Überlebender von Assad-Terror: „Zum Abschied eine letzte ,Folterparty‘“
Spricht Omar al-Shaar von seiner Zeit in den Folterkellern des Assad-Regimes, sagt er einen Satz immer wieder: „Ich habe nicht so sehr gelitten wie viele andere.“ Man sollte al-Shaar nicht falsch verstehen. In den rund zwölf Monaten, die er in unterschiedlichen Gefängnissen in Syrien eingesperrt war, wurde er unzählige Male misshandelt. Geschlagen, gefoltert, mit Zigaretten verbrannt. „Doch die Stromschläge blieben mir erspart“, sagt al-Shaar im Gespräch mit profil. Viele andere, darunter Menschen, die er gut kannte, hätten die Grausamkeiten in Gefangenschaft schwer traumatisiert. „Ich habe Narben davongetragen, aber keine Langzeitfolgen“, sagt er.
Omar al-Shaar ist einer von mindestens 160.000 Menschen, die das Regime seit dem Beginn der Proteste im Jahr 2011 verschleppte: Regierungskritiker, Oppositionelle, Journalisten und Menschen, die an friedlichen Demonstrationen teilgenommen hatten. Unzählige wurden hingerichtet oder zu Tode gefoltert, andere waren jahrzehntelang eingesperrt, etliche brachten die Qualen um den Verstand. Mit dem Sturz des Langzeitdiktators Baschar al-Assad vor zwei Wochen wurden die Gefängnisse geöffnet, und die Bilder von den Folterkellern gingen um die Welt: dunkle Gänge und Zellen mit verstümmelten Leichen, Berge von Schuhen, abgemagerte Menschen, darunter Frauen und Kinder. Es gab Berichte über Häftlinge, die ihren eigenen Namen vergessen haben.
Folter um der Folter Willen
Das erste Mal verhaftet wurde Omar al-Shaar am 11. November 2013 in seinem Haus in einem Vorort von Damaskus. Damals arbeitete er als Dolmetscher und Journalist, zum Zeitpunkt seiner Festnahme war er Chefredakteur des englischsprachigen Zweigs von „DP Press News“, einer unabhängigen Nachrichtenplattform. Al Shaars Frau Majdoleen arbeitete als Menschenrechtsanwältin. Bei der Razzia nahmen Geheimdienstmänner alle Computer und Videokameras mit, al-Shaar brachten sie in ein Gebäude des nationalen Sicherheitsbüros.
Dem Regime ging es um Rache.
Wie viele vom Regime verschleppte Menschen berichtet auch al-Shaar von der „Willkommensparty“ nach der Verhaftung: die Internierung beginnt mit Schlägen. Die Geheimdienstler werfen ihm Terrorfinanzierung vor und sperren ihn mit Dutzenden anderen in eine überfüllte Zelle. Immer wieder wird er verhört, seine Augen sind dabei stets verbunden, die Fragen immer die gleichen. Die Männer wollen Namen hören. „Das war Folter um der Folter Willen“, sagt al-Shaar. Um Informationen oder Geständnisse sei es nicht gegangen, sondern um Rache. Zur Zielscheibe geriet al-Shaar nicht nur, weil er als unabhängiger Journalist kritisch berichtet hatte. Zur Sprache kommt auch, dass er als sunnitischer Muslim selbstgebrannten Arak im Haus hat, ein für die Region typischer, ungesüßter Anisschnaps.
Ich habe mich in meinen eigenen Kopf zurückgezogen.
In den zehn Monaten seiner ersten Haft wird Omar al-Shaar von einem Gefängnis ins nächste überstellt. „Mit der ständigen Zirkulation haben sie dafür gesorgt, dass wir uns nicht organisieren können. Sie wollten sicherstellen, dass sich kein Widerstand formiert“, sagt er.
Am schlimmsten seien die vier Tage und Nächte in einer winzigen Zelle gewesen. Zusammen mit zehn weiteren Männern muss er auf gerade einmal einem Quadratmeter ausharren, Singen und Gespräche sind verboten. „Ich habe mich in meinen eigenen Kopf zurückgezogen“, sagt al-Shaar. Eingepfercht und bewegungslos denkt er an alle, die versuchen, etwas für ihn zu tun. An seine Frau Majdoleen, die nach ihm sucht.
links: © privat
rechts: © privat
Omar al-Shaar vor und nach seiner Haft im Jahr 2014.
Im Kopf geht er seine Lieblingsbücher durch, rezitiert Gedichte des palästinensischen Poeten Mahmud Darwisch.
Immer wieder wird al-Shaar verhört. Er soll zugeben, dass er für Terroristen arbeitet. „Am Ende gab es eine letzte ,Folterparty‘, dann haben sie mich freigelassen“, sagt er. Seine Frau holt ihn aus dem Adra-Gefängnis in Damaskus ab. Sie erkennt ihn zuerst nicht wieder, so abgemagert ist er.
Stromschläge, Scheinexekutionen, Foltergeräte
Entführungen, Folter und Mord gehörten während der fünf Jahrzehnte langen Herrschaft des Assad-Clans zum System der Sicherheitskräfte. Beim Aufbau der syrischen Geheimdienste geholfen hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Nazis wie Alois Brunner. Der SS-Mann war einer der engsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns gewesen und damit mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Juden. Brunner floh 1954 nach Syrien, seine praktischen Erfahrungen in der Organisation und Vernichtung von Menschen waren dort höchst willkommen. Nach seiner Enttarnung bildete er Geheimdienstmitarbeiter in Befragungstechniken und Spionageabwehr aus und half bei der Entwicklung neuer Foltertechniken.
