Frans Timmermans: "Kontrolliert Strache Herrn Kurz? Oder Kurz Herrn Strache?"
profil: Sie sind Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten bei den Europawahlen Ende Mai. Warum sollen EU-Bürgerinnen und Bürger für Ihre Parteienfamilie stimmen? Timmermans: Weil wir die besseren Lösungen für die großen Herausforderungen haben. Wir sind gerade aus einer schrecklichen Krise mit vielen Folgen herausgekommen. Die Ungleichheiten in der Gesellschaft, vor allem jene zwischen Arm und Reich, sind massiv gewachsen. Die Reichen werden immer reicher, und bei den einfachen Leuten kommt das Wachstum nicht an. Die Menschen haben das Gefühl, die Gesellschaft sei nicht mehr fair. Es gibt Konzerne, die Milliardengewinne machen, aber keine oder nur ganz geringe Steuern zahlen. Wir sehen zudem noch die Gefahr des Klimawandels. Und wir müssen wegen der Digitalisierung unsere Wirtschaft umgestalten. Das führt zu vielen Verunsicherungen. Und davon profitieren vor allem solche Parteien, die behaupten: Wir können das alles stoppen, wenn wir neue Grenzen aufziehen.
profil: und alles wieder national regeln. Timmermans: Ja, und dann sind wieder die Ausländer Sündenböcke für negative Entwicklungen. Ohne sie wird wieder alles paletti sein -so propagieren es die Rechten und Populisten. Aber ich glaube nicht daran. Darum habe ich mich für die Europawahlen gemeldet. Wir brauchen eine fairere Gesellschaft, aber wir müssen uns bewusst sein, dass wir diese nur dann erreichen, wenn wir in Europa zusammenarbeiten. Wir Europäer stellen nur mehr sieben Prozent der Weltbevölkerung. Wenn die Umgestaltung der Wirtschaft und der Gesellschaft fair geschehen soll und wir unser Sozialmodell behalten und modernisieren wollen, brauchen wir Europas Größe. Sonst wird unsere Zukunft in China oder in den USA entschieden.
profil: Die EU-Gegner sammeln sich vor den Wahlen. Die FPÖ will die drei europaskeptischen Fraktionen vereinen. Laut Prognosen könnten sie sogar drittstärkste Kraft im Europaparlament werden. Timmermans: Daran glaube ich nicht. Sie sind sich nur einig darin, dass sie die EU kaputtmachen wollen. Ein konstruktives Programm haben sie nicht, und es gibt große Differenzen unter ihnen: Matteo Salvini (Italiens Vizepremier und Innenminister von der Partei Lega, Anm.) ist ein großer Putin-Freund, Jarosław Kaczyński (Chef der polnischen Regierungspartei PiS, Anm.) nicht. Bei der Migration haben sie auch unterschiedliche Standpunkte.
Die Migration ist und bleibt eine große Herausforderung, mit der sich wohl die nächsten zwei Generationen noch auseinandersetzen müssen.
profil: Polen oder Ungarn nehmen Italien sicher keine Flüchtlinge ab. Timmermans: Sie sind sich nur einig darin, dass man zu Nationalstaaten zurückkehren soll. Was haben die Menschen davon, wenn wir Europa zerstören und keine Lösungen für die sozialen Probleme, für neue Jobs und leistbare Wohnungen anbieten? Die EU ist notwendig, um unsere Gesellschaften fair und nachhaltig zu gestalten und die Freiheit zu gewährleisten. Für mich ist die EU kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, um Träume der Bürger wahr zu machen, eine Union, in der jeder seine Rolle hat, in der Menschen nicht wegen ihrer Religion oder ethnischen Herkunft ausgeschlossen werden.
profil: Der Plan der EU-Kommission zur Verteilung von Flüchtlingen wurde von einigen EU-Staaten komplett abgelehnt. Wie soll man da zu einer gemeinsamen Asyl-und Migrationspolitik kommen? Timmermans: Die Migration ist und bleibt eine große Herausforderung, mit der sich wohl die nächsten zwei Generationen noch auseinandersetzen müssen. Aber wir haben die gewaltige Krise von 2015 oder 2016 überwunden. Es gibt viel weniger Ankünfte von Asylwerbern oder Migranten. Wir schützen unsere Grenzen jetzt besser und arbeiten auch mit Drittstaaten enger zusammen. Es ist zwar alles noch lange nicht perfekt, aber wir haben Fortschritte gemacht. Und das ist der EU gelungen, nicht den einzelnen Mitgliedsstaaten. Probleme gibt es nur dort, wo Mitgliedsstaaten sich weigern, solidarisch mit anderen zusammenzuarbeiten. Das kann man daher nicht uns in Brüssel vorwerfen; wir haben versucht, eine Lösung zu finden, die alle Interessen berücksichtigt. Wenn wir bei der Asyl-und Migrationsfrage in den kommenden Jahren keine solidarische Lösung finden, werden die Grenzen innerhalb der Schengenzone wieder da sein. Die Länder, die sich jetzt weigern, eine gemeinsame Lösung zu finden, werden den größten Schaden davontragen.
