Europa, wo bist du geblieben?
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Die regierende europäische Politik „schaltet abweichende Standpunkte aus“, unterdrücke die Meinungsfreiheit und „zerstört“ so „die Demokratie“. Stille im vollbesetzten Auditorium vorvergangenen Freitag im Bayerischen Hof in München. Politiker, Diplomaten und Sicherheitsexperten tauschten erschrockene und ratlose Blicke aus. Am Rednerpult der Münchner Sicherheitskonferenz stand nicht etwa Wladimir Putin oder ein anderer erklärter Feind Europas, der das europäische Establishment mit wüsten Anschuldigungen herauszufordern versuchte. Es war US-Vizepräsident J.D. Vance, der den demokratisch gewählten Regierungspolitikerinnen und -politikern vorwarf, „vor lauter Angst den eigenen Wählern davonzulaufen“, weil sie sich weigerten, mit Parteien wie der AfD zu kooperieren, und der sie mit sowjetischen Machthabern verglich.
War das bloß eine heillos überzogene Provokation, oder überbrachte Vance mit seiner aufsehenerregenden Rede den europäischen Verbündeten die Botschaft, dass die transatlantische Beziehung der freundschaftlichen, wertebasierten Kooperation mehr oder weniger Geschichte sei?
Inzwischen ist klar: Letzteres ist der Fall. Auf den rhetorischen Ausritt des US-Vizepräsidenten in München folgten in atemberaubender Geschwindigkeit weitere Affronts.
Russland-Verhandlungen ohne Europa
Die Trump-Administration traf sich am Dienstag in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad zu Gesprächen mit Russland. Weder die Europäer noch die Ukraine waren eingeladen. Es waren die ersten direkten Gespräche zwischen Washington und Moskau auf hoher politischer Ebene seit der russischen Aggression gegen die Ukraine vor drei Jahren.
US-Außenminister Marco Rubio saß seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow im opulenten Diriyah-Palast in Riad gegenüber. Ein noch vor wenigen Wochen undenkbarer Anblick und ein Bruch mit der bisher vom Westen strikt befolgten Haltung „Keine Gespräche über die Ukraine ohne die Ukraine“.
US-Regierungsvertreter spielten die Bedeutung des Ausschlusses Kiews und auch Europas herunter und bezeichneten das Treffen als Vorbereitung für spätere Verhandlungen und einen möglichen Trump-Putin-Gipfel. Tatsächlich blieb aber völlig offen, ob und wann die Ukraine und die Europäer in Friedensgespräche einbezogen würden, auch wenn US-Außenminister Rubio vage Zusicherungen machte.
Vielmehr kam die neue US-Regierung den Forderungen Putins wohlwollend entgegen, noch ehe die Verhandlungen begonnen hatten. Russland hatte im Vorfeld der Gespräche darauf bestanden, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für die Zukunft auszuschließen. US-Verteidigungsminister Pete Hegseth schien dieser Forderung bei einem Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe vergangene Woche in Brüssel zuzustimmen. Zudem sei eine Rückkehr zu den Grenzen von 2014 „unrealistisch“, sagte er, was für die Ukraine bedeuten würde, dass sie Gebiete aufgeben müsste, die in den letzten drei Jahren von Russland erobert wurden. Die USA und Russland arbeiten zudem bereits an der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen. Rubio schwärmte bereits von „unglaublichen Möglichkeiten“ der Zusammenarbeit mit Russland in der Zukunft.
Für all das brauchte Russland keine Gegenleistung zu erbringen.
Stattdessen brach US-Präsident Donald Trump öffentlichkeitswirksam einen Streit mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom Zaun. Er bezeichnete diesen in einer Rede als „Diktator“ und beschuldigte ihn, den Krieg unnötig in die Länge gezogen zu haben. Kritische Worte zu Wladimir Putin äußerte Trump nicht. Zur Erinnerung: Die russischen Streitkräfte überfielen am 24. Februar 2022, also vor genau drei Jahren, die Ukraine und führen dort seither einen Eroberungskrieg.
Europa wird verwundbar
In den europäischen Hauptstädten wächst nun die Sorge, dass Amerika den Konflikt in der Ukraine zu Putins Bedingungen lösen und damit auch die europäische Sicherheit aufs Spiel setzen könnte. Die Situation ist gefährlich, denn in der Ukraine entscheidet sich nach Einschätzung vieler Experten auch die Sicherheit Europas.
Russland könnte innerhalb von fünf Jahren bereit sein, einen „groß angelegten Krieg“ in Europa zu führen.
