Als erster Staat in Europa hat Albanien TikTok verboten. Berichte aus einem kleinen Land, das zu einem Testlabor für eine große Frage wurde: Ist eine Sperre autoritär oder sinnvoll?
Im ehemaligen Schlafzimmer des Diktators steht eine Installation der ukrainischen Künstlerin Stanislava Pinchuk. Videos zeigen eine Frau mit nackten Brüsten, die gerade hypnotisiert wird. Menschen mit Weingläsern wandern, wie auf Vernissagen üblich, mit ernsten Mienen durch die Korridore. Unten im Keller steht der leere, blau gekachelte Swimmingpool des Diktators. Man kann jetzt einfach so ins Becken hinuntersteigen. Oder auf seinem alten Klavier spielen.
Es sind ausgelassene Tage in Tirana, der Hauptstadt Albaniens. Erstmals seit dem Ende des Kommunismus vor über 30 Jahren hat die Villa des Langzeitdiktators Enver Hoxha ihre Pforten geöffnet. Künstler aus aller Welt haben sich im alten Haus des Stalinisten eingemietet, der sich wohl im Grab umdrehen würde, wenn er wüsste, was hier alles vor sich geht.
Edi Rama, seit 2013 der sozialistische Regierungschef Albaniens, hat die Villa persönlich eröffnet. Er ist selbst studierter Künstler, das Exzentrische ist ihm geblieben. Im Wahlkampf trägt er gern mal Jogginghose zu weißen Sneakern und Baseballcap. Es gibt einen legendären albanischen Song, in dem Edi Rama einen Gastauftritt hat und rappt. Die Wände in seinem Büro sind mit Malereien vollgekritzelt, vor der Tür steht ein Käfig mit zwei Papageien. Kurzum: Rama ist so ein Typ, der auf TikTok viral gehen würde.
Westlich, weltoffen, ein bisschen exzentrisch, so will Rama Albanien, das einen Tourismusboom erlebt, der Welt präsentieren.
Aber derselbe Rama hat auch etwas umgesetzt, das bisher nur autoritäre Staaten wie Afghanistan oder der Iran getan haben. Als erster Regierungschef in Europa hat er TikTok verboten – und das in gerade einmal drei Monaten. Die einjährige Sperre wurde kurz vor Weihnachten verkündet, seit Mitte März gilt sie. Technisch läuft es noch etwas holprig. Dieser Tage trifft man in Tirana immer wieder auf Menschen, bei denen die App noch lädt. Das aber könnte sich bald ändern, denn der politische Wille ist da. Rama bezeichnete TikTok als einen „Gauner“, den man „aus dem Viertel“ jagen werde. „Warum sieht man auf TikTok außerhalb Chinas nur Schund und Dreck?“, fragte er einmal.
„Warum sieht man auf TikTok außerhalb Chinas nur Schund und Dreck?“
Edi Rama
Anlass für das Verbot war ein Gewaltverbrechen an einer Schule in Tirana, bei dem ein 14-Jähriger von einem Mitschüler erstochen wurde. Zwischen den beiden Teenagern war es zum Streit gekommen. Obwohl bis heute unklar ist, welche Rolle soziale Medien dabei genau spielten, schoss sich Edi Rama auf TikTok ein. Seine sozialistische Partei, die seit 2017 mit absoluter Mehrheit regiert, gibt an, Gespräche mit Eltern im ganzen Land geführt zu haben. Mit dem Resultat, dass sich eine Mehrheit für das Verbot aussprach. Diese Daten wurden allerdings nie veröffentlicht. Unklar ist, wie und ob sie überhaupt erhoben wurden. Ein Referendum oder eine unabhängige Meinungsumfrage hat es dazu nie gegeben. Dabei wäre es sicher sinnvoll, lösungsorientiert mit Eltern über Gewaltprävention zu sprechen. Denn anders als in den USA geht es beim albanischen TikTok-Gesetz nicht um Datenschutzfragen oder Desinformation, sondern rein um den Jugendschutz.
Es gibt allerdings Wege, TikTok weiter zu nutzen, und zwar mit einem sogenannten VPN, der der App einen Standort in einem anderen Land vortäuscht. Die Downloadzahlen solcher VPNs sind in Albanien seit März explodiert.
