Blumen und Kerzen am Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin.

Nach dem Terror in Berlin: Was nun, Deutschland?

Die Terrormiliz "Islamischer Staat" hat ihren ersten größeren Anschlag auf deutschem Boden verübt. Ausgerechnet im Wahljahr müssen die Deutschen auf komplizierte Probleme reagieren.

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Wie konnte es so weit kommen? Waren die Warnzeichen nicht unübersehbar? Die Tragödie nicht eine Frage der Zeit? Warum hat das wieder mal keiner vorhergesehen?

Es ist zweieinhalb Wochen her, dass der 24-jährige Anis Amri mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachtsmarkt raste. Zwölf Menschen starben, 52 wurden verletzt. In einem zuvor aufgenommenen und später veröffentlichten Handyvideo bekannte sich der Tunesier zum selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi und zur Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Damit war es offiziell: Deutschland erlebte nach einigen mehr oder weniger gescheiterten Versuchen den ersten tödlichen IS-Anschlag.

Dass es irgendwann so weit kommen würde, hatten Terrorexperten befürchtet. Der IS hat Deutschland zu einem seiner strategischen Ziele auserkoren: Im Sommer 2016 sprengte sich im bayerischen Ansbach ein 27-jähriger Syrer in die Luft, erwischte aber sonst niemanden. Im nahe gelegenen Würzburg verletzte ein afghanischer Teenager mehrere Zuggäste mit einer Axt. Im Herbst halfen drei syrische Flüchtlinge, einen ebenfalls syrischen IS-Sympathisanten dingfest zu machen, in dessen Chemnitzer Wohnung die Polizei später mehrere hundert Gramm Sprengstoff fand. Dann kam Anis Amri - und mit ihm eine Unzahl an offenen Fragen.

Denn wie schon viele andere dschihadistische Terroristen zuvor war der Mittzwanziger mehreren Behörden kein Unbekannter. In seiner Heimat Tunesien wurde er wegen eines Lkw-Diebstahls verurteilt, dann floh er nach Italien, wo er erst ein Flüchtlingsheim anzündete und dann vier Jahre lang im Gefängnis saß. Dort fiel er weiterhin auf: Die italienische Polizei setzte ihn auf ihre Liste islamistischer Radikaler, wollte ihn gleich nach der Haft abschieben. Weil ihre tunesischen Counterparts sich weigerten, Amri zurückzunehmen, ließen sie ihn aber laufen. Der Tunesier reiste nach Deutschland, suchte wieder um Asyl an, gab noch dazu mehrere falsche Namen an und befreundete sich mit radikalen Islamisten.

Das alles ist bekannt, weil die deutsche Polizei bereits vor dem Anschlag ein 345 Seiten starkes Dossier zum Fall Anis Amri führte. Er wurde sechs Monate lang überwacht, soll einen V-Mann nach Waffen gefragt und ihm sogar erzählt haben, dass er einen Anschlag plane. Noch dazu dealte er mit Drogen, sein Asylverfahren wurde rasch abgelehnt und sein alter Dschihadisten-Freundeskreis eingesperrt. Die Deutschen wollten Tunesien nun richtig Druck machen, um den Mann endlich loszuwerden. Doch das Dokument, mit dem er abgeschoben werden hätte können, kam ein paar Tage zu spät in Berlin an.

Betrachtet man alleine die bislang bekannten Fakten im Nachhinein, dann wirkt es, als hätte Anis Amri monatelang eine rot blinkende Warnleuchte auf dem Kopf getragen.

Die Deutschen fragen sich nun, wie ihr Staat und seine Behörden das alles so lange hinnahmen, die Vorzeichen missachteten. "Deutschland ist nicht gewöhnt, das Ziel einer Terrorattacke zu sein", sagte der Terrorexperte Peter Neumann vom International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence des Londoner King's College in den Tagen nach Amris Mordfahrt dem US-Sender PBS. "Es ist ein bisschen wie in Amerika vor 9/11. Die Deutschen sind ziemlich naiv, was Terrorismus betrifft." Die Regierung müsse nun handeln. Am besten so, wie das die USA mit der sogenannten 9/11-Kommission gemacht hatten, die akribisch analysierte, was vor dem Al-Kaida-Anschlag schiefgegangen war und wie sich das System gegen den Terror wappnen sollte.