Aus einem Bericht des dänischen Verteidigungsnachrichtendienstes
In einem viel beachteten Bericht des dänischen Verteidigungsnachrichtendienstes vom 9. Februar heißt es, dass Russland bereit sein könnte, innerhalb von fünf Jahren einen „groß angelegten Krieg“ in Europa zu führen, wenn der Krieg in der Ukraine eingefroren wird und Moskau die NATO und Europa als schwach und gespalten wahrnimmt.
„Dies gilt insbesondere dann, wenn Russland davon ausgeht, dass die USA die europäischen NATO-Staaten in einem Krieg mit Russland nicht unterstützen können oder wollen“, heißt es in dem Bericht. Zudem warnen ukrainische und baltische Geheimdienste seit einiger Zeit davor, dass Russland einen Waffenstillstand in der Ukraine nutzen könnte, um sich militärisch neu zu formieren.
Putin will mit Trump über eine Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur sprechen und nicht nur über den Ukraine-Konflikt. Beide haben bisher kein Interesse daran erkennen lassen, die Europäer in diese Gespräche einzubeziehen. Kremlsprecher Dimitry Peskov sagte vergangenen Dienstag, dass eine langfristige Lösung des Ukraine-Konflikts ohne „eine umfassende Berücksichtigung von Sicherheitsfragen auf dem europäischen Kontinent“ nicht möglich sei.
Wie könnte eine solche „umfassende Berücksichtigung“ aussehen? Vergangene russische Forderungen könnten hier aufschlussreich sein.
Im Dezember 2021 forderte Russland die Amerikaner auf, alle US-Truppen aus Ost- und Mitteleuropa abzuziehen und sich auf die Positionen von 1997 – also auf die Grenzen vor der NATO-Osterweiterung – zurückzuziehen. Russland hat fast drei Jahrzehnte lang immer wieder betont, dass es seine Sicherheit durch die NATO-Erweiterung bedroht sieht.
Diese Forderung wurde damals als Ultimatum Russlands an die NATO verstanden und vom Westen zurückgewiesen. Zwei Monate später begann Russland seine Invasion der Ukraine.
Viele hochrangige Europäer befürchten nun, dass Putin seine Forderungen an die NATO und die USA wieder aufleben lassen könnte. Auch stellt sich die Frage, ob Trump in Verhandlungen bereit sein könnte, die 20.000 US-Soldaten von der sogenannten NATO-Ostflanke abzuziehen, die die Amerikaner nach der russischen Invasion im Februar 2022 zusätzlich stationiert haben.
Dieses oder ähnliche Szenarien, in denen die USA einen Teil ihrer insgesamt 100.000 Soldaten in Europa reduzieren könnten, würden den europäischen Kontinent verwundbar machen.
Wie viel muss Europa also in das eigene Militär investieren?
Als Erstes muss sich Europa Gedanken über eine eigene Abschreckung machen. Dazu zählt der Schutz des eigenen Luftraums, sagt Markus Reisner, Oberst des Generalstabsdienstes beim Österreichischen Bundesheer. Denn dieser sei, so stand es vor Kurzem in der „Financial Times“ zu lesen, nach derzeitigem Wissenstand nur zu fünf Prozent geschützt. Und: Viele der Fliegerabwehrsysteme wurden in die Ukraine geschickt, aber in Europa nicht ersetzt. Sie fehlen jetzt.
„Zusätzlich wird man wesentlich die Rüstungsanstrengungen in den europäischen Staaten erhöhen müssen, um rasch Ausrüstung, Gerät und Munition zu produzieren und nachzurüsten.“ Dafür müsste man jedenfalls mehr als zwei Prozent des BIP in militärische Ausgaben investieren, so Reisner. Das Problem sei, dass diese Anstrengungen auch „mit einem politischen Willen hinterlegt werden müssen“, sagt der Militärexperte. Denn bei derartig hohen Ausgaben für militärische Zwecke würde natürlich weniger Geld für andere Aufgaben wie Sozialausgaben oder Klimaschutz übrig bleiben. Und mit derartigen Ankündigungen lassen sich eher keine Wahlen gewinnen. Hier setzt Russland mit seinen Beeinflussungskampagnen an.
Der Gaza-Plan – ohne Europa
Die Herzlichkeit war nicht gespielt. Mit den Worten „mein lieber Freund Marco“ begrüßte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu vergangenen Sonntag US-Außenminister Marco Rubio in Jerusalem. Es war kein diplomatischer Besuch wie viele andere zuvor. Die Nahostpolitik ist in eine neue Ära eingetreten. Zwei Freunde, die USA und Israel, haben beschlossen, den seit Jahrzehnten währenden Konflikt auf eine neue Weise anzugehen, und sie haben nicht vor, andere Beteiligte hinzuziehen. Im konkreten Fall bleiben die Palästinenser und Europa außen vor.
