Terrormiliz IS hat nirgendwo so großen Zulauf wie in Tunesien
Von Petra Ramsauer, Tunis
Es ist keine Überraschung, dass junge Tunesier wie Kamal leichte Beute für radikale Prediger sind, die Freiwillige für die Milizen der Terrormiliz IS anwerben. Drei meiner Cousins und ein Schulfreund sind bereits in Syrien. Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Zwei sind Märtyrer, der Stolz ihrer Familien. Ihr Tod hat mehr bewegt als mein ganzes Leben, sagt der 22-jährige Kamal, der sich mit vier anderen eine Zigarette und eine Cola Light im Café Univers in Tunis teilt: Und wir? Sitzen im Kaffeehaus rum, um die Zeit totzuschlagen. Ges-tern, heute, morgen.
Überraschend ist allerdings die Zahl junger Tunesier wie Kamal, die sich rekrutieren lassen. 3000 seiner Landsleute kämpfen derzeit in Syrien, weitere 6000 wurden nach Angaben des tunesischen Innenministeriums allein heuer durch Kontrollen und neue Gesetze von der Reise in das Kriegsgebiet abgehalten. Nirgendwoher stammen so viele Freiwillige des IS wie aus Tunesien mit seinen lediglich elf Millionen Einwohnern.
Viele kommen wie Kamal aus Tunis Vorort Tadammon, wo jeder wenigstens einen jungen Dschihadisten kennt aber kaum einen, der einen richtigen Job hat. Unsere einzige Abwechslung ist es, beten zu gehen. Und in der Moschee erfahren wir, was es heißt, ein echter Muslim zu sein, sagt Kamal und beginnt dann selbst zu predigen: Ihr werdet es schon noch sehen. Der ,Islamische Staat ist euch und dem ganzen westlichen Firlefanz weit überlegen. Die haben Werte und einen Glauben, die bauen etwas Richtiges auf.
Leben ohne Existenz
Mit Ach und Krach hat Kamal vor acht Jahren einen Pflichtschulabschluss geschafft. Seither wartet er darauf, dass sein Leben beginnt. So wie Chakri, der seit einem Vierteljahrhundert im Café Univers nichts anderes tut. Er ist 45, hatte noch nie einen Job und lebt bis heute bei seinen Eltern. Wir führen ein Leben ohne Existenz, meint er: Wen wundert es, dass die Jungen kämpfen und nicht resignieren wollen?
Dass gerade Tunesien zur Hochburg der IS-Kämpfer wurde, scheint trotzdem absurd. Kein anderes Land der Arabellion schaffte den Übergang von der Diktatur eines Langzeitherrschers zu demokratischen Verhältnissen.
Ende Oktober fanden bereits zum zweiten Mal nach dem Sturz des Autokraten Zine el-Abidine Ben Ali im Jahr 2011 freie Wahlen statt. Die säkulare Partei Nidaa Tounees (Ruf Tunesiens) gewann mit mehr als einem Drittel der Stimmen knapp gegen die Islamisten der Ennahda-Partei.
Ennahda (Wiedergeburt) hatte zuvor als stärkste Kraft den Premierminister gestellt, sich in einer Koalition mit säkularen Parteien aber auf eine der modernsten Verfassungen der arabischen Welt geeinigt. Eine kurzzeitig aufflammende innenpolitische Krise im vergangenen Winter war durch die Einsetzung einer Übergangsregierung und nunmehr abgehaltene vorgezogene Neuwahlen beendet worden.
Eitel Wonne an der Oberfläche
Ungelöst bleibt allerdings die Frage, welche Chancen die neuen Machthaber der Bevölkerung bieten können. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut IWF bei 40 Prozent, selbst ein Drittel der Uni-Absolventen findet keinen Job.
Die tristen Perspektiven erklärten jedoch nur zu einem Teil die hohe Anziehungskraft des Islamischen Staates auf viele Jugendliche, meint der IT-Experte Mohammed Aroumi. Oberflächlich betrachtet war nach der Revolution alles eitel Wonne, sagt er bitter: Aber die Islamisten haben zwei Gesichter. Nehmen sie Noureddine Khadmi, der ab Dezember 2011 als Religionsminister im Amt war. Er hat in einer Moschee gepredigt, dass er in den Dschihad ziehen würde, wenn er jung wäre. Mit solchen Parolen wurde Jugendlichen vermittelt, dass es richtig sei, nach Syrien zu gehen.
Aroumi engagiert sich in der Organisation mit dem sperrigen Namen Verein zur Rettung von Tunesiern, die im Ausland festgehalten werden. Es ist ein Zusammenschluss von 150 Familien, deren Angehörige in Syrien kämpfen. Einer davon ist Hashmi, Mohammeds kleiner Bruder. Der 18-Jährige hätte auch in Tunesien alle Chancen auf ein glückliches Leben gehabt: Die Familie Aroumi ist wohlhabend und lebt in Sousse, Tunesiens drittgrößter Stadt. Gepflegte Strände gibt es in der Touristenmetropole, einen herausgeputzten Bilderbuch-Hafen und lauschige Parks.
