"Das größte humanitäre Desaster des 21. Jahrhunderts"
Aisha Abdullah ist müde. Die 25-Jährige hat noch nicht gefrühstückt. Seit ihr Mann schwer verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt ist, muss die Lehrerin ihn und ihren gemeinsamen Sohn mit dem kleinen Gehalt von einer Schule in Raqqa über Wasser halten. Bald wird das Geld wohl noch knapper: Aisha Abdullah ist im sechsten Monat schwanger.
Zwar wurde die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) vor zwei Jahren aus der 200.000-Einwohner-Stadt vertrieben. Auf einem Platz, auf dem Dschihadisten Menschen köpften, steht nun in bunten Großbuchstaben "I love Raqqa" - das Wort "lieben" wird durch ein rotes Herz symbolisiert, wie in der Tourismuswerbung aus dem Westen. Die ehemalige IS-Hauptstadt will sich ein neues Image verpassen, doch liegt sie großteils noch in Trümmern. Den Menschen, die in ihnen leben, geht es wie Aisha Abdullah: Sie sind müde.
"Ich habe nicht mehr Kraft, die nächste Katastrophe auszuhalten, die auf uns wartet", sagt die arabischstämmige Abdullah. "Seit sie die Terroristen vertrieben haben, regieren die Kurden unsere Stadt. Aber das passt vielen Arabern nicht. Sie begehren auf. Und in dem Chaos gewinnen wieder Anhänger der Dschihadisten an Boden. Alles geht von vorn los. Ich traue niemandem mehr."
Aisha Abdullah hat Angst, dass der Konflikt in Syrien nicht vorbei ist, sondern sich im Kreis dreht. Zwar wurde der Krieg in vielen Regionen praktisch beendet. Doch der Wiederaufbau hat noch nicht begonnen, ein Plan ist kaum erkennbar. Die Brisanz der Situation haben auch die Kriegsparteien und ihre jeweiligen Unterstützer im Ausland erkannt. Für Mitte September ist ein Gipfeltreffen zwischen Russland, dem Iran und der Türkei anberaumt. Das Ziel: Der Krieg soll nach neun Jahren ein für alle Mal enden. Die Syrer sollen ein 150-köpfiges Komitee gründen, paritätisch aufgeteilt zwischen Regierung, Opposition und Zivilbevölkerung. Dieses Gremium soll sich auf eine neue Verfassung einigen, die einem Referendum der Bevölkerung vorgelegt wird und im Idealfall die Grundlage für faire Wahlen bilden kann. Doch es es gibt viele Unwägbarkeiten, an denen der Prozess jederzeit scheitern kann. profil analysiert vier Probleme, die einem Frieden und Wiederaufbau in Syrien im Weg stehen.
1. Die Schlacht um Idlib
In der Provinz im Nordwesten des Landes haben sich jene versammelt, die noch immer gegen das Regime von Baschar Al-Assad kämpfen. Die Lage spitzt sich zu. Luftschläge der syrischen Armee und ihrer russischen Verbündeten sollen die Milizen zum Aufgeben zwingen. Mittendrin: rund drei Millionen Zivilisten, die Hälfte von ihnen Kinder.
"Der Kampf um Idlib droht das größte humanitäre Desaster des 21. Jahrhunderts zu werden", warnte Mark Lowcock, der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, bereits im Juli. 17 Dörfer sind während der vergangenen Monate völlig zerstört worden. 112 Mal wurde allein in diesem Jahr direkt auf Spitäler gezielt, 800 Menschen starben.
Die Schlacht um Idlib könnte eine der härtesten des gesamten Krieges werden: Das Regime selbst hatte einst seine erbittertsten Gegner samt ihrer Familien in Bussen hierher gebracht und damit den radikalen Islamisten, die sich unter keinen Umständen ergeben wollten. Nun Kampf vertagt. Insgesamt 50.000 Soldaten sollen sich in der Region befinden, die so groß ist wie Kärnten. Unter ihnen die könnte ihre letzte große Schlacht begonnen haben.
Bereits im Herbst des Vorjahres drohte eine schwere Eskalation, aber es gelang durch Verhandlungen zwischen Russland und der Türkei, einen Waffenstillstand zu vereinbaren. Damals versprach die türkische Führung, dafür zu sorgen, dass sämtliche Extremistengruppen aus Idlib abziehen. Die Vereinbarung hielt nicht, im April begannen die Kämpfe erneut. Derzeit konzentrieren sich die Angriffe des syrischen Regimes auf den Süden der Provinz, wo zwei zentrale Verkehrsadern des Landes verlaufen.