Während noch nicht alle offenen Fragen im Fall Anis Amri geklärt sind, führt Deutschland bereits eine Anti-Terror-Debatte, die nicht nur das Frühjahr 2017 bestimmen könnte. Im Herbst wird ein neuer Bundestag gewählt, Kanzlerin Angela Merkel bewirbt sich um eine vierte Amtszeit. Gleichzeitig hofft die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) auf Stimmen - und warnt vor Flüchtlingen wie Amri.

Als der Terror die Franzosen im November 2015 wieder einmal und mit zuvor nicht gekannter Härte traf, erklärte ihm Staatschef François Hollande den Krieg und löste symbolisch die militärische Beistandsklausel der EU aus. Bis heute befindet sich das Land im damals verhängten und verlängerten Ausnahmezustand. Die deutsche Debatte gibt sich vergleichsweise besonnen - sie kann in vier Punkte unterteilt werden, denen sich in den kommenden Jahren wohl auch andere EU-Staaten stellen müssen.

1. Schneller abschieben

Geht es nach den Behörden, hätte Anis Amri längst nicht mehr in Deutschland sein dürfen, als er den Anschlag verübte. Bereits vor dem Sommer wurde sein Antrag auf Asyl abgelehnt. Doch wie schon bei einigen italienischen Versuchen in den Jahren zuvor, weigerten sich die tunesischen Behörden lange, den Asylwerber zurückzunehmen.

Nun fordert die deutsche Regierung: Schneller abschieben! Dazu will Innenminister Thomas de Maiziére (CDU) unter anderem Tunesien und Marokko als sichere Herkunftsländer klassifizieren. Das beträfe nicht nur abgelehnte Asylwerber: Deutschland würde festlegen, dass alle Asylanträge aus diesen Ländern mit hoher Wahrscheinlichkeit negativ beurteilt werden. Erst im Herbst beschlossen die Deutschen, dass Afghanistan von nun an als sicheres Land gilt, vor wenigen Wochen wurden die ersten Afghanen abgeschoben. Grüne, die Linke und Menschenrechtler kritisierten die Praxis scharf.

Auch in der Regierungspartei SPD haderten einige Größen mit der Abschiebepolitik des eigenen Koalitionspartners. Mit dem Fall Amri deutet sich hier aber durchaus ein Paradigmenwechsel an: Auch SPD-Justizminister Heiko Maas will "Ausreisepflichtige " nun zügig wieder in ihre Heimatländer verfrachten. Nur, ganz so einfach ist das nicht: Damit ein Asylwerber in sein Heimatland zurückgebracht werden kann, muss dieses ihn nach wie vor hineinlassen. Die tunesischen Behörden weigerten sich im Fall Amri, weil die Deutschen keine gültigen Papiere vorweisen konnten, die seine Herkunft bestätigten.

Die Geschichte des Attentäters von Berlin macht deutlich, wie einfach es ist, sich durch europäische Asylsysteme und in eine neue Identität zu schummeln. Dabei bleibt fraglich, ob die Gefahr am besten damit bekämpft wird, Dschihadisten von Land zu Land zu schieben, anstatt ihnen den Prozess zu machen oder sie länger einzusperren. Noch dazu dürften etliche Terrorverdächtige einen EU-Pass besitzen.

Die IS-Strategen freut die angekündigte Verschärfung in der Flüchtlingspolitik jedenfalls genauso wie die europäischen Rechtspopulisten. Denn nach einem Fall wie jenem von Anis Amri verknüpft die Politik fast schon automatisch die Flüchtlingsfrage fester als zuvor mit dem Terrorismus. Da wirkt es auch nicht wie ein Zufall, dass der Tunesier ausgerechnet eines seiner Asylpapiere mit falschem Namen im Lkw liegen gelassen hat.

Geht es nach dem französischen Experten Jean-Pierre Filiu, versucht der IS in Deutschland vor allem Asylwerber für Attacken einzuschleusen, um damit die innenpolitische Debatte zu bestimmen. Denn für die Jünger des selbst ernannten Kalifats sind vor dem islamischen Gottesstaat fliehende Muslime ein PR-Desaster. Davon zeugen etliche Propagandavideos aus dem vergangenen Jahr, die sich gegen Flüchtlinge wenden.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (M, CDU) mit Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (r, CDU) und Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD).