Dazu gehörten Stromschläge, Scheinexekutionen und Geräte, mit denen Häftlingen das Rückgrat gebrochen wurde. Bestätigt hat sich zuletzt auch das Gerücht einer Eisenpresse, mit der Menschen zu Tode gequetscht wurden.
Nach dem Sturz Assads machten sich Tausende Menschen auf die Suche nach ihren verschwundenen Eltern, Geschwistern, Kindern und Ehepartnern. Die Hoffnung war groß, in den endlosen Tunneln, Zellen und Kellern des berüchtigten Foltergefängnisses Saidnaja nahe Damaskus Überlebende zu finden.
Berichten zufolge haben Assads Geheimdienste bis unmittelbar vor dessen Flucht Gefangene getötet. Das gesamte Ausmaß des Grauens ist schwer zu fassen, von Tausenden Verschleppten fehlt jede Spur. In Saidnaja gab es ein eigenes Krematorium, vermutet werden auch mehrere Massengräber im ganzen Land. In einem davon nördlich von Damaskus könnten mehr als Hunderttausend Menschen begraben worden sein.
„Sag ihnen, dass ich dich gut behandelt habe“
Am 31. Oktober 2014 wird Omar al-Shaar erneut festgenommen. Er ist mit dem Auto unterwegs vom Libanon, wo er an einer Konferenz der Vereinten Nationen teilgenommen hatte, zurück nach Damaskus, als Grenzbeamte ihn aufhalten und zusammen mit zwei weiteren Personen verhaften. Al-Shaar wird in ein Büro des staatlichen Nachrichtendienstes gebracht – und in den Wochen darauf immer wieder in andere Kerker überstellt.
Laut der Untersuchungsstelle der Vereinten Nationen für Syrien (IIIM), gab es im Syrien des Assad-Regimes mehr als 100 Hafteinrichtungen, hinzu kommen Gefängnisse, Gebäude der Sicherheitsdienste und geheime Kerker, von denen man möglicherweise noch nichts weiß. Die Untersuchungsstelle hat in den vergangenen Jahren rund 283 Terabyte an Daten über Verbrechen durch das Regime seit 2011 gesammelt.
Sie sollen nun dazu beitragen, die Gewaltherrschaft aufzuarbeiten. Robert Petit, Leiter der IIIM, möchte Beweise sichern und dafür mit den neuen Machthabern verhandeln. Er habe auch eine Liste mit Namen möglicher Täter, die teilweise ins Ausland geflohen seien, sagte Petit Anfang der Woche in Genf.
Al-Shaar erinnert sich an eine besonders merkwürdige Begegnung während seiner zweiten Internierung. Außerhalb der Zelle seien den Häftlingen immer die Augen verbunden worden. Doch einmal forderte ihn ein Befehlshaber auf, ihn anzusehen. Al-Shaar erkannte den Mann, einen Christen aus Dar’a. „Du wirst überleben“, habe er gesagt. „Irgendwann kommst du frei, und dann wirst du deine Geschichte erzählen. Sag ihnen, dass ich dich gut behandelt habe.“
Der Mann behält Recht. Am 18. Dezember 2014 kommt al-Shaar schließlich frei, diesmal endgültig.
„Ich will die Stimme der Verschleppten sein“
Den al-Shaars gelingt die Flucht nach Beirut, doch auch dort sind sie nicht sicher. Bald wird die Hisbollah auf ihn aufmerksam, die mächtige Schiiten-Miliz gibt ihm 24 Stunden Zeit, um das Land zu verlassen. Mit einem Schengen-Visum reisen die al-Shaars im Jahr 2016 nach Wien. Es soll zu ihrer neuen Heimat werden.
In Wien trifft al-Shaar auf Menschen, die sich in den Jahren zuvor für seine Freilassung eingesetzt haben. An dieser Stelle der Erzählung stockt ihm erstmals die Stimme. Beim Gespräch mit profil in einem Wiener Caféhaus spricht al-Shaar ohne sichtliche Gefühlsregungen über Folter und Verfolgung, doch nun hat er Tränen in den Augen.
Nach al-Shaars Verhaftung forderte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International seine Freilassung, auch das Büro in Wien setzte sich für ihn ein. Ende 2016 kommt es zu einem Treffen mit Mitgliedern und Mitarbeitern. Es ist ein emotionaler Moment, den Omar al-Shaar nicht vergessen hat. Der Kontakt zur NGO und deren Mitarbeitern besteht bis heute.
In Österreich hat sich Omar al-Shaar gut eingelebt, er arbeitet als Dolmetscher für die Caritas. An eine Rückkehr nach Syrien denkt er nicht. Die Lage sei viel zu unsicher, die Pläne der Islamisten undurchschaubar.
Glaubt er daran, dass es nun, nach dem Sturz des Regimes, so etwas wie Gerechtigkeit in seinem Heimatland geben kann?
„Früher hätte ich diese Frage bejaht“, sagt al-Shaar, „aber heute hoffe ich nur darauf, dass die Schicksale der Gefangenen geklärt werden“. Das sei auch im Sinne der Aufarbeitung und, langfristig, Aussöhnung. Al-Shaar nippt an seinem Tee, seine Stimme hat er wiedergefunden. „Ich will für die Vermissten und Verschleppten sprechen“, sagt er. Nun sei die Chance gekommen, den Angehörigen der Verschwundenen endlich Klarheit zu schenken. Mütter hätten das Recht auf ein Grab für ihre Töchter und Söhne.