profil: Warum? Timmermans: Auch ihre Wirtschaft funktioniert nur mit offenen Grenzen. Wir brauchen Mechanismen, die sicherstellen, dass sich jeder Mitgliedsstaat in einer Flüchtlingskrise solidarisch verhält. Wenn Menschen vor Krieg oder Naturkatastrophen flüchten, müssen wir ihnen helfen. Es gehört zu unserer Kultur und zu unseren Grundwerten, das wir diesen Menschen sagen: Wir lassen euch nicht im Mittelmeer sterben.
profil: Soll man Länder wie Ungarn oder Polen, die keine Flüchtlinge aufnehmen, mit Kürzungen bei den EU-Förderungen unter Druck setzen? Timmermans: Ich möchte diese beiden Dinge nicht verbinden. Aber ich würde schon Rechtsstaatlichkeit und Strukturfonds miteinander verbinden. Aus der internationalen Erfahrung wissen wir: Ein Land, in dem der Rechtsstaat unter Druck steht, ist ein Land mit mehr Korruption. Ich muss einem europäischen Steuerzahler doch erklären können, dass sein Geld gut angelegt ist. Wenn ich das nicht sicherstellen kann, weil es keinen Rechtsstaat und deshalb Korruption gibt, muss man auch bei den EU-Förderungen handeln. Denn das Geld, das etwa nach Ungarn oder Polen geht, stammt von Steuerzahlern anderer Länder.
profil: Viktor Orbáns Partei Fidesz wurde soeben in der Europäischen Volkspartei suspendiert. Sind Sie zufrieden damit? Timmermans: Das ist eine Angelegenheit dieser Fraktion . Aber wir als EU-Kommission setzen das Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn fort. Herr Orbán tritt schrecklich gegenüber NGOs auf, er schränkt die Pressefreiheit ein, er verstößt gegen die Regelungen für Asylwerber, er hat die Central European University aus dem Land gejagt. In all diesen Punkten verhält sich die ungarische Regierung vertragswidrig. Dagegen hat die EU-Kommission bereits entsprechende Schritte eingeleitet, und zwar unabhängig davon, ob die Konservativen die Fidesz-Partei in der Fraktion belassen oder nicht.
profil: Nun soll ein Weisenrat die ungarische Regierung bewerten. Ihm gehören der frühere EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, der frühere Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering und Österreichs ehemaliger Bundeskanzler Wolfgang Schüssel an. Timmermans: Dazu möchte ich nur anmerken: Wenn diese Herren Informationen brauchen, sollten sie den sehr guten Bericht des Europäischen Parlaments lesen.
profil: Er wurde mit großer Mehrheit angenommen. Timmermans: Auch mit den Stimmen der EVP-Abgeordneten.
profil: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz stellt sich gerne als proeuropäischer Politiker dar, aber sein Koalitionspartner FPÖ verbündet sich mit rechtsextremen, europafeindlichen Politikern wie Marine Le Pen oder Matteo Salvini. Wie passt das zusammen? Timmermans: Ich kenne Österreich ziemlich gut, weil mein Vater sieben Jahre dort lebte und ich oft da war. Ich liebe das Land sehr und habe viele Freunde dort. Man muss darauf achten, was in Wien passiert. Sebastian Kurz hat immer beteuert, dass er die FPÖ in den Griff bekomme. Aber jetzt stellt sich die Frage, wer da eigentlich wen kontrolliert: Strache Herrn Kurz oder Kurz Herrn Strache? Diese Frage kann ich noch nicht beantworten. Es beunruhigt mich, dass die junge Garde in der Europäischen Volkspartei in allen Mitgliedsstaaten überhaupt keine Hemmungen mehr hat, mit Rechtsextremen zusammenzuarbeiten. Das ist für uns Sozialdemokraten, die wir oft mit der EVP kooperiert haben, eine große Herausforderung. Ich stelle daher etwas klar: Ich werde nie die Unterstützung der Rechtsextremen in Anspruch nehmen, um Kommissionspräsident zu werden. Mit politischen Unterschieden können wir schon umgehen, aber wenn man grundsätzliche Unterschiede im Menschenbild hat, gibt es ein Problem. Ich kann einfach nicht damit leben, dass man Menschen nach Religion, Herkunft oder Kultur ausgrenzt. Das geht viele Schritte zu weit. Und die Rechtsextremen machen das überall.
Frans Timmermans, 57
Erster Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für bessere Rechtsetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Nachhaltigkeit. Der niederländische Politiker ist Spitzenkandidat der Europäischen Sozialdemokraten für die Europawahlen und bei einem SPE-Wahlsieg Anwärter auf die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Präsident der nächsten EU-Kommission. Zum Wahlkampfstart der SPÖ für die Europawahlen wird Timmermans als Hauptgast am 6. April in Wien eine Rede halten.