Rubio vermied auf seiner Reise jeglichen Kontakt zu Vertretern der Palästinensischen Autonomiebehörde. Ramallah, deren inoffizielle Hauptstadt, war ihm im Gegensatz zu Visiten vergangener US-Außenminister keinen Halt wert. Wie nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 die Strategie für eine Führung in Gaza genau aussieht, ist derzeit unklar. Eine Machtübernahme durch die Palästinensische Autonomiebehörde schließt Israel aus. „Wir haben eine gemeinsame Strategie, und wir können die Details dieser Strategie nicht immer mit der Öffentlichkeit teilen“, sagte Netanjahu bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Rubio. Auch die europäische Politik ist zu ihrem Leidwesen ein Teil dieser Öffentlichkeit, die über wesentliche Elemente im Dunkeln gelassen wird.
Bekannt ist bloß der grobe Plan, den US-Präsident Donald Trump erdacht hat und den Rubio und Netanjahu eine „mutige Vision“ nennen. Er besteht darin, dass die palästinensische Bevölkerung von Gaza, rund 2,2 Millionen Menschen, „abgesiedelt“ wird, und das „freiwillig“. Allerdings deutet bisher nichts darauf hin, dass die Betroffenen gefragt werden sollen, ob sie Gaza verlassen möchten, und es scheint auch nicht vorgesehen, dass sie nach dem erfolgten Wiederaufbau ihrer Heimat wieder dorthin zurückkehren können. Eine erzwungene Umsiedlung jedoch verbietet das Völkerrecht unter der Bezeichnung „Vertreibung“.
Rubio bekannte ein, dass Trumps Plan „manche Leute geschockt und überrascht“ habe. Unter diesen Leuten sind auch Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron – „nicht machbar und ungesetzlich“; die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock – „inakzeptabel und völkerrechtswidrig“; und viele andere europäische Politiker. Doch das kümmert Trump und Netanjahu nicht. Die Europäische Union spielt in ihren Überlegungen keine Rolle. Die „Zweistaaten-Lösung“, also ein Staat Palästina neben dem Staat Israel, ist in Rubios Augen eine „müde Idee“ der Vergangenheit, ebenso wie die mühsamen Verhandlungen unter Einbeziehung von EU, Vereinten Nationen und vormals auch Russland.
Damit steht Europa also auch in dieser geopolitischen Frage im Abseits.
Wird es sich wehren? Kurzfristig wohl mit geringen Erfolgsaussichten. Israel und die USA können gemeinsam handeln und Einwände aus Europa ebenso ignorieren wie die Rechte der Palästinenser und die Charta der Vereinten Nationen.
Allerdings konnte sich Israel bisher darauf verlassen, dass die EU die Lebensgrundlage der palästinensischen Bevölkerung finanziell absicherte – etwas, das es selbst nicht tun wollte. Im Falle einer Vertreibung würde Europa wohl kaum als ökonomischer Komplize herhalten wollen.
Ein Kontinent ohne Leadership
Die große Unsicherheit in Europa und die Angst, allein gelassen zu werden, haben zu hektischer Diplomatie unter der Führung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron geführt.
Bei einem informellen Ad-hoc-Gipfel am Montag in Paris, bei dem eine gemeinsame Antwort auf die amerikanisch-russischen Gespräche gefunden werden sollte, stritten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs jedoch erneut. Angesichts der Bedrohungslage kein gutes Zeichen.
Um Geschlossenheit bemüht und demonstrativ gut gelaunt empfing Macron einen Staatsgast nach dem anderen auf dem roten Teppich in Paris: Herzliche Begrüßung für den britischen Premierminister Keir Starmer, Umarmung für NATO-Generalsekretär Mark Rutte, gefolgt von Wangenküssen für den spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
So präsentiert sich Macron einmal mehr als Krisenmanager in Europa. Der Mann im Élysée-Palast versteht sich auf große Gesten und wohlformulierte Visionen, doch sein politisches Gewicht hält mit diesem Anspruch nicht mehr Schritt. Innenpolitisch steht Macron unter Druck, seit den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr muss der Präsident mit einer Minderheitsregierung vorliebnehmen.