Sollte sich das Regime nicht mit der Kontrolle des strategisch wichtigen Südens zufriedengeben, droht nicht nur eine dramatische humanitäre Krise, sondern auch eine neue Fluchtwelle. 450.000 Menschen flohen bereits weiter in den Norden, an die Grenze zur Türkei, wo riesige Lager entstanden sind. Erreichen die Kämpfe auch diese Region, könnten laut Schätzungen von UN-Beobachtern bis zu zwei Millionen Menschen versuchen, in die Türkei zu fliehen. Dort hat sich aufgrund eines Wirtschaftseinbruches die ursprünglich gute Stimmung gegenüber den syrischen Flüchtlingen zusehends verschlechtert.
2. Der Kurdenkonflikt
In Syrien ist eine Art Protektorat entstanden. Die türkische Armee hat 14.000 syrische Kämpfer aufgenommen, die früher zum Bündnis der "Freien Syrischen Armee" gehörten. Sie kontrollieren auf Geheiß Ankaras das Umland Aleppos und die kurdische Provinz Afrin, die von der Türkei im Jänner des Vorjahres erobert wurde. Die Türkei kümmert sich dort um Infrastruktur, Elektrizität oder den Bau und Betrieb von Spitälern. Syriens Regime zeigte bislang wenig Interesse an dem marginalisierten und verarmten Gebiet.
Nicht alle betrachten das Engagement der Türkei unter ihrem autokratisch regierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan so indifferent; vor allem die Kurden geraten weiter unter Druck. Vergangenes Wochenende drohte Erdoğan in einer Fernsehansprache mit einer sofortigen Invasion entlang der gesamten 600 Kilometer langen Grenze von Aleppo bis zum Irak. Dort patrouillieren stellenweise kurdische Milizen, die "Volksbefreiungseinheiten" (YPG). Diese sind wiederum eng mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK verflochten, die in der Türkei bereits zahlreiche Terroranschläge verübt hat und einen Kurdenstaat fordert.
Zwischen Türken und Kurden herrschte in Syrien bislang ein fragiles Polit-Provisorium: Die Kurden kontrollieren im Verbund mit einigen arabischen Milizen den Großteil jenes Gebietes in Syrien, das zuvor der IS gehalten hatte -immerhin ein Drittel des Landes. Die Türken fühlen sich durch die starke kurdische Präsenz zwar provoziert, doch der NATO-Partner USA unterstützte die kampfkräftigen Kurden und beschützte sie: Rund 2000 Militär-Ausbildner waren seit 2015 in Nordsyrien stationiert. Doch Washington sprengte das sensible Arrangement vergangenen Dezember: US-Präsident Donald Trump zog überraschend alle US-Soldaten aus Nordsyrien ab, die Kurden verloren damit ihren Schutz. Bereits im Jänner deutete Erdoğan an, die kurdischen Milizen vertreiben zu wollen. Entlang der syrischen Nordgrenze soll auf Wunsch der Türkei eine Schutzzone entstehen, aus der die kurdischen Milizen abziehen. Laut Erdoğan soll diese 35 Kilometer breit werden; die Kurden wollen jedoch nicht mehr als fünf Kilometer erlauben und fordern neutrale Beobachter. Trump bat die EU-Staaten bereits im Juli, sich an der Beobachtermission zu beteiligen. Bislang lehnten die Europäer ab.
3. Comeback des IS
Überall in Nordsyrien formieren sich untergetauchte IS-Kämpfer neu. Wie dramatisch die Lage ist, illustriert ein eben erschienener Bericht des Generalinspektors des US-Verteidigungsministeriums: Danach gibt es Tausende "IS"-Schläferzellen, die schnell wieder aktiv werden können. Schuld daran sei der vorzeitige Abzug der US-Soldaten.
Die Folgen sind bereits spürbar: Seit Anfang Juni erschütterten Dutzende Selbstmordattentate von IS-Terroristen die Region. Fast täglich rücken kurdische Milizen aus, um Waffenverstecke zu heben oder Terror-Anhänger zu verhaften. Den IS in Schach zu halten, bringt die Kurden schon jetzt an den Rand ihrer Kapazität. Doch sie erledigen noch eine andere, überaus heikle Aufgabe: Sie müssen Tausende internationale Dschihadisten und deren Familien bewachen. 2000 ausländische IS-Kämpfer sind in kurdischen Gebieten inhaftiert, 12.500 Frauen und Kinder aus dem ehemaligen IS befinden sich in Vertriebenenlagern.