Auch Rexhina Papa hat sich einen heruntergeladen. „Wenn dir jemand etwas verbietet, dann willst du es noch mehr. Das ist eine zutiefst menschliche Reaktion“, sagt sie. Die 19-jährige Studentin sitzt in einem Café gegenüber ihrem Studierendenheim. Rexhina, die aus der Hafenstadt Vlora im Süden Albaniens stammt, nutzt TikTok, seit sie 15 Jahre alt ist. „Meine Freunde sagen über mich, dass ich eine Zeit lang nur in TikTok-Memes gesprochen habe“, lacht sie.
Rexhina findet die Art und Weise, wie das Verbot zustande kam, undurchsichtig. „Anstatt Verantwortung für das Gewaltverbrechen an der Schule zu übernehmen, schiebt die Regierung diese Katastrophe allein TikTok in die Schuhe“, sagt sie, „obwohl mittlerweile bekannt ist, dass die beiden Burschen gar kein TikTok benutzt haben.“ Auch Monate später ist der Mord an der Schule undurchsichtig. Sicher ist: Die Gewalttat war Thema auf sozialen Netzwerken, nicht nur, aber auch auf TikTok. Rexhina erinnert sich an Videos von Usern, die des Opfers gedachten oder Bilder von ihm posteten. Es gab aber auch problematische Inhalte. „Da war zum Beispiel ein Video von dem Cousin des Täters, in dem er die Tat glorifiziert hat“, erinnert sich Rexhina. Der Täter selbst lud nach der Tat Bilder von sich mit seinem Messer hoch. Allerdings nicht auf TikTok, sondern auf Snapchat.
„Wir haben keine Beweise dafür gefunden, dass der Täter oder das Opfer TikTok-Konten hatten, und mehrere Berichte haben tatsächlich bestätigt, dass Videos, die zu diesem Vorfall führten, auf einer anderen Plattform als TikTok gepostet wurden“, ließ ein Sprecher des chinesischen Unternehmens ByteDance im Dezember verlauten.
„Warum hat die Regierung nicht Snapchat, sondern nur TikTok geschlossen?“, fragt Rexhina. Und verhindert ein Verbot Gewalt überhaupt? „Es wird immer gewalttätige Jugendliche geben, die eine solche Mentalität haben“, glaubt sie.
Die Regierung sieht das anders. Laut der Bildungsministerin Ogerta Manastirliu gehe es darum, den „Schutz und die Sicherheit von Kindern und Jugendlichen im digitalen Umfeld“ zu gewährleisten. In Bezug auf die technische Umsetzung hielt sich Manastirliu bedeckt, so wie auch der Rest der Behörden.
Besmir Semanaj hat das misstrauisch gemacht. Der 39-jährige Cybersicherheitsexperte war zehn Jahre lang als Manager für „ALBtelecom“ tätig, damals der größte Internetanbieter in Albanien. Seit sechs Jahren lebt er in Wien und arbeitet für eine Investmentfirma.
Am 26. März machte Semanaj in einem Facebook-Posting öffentlich, dass die albanische Regierung TikTok mit einer technischen Methode sperren lässt, die sich „Deep Package Inspection“, kurz DPI, nennt. Das ist, stark vereinfacht, ein technischer Prozess, mit dem sich Datenpakete filtern lassen. Die Behörden haben die Verwendung dieser Technik mittlerweile bestätigt. DPI sei nicht per se schlecht, sagt Semanaj. Auch EU-Mitgliedsländer wie Frankreich oder Deutschland nutzen die Technik, beispielsweise zur Abwehr von Cyberattacken oder zur Verbesserung der Netzwerkqualität.
„Aber Albanien hat weder EU-konforme Datenschutzgesetze, noch beruht das DPI-Verfahren auf Konsultationen mit unabhängigen Experten, einem Gesetz oder Gerichtsurteil“, kritisiert Semanaj. Bekannt ist nur, dass sich die Regierung im Rahmen eines Kooperationsabkommens für ein Jahr die Technik aus Israel ausgeborgt hat. Doch Semanaj hat viele Fragen. Welche israelische Firma steckt dahinter? Was passiert mit den Daten? Gibt es eine Behörde in Albanien, die den Prozess unabhängig überwacht?
Denn DPI kann nicht nur Gutes bewirken. Autokraten auf der ganzen Welt nutzen das Verfahren, um unliebsame Websites zu blockieren, das Internet zu drosseln oder Bürger zu überwachen. „DPI ist keine Spyware, mit der sich WhatsApp-Chats mitlesen oder Telefonate abhören lassen. Aber rein theoretisch kann man damit sensible Metadaten über das Nutzungsverhalten im Internet erheben“, so Semanaj.