Deutschland ist derweil wegen des Aufstiegs der AfD politisch in Aufruhr, Großbritannien bekanntlich nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Eine dringend benötigte Führungsfigur in Europa sucht man vergeblich.
Im Mittelpunkt der Beratungen der Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Großbritannien, Italien, Polen, Spanien, den Niederlanden und Dänemark stand jedenfalls die Frage, welche Sicherheitsgarantien die NATO-Verbündeten ohne die USA für die Ukraine geben können. Auch die Entsendung von Friedenstruppen in die Ukraine für den Fall eines Waffenstillstands wurde diskutiert.
Großbritannien zeigte sich in einer ersten Reaktion bereit, Soldaten zur Überwachung eines künftigen Friedensabkommens in die Ukraine zu entsenden. Deutschland, Italien, Polen und Spanien schossen quer und lehnten die Entsendung eigener Soldaten ab.
Reisner weist darauf hin, dass diese Uneinigkeit allerdings auch damit zu tun haben könnte, dass zentrale Fragen einer möglichen Friedenstruppe noch nicht geklärt sind.
US-Verteidigungsminister Hegseth hat verkündet, dass eine Friedenstruppe in der Ukraine nicht durch den Artikel 5 der NATO abgedeckt wäre. Reisner sagt, dass es deshalb notwendig sein wird, zu klären, wie etwaige europäischen Soldaten in der Ukraine abgesichert wären, falls Russland angreift. Oder anders gesagt: Es braucht eine eindeutige Abschreckung, die verhindert, dass Russland angreift.
Dafür braucht es entweder amerikanische Sicherheitsgarantien – oder Europa wird sich demnächst auch darüber Gedanken machen müssen, die eigene nukleare Abschreckung zu erhöhen, so Reisner.
Aber in all diesen Fragen ist Europa uneins.
Man könnte fast sagen, dass es ein Muster in Europa gibt. Wenn eine große Krise über den Kontinent hereinbricht, wird erst einmal lange und ausgiebig diskutiert. So war es in der Finanzkrise, in der Migrationskrise und in verschiedenen außenpolitischen Fragen, wie etwa den Sanktionen gegen Russland.
Auf diese Uneinigkeit setzt der russische Präsident Putin. Er hat in Europa inzwischen genügend Länder und Parteien, die als seine Sprachrohre fungieren, allen voran der ungarische Premier Viktor Orbán, der immer wieder Hilfspakete für die Ukraine blockiert hat, aber auch der prorussische slowakische Premier Robert Fico sowie die AfD, die FPÖ und andere Rechtsaußen-Parteien.
Es ist ein extrem ungünstiger Zeitpunkt für Uneinigkeit. Trump drückt aufs Tempo und ist im Begriff, Tatsachen zu schaffen. Reisner bringt es so auf den Punkt: „Wo Trump draufsteht, ist auch Trump drinnen.“ Europa solle sich also nicht wundern.
Die USA wollen keine eigenen Friedenstruppen entsenden und verlangen von Europa, den Großteil der künftigen Hilfe für die Ukraine allein zu schultern.
Aber auch Europa hat einen wichtigen Hebel in der Hand. Ein drohender Rückgang der US-Unterstützung für die Ukraine könnte durch die eingefrorenen russischen Währungsreserven kompensiert werden. Rund 300 Milliarden Dollar eingefrorener russischer Guthaben liegen vor allem bei europäischen Banken. Eine beträchtliche Summe, die von Europa angezapft werden könnte, um die ukrainische Wirtschaft und Verteidigung weiter zu unterstützen.
Aber bisher war man hier zögerlich, auch aus Sorge davor, wie Russland auf so einen Schritt reagieren würde.
Doch es bedarf klarer und mutiger Entscheidungen in Europa, und es braucht eine umfassende Strategie. Ohne diese kann die europäische Sicherheit langfristig nicht gewährleistet werden. Zwei große Hindernisse stehen dem entgegen.
Erstens das Geld: Um sich in Zukunft von den USA emanzipieren zu können, müsste Europa deutlich mehr in seine Sicherheit investieren. Auch die angestrebten zwei oder drei Prozent gemessen am BIP würden dafür nicht reichen.
Zweitens kommt einer europäischen Selbstermächtigung die zunehmende Popularität von rechten Parteien in die Quere. Diese argumentieren nicht nur prorussisch, sondern verlangen auch mehr Souveränität für die Nationalstaaten – auf Kosten der Europäischen Union.
Europas läuft Gefahr, nicht nur von Donald Trump kaltgestellt zu werden, sondern dabei auch noch tatenlos zuzusehen.
Mitarbeit: Robert Treichler