Die Kurden sind sich ihrer misslichen Lage bewusst. "Wenn die Türkei unsere Gebiete angreift, wird ein zweiter syrischer Bürgerkrieg beginnen. Und wenn es zu diesem Konflikt kommt, müssen wir uns aus weiten Gebieten zurückziehen, die wir vom 'Islamischen Staat' erobert haben", sagte der kurdische Miliz-Kommandant Mazloum Kobanî vor Kurzem. Dazu zählen auch Raqqa und die Provinz Deir ez-Zor, die nach wie vor als Rückzugsort der Dschihadisten gilt. "Eines muss allen klar sein: Wir können unmöglich gleichzeitig gegen die Türkei kämpfen und die ausländischen IS-Leute bewachen", pflichtete der führende kurdische Politiker Aldar Xelil dem Kommandanten bei.
Die EU und ihre Mitglieder könnten hier gleich doppelt helfen: zum einen, indem sie sich zur Beobachtermission im kurdischen Gebiet durchringen, um einen offenen Krieg zwischen der Türkei und den kurdischen Milizen zu verhindern; zum anderen, indem sie die europäischen Staatsbürger unter den IS-Kämpfern zurückholen, um sie vor europäische Gerichte zu stellen und so die überforderten kurdischen Gefängniswächter zu entlasten.
4. Die Assad-Frage
Selbst wenn alle anderen Konflikte in Syrien sich wie durch ein Wunder friedlich lösen lassen, bleibt noch das Problem, mit dem alles begann: Baschar Al-Assad und sein Regime.
Der syrische Autokrat hat die Devise ausgegeben, jeden Zentimeter Syriens zurückerobern zu wollen. Diese Ansage passt genauso wenig zu einer quasi autonomen Kurdenregion wie zu einer international kontrollierten Schutzzone oder türkischen Protektoraten. "Assad oder wir verbrennen das Land", lautete der Schlachtruf seiner Anhänger in den vergangenen neun Jahren . Vom Beginn der ersten Protestmärsche im Jahr 2011 bis zur derzeit laufenden Offensive gegen Idlib setzte Assad auf brachiale Gewalt. Die Folge: Rund 500.000 Menschen starben in dem Konflikt, die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht. Wie kann eine Lösung für ein Land aussehen, das von seinem Präsidenten und seinem kleptokratischen Regime in einen Krieg getrieben wurde, um Straßenproteste abzuwürgen?
Diese Frage wird maßgeblich vom wichtigsten Verbündeten Assads beantwortet: dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ohne den Sanktus Russlands kann der syrische Präsident nicht regieren. Offiziell kontrolliert Assad zwar wieder zwei Drittel des Landes, doch das verdankt er Russland, das im Jahr 2015 nach dem zweiten Assad-Verbündeten Iran in den Krieg eingriff und bei der Rückeroberung half. Russische Sicherheitskräfte kontrollieren bis heute die eroberten Rebellengebiete, das Umland von Damaskus und Teile Aleppos. "Assads Leute dürfen diese Gebiete ohne die Erlaubnis der Russen nicht einmal betreten", sagt der Syrien-Experte Haid Haid, der für den britischen Thinktank Chatham House arbeitet.
Assads Rückhalt in bislang loyalen Teilen der Bevölkerung wird immer schwächer. Einige Syrer hielten zähneknirschend zum Diktator, weil sie noch mehr Angst vor den Dschihadisten hatten. Dieser Effekt lässt nun nach. Denn die wirtschaftliche Lage ist katastrophal: 90 Prozent der Syrer sind verarmt, 13 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen, um überleben zu können. In vielen Gebieten haben 50 Prozent der Menschen keinen Job.
Selbst in Regionen, die nie Schauplatz heftiger Kämpfe wurden, herrscht bittere Not. Treibstoff ist Mangelware, was die Lebensmittel massiv verteuert: Laut UN- Schätzungen kosten Brot, Fleisch und Gemüse acht Mal so viel wie im Jahr 2011. Oft lassen sich nur auf dem Schwarzmarkt Güter des täglichen Bedarfs finden. Schmugglerbanden sind die einzigen echten Gewinner des Syrienkrieges. Zu ihnen gehören auch paramilitärische Einheiten, die aufseiten des Regimes kämpfen und das Geschäft kontrollieren. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Macht können sie an sich reißen.
Im Vorjahr errechnete das syrische Regime, dass es 400 Milliarden Euro kosten werde, das Land wieder aufzubauen. Weder Assad noch seine Freunde in der syrischen Elite noch seine gut bewaffneten Verbündeten Iran und Russland gaben bislang bekannt, wie diese Summe aufzubringen sein könnte.