstheorien wegführen.
profil: Nicht nur in Amerika werden demokratische Institutionen infrage gestellt, auch in europäischen Staaten wie Polen oder Ungarn und in Russland und der Türkei. Pinker: Das ist in der Tat bedrohlich. Wäre ich heute polnischer Bürger und meine Familie nicht in den 1920er-Jahren aus Polen nach Amerika ausgewandert, würde ich mir noch mehr Sorgen machen. Aber überlegen Sie: In den 1970er-Jahren war halb Europa unter sowjetischer Herrschaft. Spanien hatte einen faschistischen Diktator und Griechenland eine Militärjunta. Fast ganz Lateinamerika, Südkorea, Taiwan, die Philippinen und Indonesien wurden undemokratisch regiert. Und heute? Lauter Demokratien. Wegen illiberaler Tendenzen in ein paar Ländern davon zu sprechen, dass die Demokratie dem Untergang geweiht ist, halte ich für übertriebene Panikmache. Es widerspricht den Fakten, jetzt gleich einen Nachruf auf die Demokratie zu schreiben.
Steven Pinker, 64, unterrichtet Psychologie in Harvard und glaubt an den Fortschritt in der Welt. Nicht, weil das so schön ist, sondern weil er seit Jahren Zahlen und Statistiken auswertet, die dies belegen. "Seit Beginn der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts ist die Lebenserwartung weltweit von 30 auf 71 Jahre gestiegen, in den wohlhabenderen Ländern auf 81", heißt es in seinem Buch "Aufklärung jetzt -für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung", das diese Woche bei S. Fischer auf Deutsch erscheint. Und weiter: "Die Menschen werden nicht nur gesünder, reicher und sicherer, sondern auch freier. Vor 200 Jahren waren nur eine Handvoll Staaten, in denen ein Prozent der Weltbevölkerung lebte, demokratisch; heute sind es zwei Drittel der Länder der Welt, in denen zwei Drittel der Weltbevölkerung leben." Die Wahl von Donald Trump hat den Harvard-Professor kalt erwischt: "Wie sollte man im Angesicht dieser Tragödie ein Buch über Fortschritt schreiben?", fragte er sich. Doch seine Frau Rebecca Goldstein schickte ihn in den Kampf: Sein Buch würde jetzt mehr denn je gebraucht. Sie behielt recht. Im Zeitalter von Angst und Zorn, der sich gegen Experten und Eliten richtet, ist "Aufklärung jetzt" ein wuchtig mit Zahlen, Daten und Fakten untermauertes wissenschaftliches Bollwerk gegen die postfaktische Gesellschaft à la Trump geworden. Und ein Bestseller. "Was immer es für den Buchverkauf bedeutet", meint Steven Pinker, der profil diese Woche in London zum Interview traf: "Ich hätte lieber eine Welt ohne Trump."
Steven Pinker: "Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung" S. Fischer Verlag 2018,736 Seiten, 26,80 Euro