Syrien: Der Vater lag tot vor dem Haus

Von Robert Treichler
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Der 45 Jahre alte Mann am Telefon hat Angst, mit seinem richtigen Namen und dem seines Wohnortes in einer Zeitung genannt zu werden. Er wählt als Pseudonym „Mohammed“ und erzählt dann, was in den vergangenen Tagen in seinem Dorf und in anderen Teilen des syrischen Gouvernements Latakia geschehen ist. Für Mohammed ist es eine persönliche Tragödie, für sein Dorf eine tiefe Wunde, aber was bedeutet es für Syrien?
Am Donnerstag der vergangenen Woche tauchen in Mohammeds Dorf Fahrzeuge auf, in denen bärtige, bewaffnete Männer in Zivilkleidung sitzen. Die Bewohner wissen, um wen es sich handelt: Islamisten, die nur wenige Kilometer entfernt leben. Mohammed bezeichnet sie nur als „die Gruppe“, und er sagt, diese stehe mit dem Regime des neuen syrischen Machthabers Ahmed al-Scharaa in Verbindung.
Es ist ein Überfall. Die Männer des Dorfes flüchten in die nahe gelegenen Wälder. Frauen, Kinder und Alte bleiben zurück. Ihnen werde nichts zustoßen, so die Hoffnung.
Bald ist der Lärm von Schüssen zu hören. Die Männer harren bis in die frühen Morgenstunden des Freitags im Wald aus. Dann beobachten sie, wie die Autos der Islamisten das Dorf verlassen. Die Bewohner ahnen, dass die Bewaffneten nach Hause fahren, um ihre Gebete zu verrichten.
Es ist vier Uhr früh, und im Dorf bietet sich ein Bild des Schreckens. Die Islamisten haben den alten Männern befohlen, aus den Häusern zu kommen. Dann richteten sie sie mit Kopfschüssen hin. Einer der Toten war 99 Jahre alt. Auch Mohammeds Vater, 75, liegt tot vor seinem Haus. Ein paar Frauen, die sich nach draußen wagten, wurden ebenfalls erschossen. Häuser sind geplündert, Schmuck, Lebensmittel, Autos, alles haben die Islamisten mitgenommen.
Die Dorfbewohner fürchten, dass die Täter zurückkehren, und verstecken sich wieder im Wald. Noch am Freitag tauchen die Fahrzeuge erneut im Dorf auf. Die Islamisten setzen die Plünderungen fort. Dann rückt die Polizei an, die dem neuen Regime untersteht. Mohammed sagt, die Sicherheitskräfte hätten die Islamisten aufgefordert, das Dorf zu verlassen, doch diese ignorierten den Befehl. Als drei Dorfbewohner im Gemeindeamt Brot holen wollen, weil es in den Häusern nichts mehr zu essen gibt, erschießen die Islamisten alle drei vor den Augen der Polizei. Mohammed sagt, die Sicherheitskräfte hätten nicht reagiert und die Täter gewähren lassen.
Checkpoints um das Dorf
Das Telefonat mit Mohammed findet am Dienstag statt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Islamisten bereits weg, aber die Polizei hat Checkpoints errichtet, und niemand darf das Dorf verlassen. Mohammed ist verzweifelt. In der 4000-Einwohner-Kommune kennt jeder jeden. Sie zählen 35 Tote, darunter fünf Frauen. Im Nachbardorf sind es 50 Tote. Mohammed zählt Orte auf, in denen er von Massakern weiß: Sharifa, Muzayraa, Dschabla, Baniyas, Barmaia (siehe Karte). Er sendet über die Kurznachrichtenplattform WhatsApp Fotos und Videos. Sie zeigen Leichen, die mit Kopfschüssen in Blutlachen liegen. Die meisten sind alte Männer, auch eine Frau ist darunter. Dazu Fotos von leer geräumten Häusern und Läden.
Am Mittwoch gibt Mohammed Bescheid, dass er sein Dorf endlich verlassen konnte. Seine Schilderungen des Massakers decken sich mit denen anderer Menschen in der Region, die Ähnliches erlebt haben. Was war der Grund für diese Verbrechen?
Am selben Tag, als die Islamisten die Dörfer überfielen, hatten Sympathisanten des Regimes des Ende 2024 gestürzten Machthabers Baschar al-Assad südlich von Latakia Sicherheitskräfte des neuen Interims-Präsidenten Ahmed al-Scharaa angegriffen und mindestens 13 von ihnen getötet. Die Aufständischen rekrutierten sich überwiegend aus der religiösen Minderheit der Alawiten, der auch Ex-Diktator al-Assad angehört. Die neue Führung hingegen, das Bündnis Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS), ist sunnitisch-islamistisch geprägt.