Wir hatten keine Ahnung, was in Hashmi vorging, sagt Mohammed: Er hörte laute Musik, trug moderne Jeans, war der Beste seiner Klasse im Gymnasium, vor allem in Mathematik. An nichts habe es ihm gefehlt. Einzig: Wenig Freunde hatte er. Er war ein stiller, verschlossener Bub. Und er ging beten, jeden Freitag, da haben sie ihn geködert.
Am 31. Juli 2013 war Hashmis Zimmer am Morgen leer. Es dauerte Wochen, bis die Familie herausfand, was geschehen war, erzählt Mohammed: Er wurde über die Grenze in ein Trainingslager nach Libyen gebracht. Dort lernte er, mit Waffen umzugehen, und bekam einen neuen libyschen Pass. Darum verlor sich anfangs jede Spur. Schließlich gelang es mir über Facebook, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er schrieb mir, er sei nach Syrien gegangen und habe sich der Jabhat an-Nusra (einer Al-Kaida-nahen Rebellenfraktion, Anm.) angeschlossen. Später zählte er zu jenen Dschihadisten, die sich unter dem Namen Islamischer Staat von an-Nusra abspalteten. Er war damals erst 17 ein Minderjähriger, den sie de facto verschleppt haben.
Wir steuern auf ein sehr großes Problem zu
Fast täglich schreibt Hashmi seinem Bruder aus dem syrischen Raqqah, der Quasi-Hauptstadt des Kalifats. Er schildert, was für ein wundervolles Leben er nun führe und wie weit der IS bereits beim Aufbau eines eigenen Staates gekommen sei. Er versichert uns, dass er niemals nach Tunesien zurückkommt. Er ist eher davon überzeugt, dass auch Tunesien bald Teil des Kampfgebietes sein wird.
Wir steuern auf ein sehr großes Problem zu, sagt Rashid Ekabel, ein 32-jähriger Unternehmer, dem es gelungen ist, seinen jüngeren Bruder aus Syrien zurückzuholen: Die Rekruten der Islamisten haben es auf die gut Ausgebildeten abgesehen, besonders auf Ingenieure und Mathematik-Absolventen mit akademischem Abschluss. Mir hat ein Uni-Professor erzählt, dass allein im Oktober drei seiner Maschinenbau-Studenten nach Syrien verschwunden sind.
Tatsächlich belegen die Daten des tunesischen Innenministeriums, dass nicht nur die Underdogs der Vorstädte in den Dschihad nach Syrien ziehen. Die meis-ten der Tunesier-Kolonie im Islamischen Staat sollen zwischen 17 und 27 Jahre alt sein, ein Gutteil von ihnen mit einem akademischen Grad.
Aus Sicht vieler säkularer Gruppen in Tunesien ist für den Exodus nach Syrien die seit 2011 regierende Ennahda-Partei verantwortlich. Die Gruppierung stammt aus dem Sammelbecken der internationalen Muslimbruderschaft, ist aber mit noch radikaleren Netzwerken zumindest lose verbunden. Dazu zählen Gruppen wie Ansar al-Sharia, die international als Terror-Gruppe eingestuft wird.
Mitglieder dieser Gruppen zogen einst in den Heiligen Krieg nach Afghanistan, später schickten sie ihre Anhänger in den Irak, um für den dortigen Al-Kaida-Ableger zu kämpfen. Diese alten Netzwerke besorgen nun tunesischen Nachschub für den Islamischen Staat.
Das Regime des gestürzten Präsidenten Ben Ali hatte zehntausende Extremisten in Gefängnissen weggesperrt. Dank großzügiger Amnestie-Regelungen nach der Revolution 2011 kamen viele von ihnen frei und schlossen sich militanten Gruppieren an, denen die Ennahda-Partei kaum Einhalt gebot. Das wurde erst ruchbar, als Islamisten 2013 zwei säkulare Menschenrechtsaktivisten ermordeten.
Nachdem im Jänner die aus Experten zusammengesetzte Übergangsregierung die Macht übernahm, stellte der neue Religionsminister entsetzt fest, dass 1100 der 5100 Moscheen Tunesiens in der Hand radikaler Prediger waren. Laut Angaben des Tunesischen Zentrums für Strategische Studien sympathisieren heute rund 100.000 Tunesier offen mit islamistischem Gedankengut. Und die größte Angst der tunesischen Sicherheitskräfte ist derzeit nicht, dass noch mehr Dschihadisten nach Syrien aufbrechen könnten, sondern eher, dass sie ihre Fantasien vom Heiligen Krieg im eigenen Land ausleben könnten.