2. Europäischer werden

Anis Amri ist nicht der erste Dschihadist, der ohne gröbere Probleme von EU-Land zu EU-Land reisen konnte. Schon die Drahtzieher der Anschläge von Paris im November 2015 fuhren noch mehr oder weniger unbehelligt durch den Schengen-Raum, als ihre Namen bereits in einigen nationalen Terrorlisten auftauchten . Etliche wurden kontrolliert, aber wieder laufen gelassen, weil in einer Datenbank nichts Auffälliges über sie vorlag, obwohl sie in einem anderen Land gesucht oder als gefährlich eingestuft wurden. Zwei kamen mit gefälschten Papieren zusammen mit Tausenden Flüchtlingen auf der griechischen Insel Leros an. Einer der Pässe war laut französischen Behörden im Zusammenhang mit einer Terrorwarnung zur Fahndung ausgeschrieben.

Das Problem: Zwar befüllen viele EU-Staaten brav ihre Datenbanken über auffällige Dschihadisten, Hassprediger, bekannte Falschpapiere und Syrien-Reisende. Doch sie sind kaum europaweit miteinander verknüpft. Wer mehr wissen will, muss zuerst zum Telefon greifen und warten. Auch Anis Amri wurde von den italienischen Behörden in eine Liste von islamistischen Radikalisierten eingetragen, auf der laut "New York Times" ein paar Hundert Namen stehen. Doch als sie Amri in der Datenbank des Schengen-Informationssystems vermerkten, war der Tunesier schon seit zwei Monaten frei, nach Deutschland gereist und hatte dort unter verschiedenen Identitäten um Asyl angesucht.

Neu ist das alles nicht - und es betrifft nicht nur Terroristen. Während die EU ihre Grenzen geöffnet hat, fällt es Justiz und Polizei schwer, effizient über die Grenzen hinweg miteinander zu arbeiten. Wechselt eine Person das Land, sind zum Beispiel Daten aus Gerichtsurteilen oft nicht mehr einsehbar. Auch um solche Miseren zu lösen, gibt es seit diesem Jahr einen EU-Kommissar für die Sicherheitsunion.

"Wir können nur besser werden", kommentiert der Brite Julian King, der den Job seit September innehat, in einem profil-Interview die Situation. So sahen das zuvor schon ranghohe europäische und US-amerikanische Anti-Terrorkämpfer in der im Herbst ausgestrahlten Dokumentation "Terror in Europe" des US-Senders PBS: Seit den Pariser Anschlägen von vergangenem November habe sich kaum etwas an der schlechten Lage geändert. "Wir sind noch unzufrieden, wie der Informationsaustausch auf europäischer Ebene funktioniert", sagt auch ein Sprecher des österreichischen Innenministeriums.

Dabei kommt wohl gerade auf die Deutschen ein Umdenkprozess zu: Nach dem Horror des Nazi-Regimes und der DDR-Stasi lernten sie, den eigenen Polizeiapparaten kritisch gegenüberzustehen, ihre Privatsphäre und Daten zu schützen. Gleichzeitig traut nach neuesten Umfragen die Mehrheit der Politik nicht zu, sie vor dem Terror zu schützen.

3. Mehr überwachen

Es dauerte nicht lange, da forderte Thomas de Maizière bereits neue Werkzeuge für den Staatsapparat. Konkret: Der deutsche Innenminister hätte gerne bessere Software zur Gesichtserkennung für die vielen Überwachungskameras. "Dann könnte man zur Fahndung ausgeschriebene Personen leichter entdecken, immer wenn sie an einer Videokamera vorbeikommen", sagt er in einem Interview mit der "Bild am Sonntag".

Denn Anis Amri war der Polizei nach dem Berliner Anschlag auch noch entwischt. Obwohl zur Fahndung ausgeschrieben, schaffte er es über Frankreich bis ins italienische Mailand, wo ihn zwei Polizisten eher zufällig stoppten - und in Notwehr erschossen.

Das Dilemma ist bekannt: Auf der einen Seite wünschen sich viele Staaten mehr Personal und Befugnisse, um den technischen Fortschritt bei der Jagd auf Verbrecher besser nutzen zu dürfen. Auf der anderen Seite fürchten sich etliche Bürger schon jetzt vor Überwachungsapparaten, wie sie zum Beispiel Edward Snowden bekannt machte.

Fest steht aber: Nicht nur die deutschen Polizisten sind damit überfordert, die gesamte Szene an potenziellen Terroristen unter Kontrolle zu halten. Rund 550 sogenannte Gefährder listet der Verfassungsschutz auf. Eine 24-Stunden-Überwachung bindet je nach Quelle zwischen 15 und 30 Beamte. Es wären also allein in Deutschland zwischen 8000 und 16.000 Polizisten nötig, um all jene Menschen überwachen zu können, von denen der Staat jetzt schon annimmt, dass sie einen Anschlag verüben könnten.

In dieser Notlage treffen die Terrorismusbekämpfer schwerwiegende Entscheidungen: Wer wird überwacht? Wer eher nicht? Im Fall von Anis Amri besprachen hochrangige Anti-Terror-Polizisten laut "Süddeutscher Zeitung" sieben Mal, was mit dem auffälligen Tunesier zu tun sei. Zwei Mal ging es um die Gefahr eines Anschlags, den sie ihm dann doch nicht zutrauten. Nach sechs Monaten stoppte die Polizei auch die Überwachung.

Ob es geholfen hätte, mehr technische Hilfsmittel zu erlauben, ist jedenfalls strittig. Die deutschen Dschihadistenkreise kommunizierten über verschlüsselte Dienste wie die Software "Telegramm", die sich jeder Teenager herunterladen kann. Die wertvollsten Erkenntnisse über Amri kamen von Szene-Informanten, denen er anvertraute, dass er einen Anschlag plante. Warum das - und andere bei den Observationen beobachtete Straftaten - nicht reichte, um ihn zu verhaften, muss noch umfassend geklärt werden.

4. Strenger strafen

Sieht man sich den Fall Amri an, müssten die Fragen lauten: Warum wurde er nicht dauerhaft von der Straße genommen? Wieso landet einer wie er nicht viele Jahre im Gefängnis? Haben die Behörden versagt oder fehlten ihnen die passenden Gesetze?

In der Vergangenheit zogen bedeutende Terrorattacken jedenfalls meist neue Gesetze nach sich. Seit der Zäsur von 9/11 wurden in Europa schärfere Regelwerke erlassen. So gehen die österreichischen Anti-Terrorparagrafen auf eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2002 zurück, an einer weiteren wird nach den Paris-Anschlägen mit Hochdruck gearbeitet. Sie soll die Mitgliedsstaaten auf denselben Stand bringen und den Besuch von Trainingscamps oder das Gutheißen von Terrororganisationen bestrafen.

Vor allem US-amerikanische Terrorexperten blickten in der Vergangenheit verwundert über den Atlantik. So wurde beispielsweise der "Charlie Hebdo"-Attentäter Cherif Kouachi bereits 2008 verurteilt, weil er in den Irak reisen wollte, um dort "Amerikaner zu töten". Die französischen Gerichte sahen das nicht so dramatisch, nach drei Jahren war er wieder draußen - in den USA hätte man ihn wohl mehr als zehn Jahre weggesperrt.

Auch Anis Amri fiel den Amerikanern auf, weil er im Internet nach Bombenbauplänen suchte. Sie setzten ihn auf ihre No-Fly-Liste - dort werden Menschen eingetragen, die aufgrund von dringenden Sicherheitsrisiken kein Flugzeug mehr betreten dürfen. Eines von vielen polizeilichen Instrumenten, die es in Europa bis heute nicht gibt.

Dass aber nicht jedes scharfe Gesetz sinnvoll sein muss, zeigt ein Blick nach Österreich: Dort stellte die ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner im Jahr 2014 voller Stolz das sogenannte Terrorsymbolegesetz vor. Wer IS-Fahnen oder Al-Kaida-Abzeichen vor sich herträgt, sollte dafür härter bestraft werden, als wenn er Hakenkreuze verbreitet.

Seitdem müssen Polizisten entscheiden, ob ein arabischer Schriftzug, den die meisten von ihnen wohl kaum entziffern und von anderen muslimischen Zeichen unterscheiden können, ein Terrorsymbol ist oder nicht. Wie das in der Praxis gehandhabt wird, zeigt ein Blick in den Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2015, in dem das Gesetz zum ersten Mal durchgehend angewendet wurde: Es gab gerade einmal eine Anzeige.