Albaniens nationale Cybersicherheitsbehörde (AKSK) dementiert all das in einer zehn Seiten langen Stellungnahme an einen Journalisten, die profil vorliegt. Die Technik werde ausschließlich für die TikTok-Sperre benutzt, beruhigt man.
Semanaj hat die Stellungnahme gelesen und hält sie für irreführend: „Die Behörden behaupten darin, dass man mit DPI gar keine sensiblen Daten erheben kann. Aber das stimmt nicht. Es ist technisch möglich.“ Semanaj will nicht paranoid klingen. Vielleicht, sagt er, hat die Regierung Rama ja nichts Schlechtes im Sinn: „Aber muss man seiner Regierung blind vertrauen, nur weil sie beteuert, dass sie niemanden ausspionieren will?“
Der Mann, der TikTok in Albanien wieder entsperren will, ist ein 80 Jahre alter Kardiologe. Sali Berisha, ein Urgestein der albanischen Politik und der erste demokratisch gewählte Präsident nach der Wende, sitzt der größten Oppositionspartei im Land vor, der „Partia Demokratike e Shqipërisë“ (Demokratische Partei Albaniens, PD). Er sagt: „Sobald die PD an die Macht kommt, werden wir die Sperre wieder aufheben.“
Berisha sitzt in seinem geräumigen Büro nahe der Großen Moschee von
Tirana und trinkt Tee. Dass er Journalisten hier empfängt, ist eine Neuigkeit. Denn das vergangene Jahr hat Berisha wegen Korruptionsermittlungen fast durchgehend in Hausarrest verbracht. Ihm wird vorgeworfen, einen Sportkomplex zugunsten seines Schwiegersohns privatisiert zu haben. Mittlerweile ist Berisha wieder frei, aber die Staatsanwaltschaft hat Anklage erhoben. Trotzdem tritt er bei den Parlamentswahlen am 11. Mai als Ramas wichtigster Rivale an. Seine Kritiker werfen ihm vor, dass dahinter auch der Wunsch steht, nicht im Gefängnis zu landen. Berisha dementiert das. Es gehe ihm einzig und allein darum, das Land von Edi Rama zu befreien, dem er vorwirft, mit der Drogenmafia unter eine Decke zu stecken.
Berisha hat die Jugend zu Protesten gegen das TikTok-Verbot aufgerufen. Aber von Massendemonstrationen, wie wir sie derzeit in
Serbien oder der Türkei erleben, ist Albanien meilenweit entfernt. Niemand geht auf die Straße, viele scheinen sich mit der Sperre abgefunden zu haben.
Nicht aber Sali Berisha, der angesichts der Parlamentswahlen von einem „Akt der Zensur“ spricht.
Seit dem Mord an dem 14-Jährigen reden alle über TikTok. Aber niemand vonseiten der Regierung hat mit den Eltern des getöteten Jungen gesprochen.
Das Haus von Angjel und Florina Cani liegt in Sauk, einem Vorort von Tirana. Ein steiles Gässchen führt zu einem mehrstöckigen, apricotfarbenen Häuserblock hinunter. Vom Balkon baumelt eine Spiderman-Figur. Sie gehört dem Bruder des ermordeten Jugendlichen, der jetzt das einzige Kind der Eltern ist. In das Eingangstor der Familie Cani ist ein Satz eingraviert: „Martin, du bist überall.“
Jetzt sitzen die Eltern im Wohnzimmer und erzählen von ihrem Sohn, der nicht groß an Smartphones interessiert war und – wie sie mehrmals beteuern – kein TikTok-Konto hatte. Viel lieber spielte er Fußball, in der Jugendmannschaft des Nationalteams sogar. Die Eltern sagen: „Nicht TikTok hat unseren Sohn getötet, sondern ein Messer. Gepaart mit einem Bildungssystem, in dem es an Sicherheitsstandards mangelt.“
Edi Rama habe sie nie besucht, sagen die Eltern. Jetzt, kritisieren sie, werde ihre private Tragödie für politische Zwecke missbraucht – und als Rechtfertigung, eine Social-Media-Plattform aus dem Verkehr zu ziehen.
Sie wolle Edi Rama nur eine Frage stellen, sagt die Mutter: „Was, wenn es dein Sohn gewesen wäre?“
Der Vater holt sein Smartphone aus der Tasche. Weil User auf TikTok immer wieder Videos hochladen und an seinen Sohn erinnern, hat er sich die App heruntergeladen. Bei ihm funktioniert sie noch.