Die beiden Seiten lieferten einander ein Gefecht, und die Soldaten des neuen Regimes gewannen rasch die Oberhand. Doch islamistische Gruppen wie jene, die Mohammeds Dorf überfiel, nutzten das Chaos, um Rache an den Alawiten zu üben, die in der Region von Latakia leben. Mohammed, selbst Alawit, sagt, unter den Bewaffneten, die in den Dörfern der Gegend wüteten, seien neben Syrern auch Tschetschenen, Uiguren, Turkmenen und Usbeken gewesen. Die Dorfbewohner hatten mit dem Aufstand gegen die Regierung nichts zu tun, sagt Mohammed. Er beschuldigt die neue Staatsführung, die Massaker geduldet zu haben. 1380 Zivilisten sind laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die ihren Sitz in London hat, getötet worden.
Die internationale Öffentlichkeit blickt mit Entsetzen nach Syrien. Folgt auf den 14 Jahre langen Bürgerkrieg, den auch etliche ausländische Mächte befeuerten, jetzt ein islamistischer Staat, in dem ungestraft Verbrechen an Andersgläubigen begangen werden können? Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union setzten im Februar eine Reihe von Sanktionen aus, die während der Herrschaft von al-Assad gegen Syrien verhängt worden waren – in der Hoffnung, dass das neue Regime einen stabilen Rechtsstaat etabliert, in dem die Menschenrechte eingehalten werden.
Die Massaker der vergangenen Woche ließen diese Träume platzen. Oder hat Syrien doch noch eine Chance?
Interims-Präsident Ahmed al-Scharaa wusste zumindest, was von ihm in dieser Situation erwartet wird. Er rief öffentlich zu „Frieden“ auf, forderte von seinen Soldaten, „Übergriffe zu vermeiden“, und versprach, dass die Täter vor Gericht gestellt würden. Auf al-Scharaa, dem ehemaligen islamistischen Fundamentalisten, der sich jetzt als Verfechter der Versöhnung präsentiert, ruhen die Erwartungen Europas. Diese sind nicht ganz uneigennützig, denn ein funktionierender syrischer Staat könnte das Flüchtlingsproblem der EU deutlich lindern.
Leichtgläubigkeit gegenüber al-Scharaa wäre allerdings fatal. Wenn er nicht beweist, dass es ihm mit der Strafverfolgung von Terroristen und dem Schutz von Minderheiten ernst ist, kann die EU ihn nicht länger stützen.
Ein Abkommen mit den Kurden
Ein zweites Ereignis in Syrien zeigte vergangene Woche, dass al-Scharaa willens ist, Konsens zu finden. Unmittelbar nach den Gräueltaten schloss er mit Mazlum Abdi, dem kurdischen Oberkommandeur des Militärbündnisses der Demokratischen Kräfte Syriens, ein Abkommen zur Integration der kurdischen Institutionen in den syrischen Staat. Das wurde von Beobachtern als glaubhaftes Zeichen für den Wunsch nach Aussöhnung gewertet. „Einen Schritt vorwärts“ attestierte etwa Gudrun Harrer, die Nahost-Expertin des „Standard“, Interims-Präsident al-Scharaa.
Der Alawit Mohammed hingegen, der eben bei dem Massaker seinen Vater verloren hat, traut al-Scharaas Regime nicht über den Weg. Doch Führer und Intellektuelle der alawitischen Minderheit riefen vergangene Woche zur Besonnenheit auf und distanzierten sich von Assad-treuen Milizen. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ zitierte Samy Oussama Soufy, einen Universitätsprofessor in Latakia, der zur friedlichen Koexistenz mahnte: „Das Volk von Latakia ist geeint. Hier leben Sunniten, Christen und Alawiten im selben Gebäude.“
Alle – Alawiten ebenso wie Kurden, das neue syrische Regime, die Europäische Union und nicht zuletzt Ahmed al-Scharaa selbst – profitieren davon, wenn es der syrischen Führung gelingt, radikale Islamisten an der Umsetzung ihrer zerstörerischen Ideologie zu hindern.
Die internationale Gemeinschaft glaubt noch daran. Am Montag reiste Niels Annen, parlamentarischer Staatssekretär der deutschen Bundesregierung, zu einem Treffen mit dem syrischen Außenminister Asaad Hassan al-Schaibani in die syrische Hauptstadt Damaskus. Dort verurteilte er die Massaker, verlangte, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden, und er machte den Zweck der Reise klar: „Die Syrerinnen und Syrer wünschen sich Frieden und Stabilität. In meinen Gesprächen ging es darum, wie Deutschland dabei unterstützen kann.“
Viele Menschen wurden grausam ermordet, doch Syriens Chance lebt.

Robert Treichler
Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur