Tsunami 2004: Als das Wasser kam
Von Josef Barth, Alexander Dunst, Sibylle Hamann, Julia Heuberger und Martin Staudinger
Bevor die See über die Menschen kam, zog sie sich noch einmal
zurück. Als ob sie Kraft sammeln wollte für ihren vernichtenden
Schlag. Als ob sie versuchte, ihre Opfer zu täuschen. Es ist Sonntag,
der 26. Dezember 2004, der zweite Weihnachtsfeiertag, an den
Touristenstränden der thailändischen Westküste. Gegen halb elf Uhr Früh
beobachten Einheimische und Urlauber ein seltsames Phänomen.
Eigentlich sollte die Ebbe erst nach Mittag einsetzen. Aber schon
jetzt, Stunden vor der Zeit, beginnt der Meeresspiegel rapide zu
sinken. Meter um Meter fällt der Strand trocken. Aus dem Wasser
tauchen Korallenriffe und Felsformationen auf, die sonst nur Taucher
zu Gesicht bekommen. Wo gerade noch eine träge Brandung schwappte,
bildet sich ein weites Watt. Boote liegen auf Grund, Fische zappeln
im Sand, Thai-Kinder laufen hinaus, um Muscheln und Krabben zu
suchen.
In Khao Lak, hundert Kilometer nördlich der Ferienhochburg Phuket,
späht Eduard Issel, Immobilienfachmann aus Wien, durch seinen
Feldstecher auf die leer gelaufene Lagune und das vorgelagerte Riff.
Mit einem Mal beginnt das Meer draußen zu brodeln.
Dann kommt es zurück: als meterhohe Wand aus Wasser, mit enormer
Geschwindigkeit und verheerender Wucht, die weit über die Küstenlinie
hinausschießen und das größte Überschwemmungsdesaster der bekannten
Geschichte verursachen wird.
In Issels Feldstecher scheint das Riff zu explodieren, als die
Welle an ihm bricht. Es ist, als würden im Wasser auf einen Schlag
hunderte Bomben gezündet: Vierzig, fünfzig Meter hoch schießen
Fontänen in die Luft, dann strömt die Flut weiß schäumend in die
Lagune herein.
Issel starrt auf die Woge, die auf ihn zurast. Er starrt auf die
Frau, die neben ihm in ihrem Liegestuhl sitzt und sich gerade noch
mit ihm unterhalten hat: eine gehbehinderte Pensionistin,
Langzeiturlauberin aus Deutschland.
Laufen Sie!, sagt die Frau zu ihm. Bitte! Laufen Sie! Mal
kucken, was da kommt. Und legt die Hände in den Schoß. Und schaut in
Erwartung ihres eigenen Todes aufs Meer hinaus.
Und Issel läuft.
Es ist, genauer kann das im Chaos keiner sagen, knapp vor elf Uhr
Ortszeit, als die erste von insgesamt drei Flutwellen die
thailändische Westküste überrollt, Schnorchler über scharfkantige
Korallen an den Strand schleift, Sonnenanbeter ins Meer hinaussaugt,
Autos und Mopeds von den Promenaden und Straßen, Tische und Sessel
von Terrassen spült, in Hotellobbys, Restaurants und Geschäfte
donnert.
Fast zur gleichen Zeit verheeren die Wasserberge 2000 Kilometer
weiter westlich die Küste von Sri Lanka, wenig später die
Fischerdörfer des südindischen Bundesstaats Tamil Nadu. Schon Stunden
zuvor haben sie Indonesien und die Inselgruppe der Nikobaren und der
Andamanen verwüstet. Sie jagen mit mehr als 700 km/h Richtung Westen,
über das Atoll der Malediven hinweg, und weiter, immer weiter, auf
Ostafrika zu.
Mancherorts kommen sie als steil aufragende Brecher, anderswo als
brodelnde Gischt, die Unrat und Müll mit sich schwemmt. Als Fontänen,
die an Uferdämmen entlangpeitschen. Als reißender Strom, der Hütten,
Hausrat und Menschen vor sich herschiebt. Oder auch nur als still,
aber schnell und unaufhaltsam steigendes Wasser.
Aber alle sind vor ihnen gleich: die Bewohner der windschiefen
Wellblechhütten von Chennai und die Pauschalurlauber von Phuket, die
Fischer in Indonesien und die Tauchsportler auf den Malediven. Sie
werden von Treibgut unter Wasser gedrückt, gepfählt, zerquetscht, sie
ertrinken.
Die Studentin Carmen Handle aus Tirol und Poom Jensen, der Enkel
des thailändischen Königs Bhumipol Adulyadej. Und all die anderen.
Am Morgen des Stefanitages 2004 sterben an den Küsten des
Indischen Ozeans letzten Schätzungen zufolge 130.000 Menschen,
darunter möglicherweise 100 Österreicher. Millionen verlieren ihr
Heim, ihr Hab und Gut, ihre Existenzgrundlage. Die Zahl der Opfer
dürfte in den nächsten Tagen und Wochen noch weiter steigen: Nach der
großen Flut kommt die große Wassernot. Und dann kommen die
Krankheiten.
Es ist die schlimmste Überschwemmung seit Beginn der
Aufzeichnungen - schlimmer noch als jene, die im Jahr 1883 der
Explosion des Vulkans Krakatau in der Sunda-Straße zwischen Java und
Sumatra folgte. Damals wurden in Indonesien 36.400 Todesopfer
gezählt.
Ihren Anfang hat sie wenige Stunden zuvor tief im Erdinneren
genommen: mit einem Seebeben vor der indonesischen Insel Sumatra.
Sonntag Früh, im Indischen Ozean
Um 7.58 Uhr und 50 Sekunden Ortszeit schiebt sich im Epizentrum
des Bebens, auf 3298 Grad nördlicher Breite und 95.779 Grad östlicher
Länge, rund zehntausend Meter unter der Erdoberfläche die
Indisch-Australische Kontinentalplatte unter die Eurasische Platte
und hebt diese mit einem Ruck um dreißig Meter an.
Der Druck der Gesteinsmassen presst den Meeresboden entlang einer
mehrere hundert Kilometer langen Bruchlinie ruckartig
nach oben. In diesem Moment werden im Golf von Bengalen kaum
vorstellbare Energiemengen freigesetzt - umgerechnet so viel, wie die
gesamten USA im Verlauf eines Jahres an Strom verbrauchen. Durch den
Stoß kippt die Erdachse um 2,5 Zentimeter.
Wenig später registriert das Pacific Tsunami Warning Center (PTWC)
in Ewa Beach auf Hawaii den Erdstoß, zwölf Minuten nach dem Beben
zeichnet auch ein Seismograf an der Wiener Zentralanstalt für
Meteorologie und Geodynamik die Schockwellen auf. Ihre Stärke wird
erst mit 8,9, später mit 9,0 auf der Richterskala angegeben. Der
höchste jemals gemessene Wert lag bei 9,5, im Jahr 1960 vor Chile.
Die Weltkugel vibriert nach dem Seebeben im Indischen Ozean wie
eine Glocke und wird es noch einige Tage tun, sagt Enzo Boschi,
Direktor des nationalen italienischen Geophysikinstituts INGV.
Dann erzittert nördlich der Andaman-Inseln der Meeresboden erneut,
diesmal mit einer Stärke von 7,3 auf der Richterskala.
In den Hotels am Strand von Khao Lak, rund hundert Kilometer
nördlich von Phuket, nehmen die Urlauber nur ein leichtes Rütteln
wahr.
Im Doppelbett ihres Bungalows scherzen Michaela Dörflinger und ihr
Lebensgefährte Otto Skrube angesichts der Erschütterung noch dösig
vor sich hin: Seltsames Weckservice, das die hier haben. Sie
verzichten darauf, ihren 13 Jahre alten Sohn Mario zu wecken. Und
schlafen weiter bis halb zehn.
Während sich auf Phuket Waltraud und Johann Marold, wie jeden Tag
um viertel nach neun, aus dem Hotel Cabana, hundert Meter vom Meer
entfernt, auf den Weg zum Strand machen.
Während vor der Küste Sri Lankas eine Flotte von Holzbooten
dümpelt. Mohamed Sabib, Fischer aus Maradana, wirft die Netze aus.
Sein Dorf zählt vielleicht hundert Häuser, die Bewohner leben vom
Fischfang oder von der Arbeit in einer der Hotelanlagen. Sonntag ist
ein Arbeitstag wie jeder andere.
Während der Regisseur Helmut Voitl im nahe gelegenen Bentota ein
Bad nimmt und die Filmemacherin Elisabeth Guggenberger auf der
Terrasse meditiert. Irgendetwas ist in der Natur los, sagt Voitl
beim anschließenden gemeinsamen Frühstück, es ist acht Uhr in
Bentota: Irgendetwas stimmt da nicht. Die Fliegen schwirren mit
einem Mal wie aufgescheucht im Zickzack hin und her, ganz anders als
sonst. Voitl hat lange für den Verhaltensforscher Konrad Lorenz
gearbeitet, er kennt sich ein bisschen aus in der Tierwelt. Er denkt
an ein herannahendes Gewitter. Oder einen Wetterumschwung.
Während auf der Malediveninsel Bandos der Pilot Dieter Malina
seine Sachen zusammenpackt, um zum Flughafen von Male zu fahren. Dort
steht seine Maschine - eine Turboprop ATR 42, die er von Dänemark
nach Jakarta überstellen soll, Abflug in drei Stunden. Auch Malina
hat, mehr als 2500 Kilometer vom Epizentrum entfernt, das Beben
gespürt.
Während im Nordosten der Inselgruppe Emmerich Steiner,
Regierungsrat der niederösterreichischen Landesregierung i. R., über
einen Teller Eierspeise mit klein gehackten Pilzen auf den
Bilderbuchstrand des Meeru Island Resorts hinausblickt und überlegt,
ob er noch einen Abstecher zum Kuchenbuffet unternehmen soll.
Während ein ganz normaler Sonntagmorgen seinen Lauf nimmt, ist
Banda Aceh bereits zerstört.
Sonntag Früh, Banda Aceh, Indonesien
65 Kilometer liegen zwischen dem Epizentrum des Erdbebens und der
nächstgelegenen Küste: dem Nordwestrand der indonesischen Insel
Sumatra, mit der Provinz Banda Aceh und der gleichnamigen
Provinzhauptstadt. 65 Kilometer sind nicht viel. Auch in Banda Aceh
bebt die Erde mit einer Stärke von 9,0, und schon allein das würde
reichen, um Häuser dem Erdboden gleichzumachen. Doch dann ist auch
schon das Wasser da, die Welle braucht für die Distanz nur
unwesentlich länger als die Bodenerschütterungen.
In Banda Aceh leben 4,3 Millionen Menschen. Es sind die ärmsten
Indonesiens, und es sind die gläubigsten Moslems im Inselstaat. Man
hat von den Menschen in Banda Aceh nicht viel gehört in den letzten
Jahren. Sie sind gefangen zwischen den Fronten eines fruchtlosen
militärischen Konflikts, seit 28 Jahren schon.
GAM, Bewegung für ein freies Aceh, heißen die angeblich 5300
bewaffneten Rebellen, die vom schwedischen Exil aus befehligt werden
und für die Unabhängigkeit der Provinz kämpfen. 13.000 Kriegstote gab
es bisher, die Kosten für die staatliche Militäroperation sind
dreimal so groß wie das gesamte Budget der Provinz. Seit einer
Militäroffensive Anfang 2003 herrscht das Kriegsrecht, seit Mai
dieses Jahres immer noch ein ziviler Ausnahmezustand.
Das bedeutet: Hilfsorganisationen und Journalisten ist der Zutritt
verwehrt. Der Krieg hat die Menschen von der Außenwelt abgeschnitten.
An diesem Sonntagmorgen hört man aus Banda Aceh deswegen gerade
noch, dass der Kontrollturm des Flughafens kaputt ist, das Flugfeld
unter Wasser steht, keine Flugzeuge mehr landen können. Dann sind die
Telefonleitungen unterbrochen, und man hört lange nichts mehr.
Banda Aceh ist das schwarze Loch dieser Katastrophe und wird es
noch bleiben, tagelang.
Sonntag Früh, Europa
Die ersten Nachrichten aus der Region klingen noch nicht
sonderlich dramatisch: Ein Tsunami habe in Indonesien mehrere
Menschenleben gefordert, berichtet eine lokale Radiostation,
Küstenbewohner seien ins Landesinnere geflüchtet. Viele Europäer
wissen da noch nicht einmal, was ein Tsunami eigentlich ist.
Um 4.23 Uhr mitteleuropäischer Zeit - knapp vor halb elf Uhr in
Indonesien und Thailand - sendet die Austria Presse Agentur (APA)
eine erste Meldung aus: Starkes Erdbeben mit Flutwelle in Indonesien
- neun Tote.
Nur die internationalen Hilfsorganisationen hören zu diesem
Zeitpunkt schon genauer hin - dafür sind sie da. Sie haben ein
Alarmsystem und detallierte Einsatzpläne für Krisen wie diese. Ärzte
ohne Grenzen etwa kann innerhalb von 24 Stunden seine Helfer samt
Ausrüstung mobilisieren. Die Organisation ist bekannt dafür, dass sie
oft als erste vor Ort ist, und zwar vor allem dort, wo sonst keiner
ist. Dafür braucht es Erfahrung, eine nüchterne Einschätzung der Lage
und Informationen.
Sonntag Früh liegt schon alles bereit, falls es gebraucht werden
sollte: In Bordeaux und in Brüssel stehen die Logistikzentren von
Ärzte ohne Grenzen, samt Lagerhallen. Jedes Katastrophenszenario
hat einen Code, je nach Art des Unglücks, klimatischen Verhältnissen,
Krankheitsgefahren im betroffenen Gebiet, und für jedes Szenario gibt
es vorab gepackte Kits, vom Zoll bereits abgefertigt, bereit zum
Verladen. Ein Notfallkit enthält Medikamente, Verbandsmaterial,
Hygieneartikel, einfache medizinische Geräte - 24 Kisten, 830 Kilo,
3,1 Kubikmeter, die ausreichen, um 10.000 Flüchtlinge drei Monate
lang zu versorgen.
Sonntag Früh, wenige Stunden nach dem Beben, ist noch nicht klar,
welcher Code eingegeben wird - und ob überhaupt. Das Chaos ist erst
dabei, sich seine Schneisen zu schlagen.
Sonntagvormittag, Thailand
Der furchtbarste Moment, sagt Michaela Dörflinger, war der, als
das Wasser unseren Sohn weggerissen hat. Als der Tsunami über Khao
Lak zusammenschlägt, sind sie, ihr Lebensgefährte Otto Skrube und
Mario gerade dabei, sich anzuziehen. Sie flüchten aus ihrem Bungalow,
Skrube schreit nur ein Wort: Baum! Die beiden Erwachsenen schaffen
es, sich an einen Stamm zu klammern, der Dreizehnjährige erwischt nur
einen Palmwedel. Er verschwindet in der braunen Suppe.
Es war eine todbringende Walze, die da über die Küste gerollt
ist, sagt Eduard Issel, in der alles enthalten war: Abfall, Sand,
Geröll, Liegestühle, Mauerteile, Menschen, Palmen.
Allein in Khao Lak sterben in diesen Stunden mehr als tausend
Menschen, darunter vermutlich auch dutzende Österreicher. Ich habe
Menschen gesehen, denen Körperteile von Splittern durchbohrt wurden,
sagt Issel. Menschen, denen Hände oder Arme abgetrennt wurden.
Mario ist ein guter Schwimmer und hat Glück. Er wird von den
Wassermassen hundert Meter mitgespült und hangelt sich dann, mit
gebrochenem Arm, über einen Balkon ins Hotel.
Auf Phuket wird Johann Marold von der ersten Flutwelle erfasst,
als er hinter seiner Frau Waltraud zum Hotel flüchten will. Der
Brecher spült ihn über einen Zaun und durch den Hotelpool. Irgendwo
kann er sich festhalten und dabei noch eine Frau mit einem Kind an
der Hand zu sich ziehen. Kurz bevor die dritte und größte Woge kommt,
rettet er sich in die Lobby.
Auf Phi Phi Island, jener thailändischen Insel, die als Drehort
für die Verfilmung des Psychothrillers The Beach diente, kommt der
Schriftsteller Josef Haslinger beinahe unter einem Wellblechstück zu
Tode, das ihn ins Wasser drückt. Das ist so, als wäre man eine
Ameise, die den Abfluss hinuntergespült wird, wird er später
erzählen.
Sonntag Früh, Österreich
In Kärnten, wo Ursula Plassnik die Weihnachtsfeiertage verbringt,
klingelt im Morgengrauen das Telefon. Die ÖVP-Außenministerin, erst
seit kurzem im Amt, wird vom Journaldienst ihres Hauses über die Lage
informiert: Routinesache, sobald die Vermutung besteht, dass
Staatsbürger im Ausland ums Leben gekommen sein könnten. In der
Region befinden sich an die 3000 Landsleute.
In Österreich ist es jetzt knapp nach fünf Uhr Früh. Das Land
schläft sich in den zweiten Weihnachtsfeiertag.
APA-Meldung 0024, 5.41 Uhr Mitteleuropäische Ortszeit (MEZ):
Flutwelle reißt Touristen auf thailändischer Ferieninsel ins Meer.
APA 0025, 5.50 Uhr MEZ: Zehn Tote bei Flutwelle nach Erdbeben an
Küste Sri Lankas.
APA 0028, 6.04 Uhr MEZ: VORRANG - Erdbeben in Südostasien. 160
Tote nach Flutwelle in Sri Lanka, 100 Verletzte in Thailand.
Bei den Nothilfe-Organisationen laufen die Telefone heiß. Wie
schlimm ist es wirklich? Welche Mitarbeiter sind bereits in der Nähe
der Krisengebiete? Sie werden losgeschickt, um sich ein Bild der Lage
zu machen. Es wird noch ein paar Stunden dauern, bis man
Entscheidungen treffen kann.
Sonntagvormittag, Sri Lanka
Die Einwohner der besseren Viertel in der Hauptstadt Colombo
bekommen von der Welle gar nicht so viel mit. Colombo liegt an der
Südwestküste der Insel. Im Hafen krachen ein paar große Schiffe gegen
die Kaimauern. In den Kanälen, die die Stadt durchkreuzen, schwappt
der Wasserspiegel hoch und schwemmt Möbel, Matratzen und andere
Habseligkeiten an. Es hat die Slums weggerissen, die nah am Wasser
standen, die Schaulustigen stehen auf den Brücken und schauen zu, was
vorbeitreibt. Sie ahnen das Ausmaß der Verheerung nicht, nur wenige
Kilometer weiter im Süden.
Matara liegt dort, 60 Kilometer weit weg, an der Küste. Jeden
Sonntag findet hier der Wochenmarkt statt, auch heute. Chandana
Wickremaratne ist der örtliche Polizeichef, und er kann es nicht
fassen: Es hat alles einfach weggewaschen, sagt er. Standler,
Kunden, Waren, Spaziergänger, alle, alles. Im örtlichen
Hochsicherheitsgefängnis drückt das Wasser die Mauern ein, 300
Gefangene nützen die Gelegenheit zur Flucht.
Eine vollbesetzte Eisenbahngarnitur ist auf der Strecke zwischen
Colombo und Galle unterwegs. Es reißt sie weg, samt Schienen und 1500
Fahrgästen, von denen keiner überlebt, aber das wird man erst zwei
Tage später erfahren.
Die Mauern von Galle, einer historischen Hafenstadt an der
Südspitze der Insel, haben schon viel ausgehalten. Sie gehören zu den
Befestigungsanlagen des alten Forts aus der holländischen
Kolonialzeit. Im vergangenen Jahr erst sind sie renoviert worden;
Galle ist von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden. Jetzt
reicht den Menschen plötzlich das Wasser bis zum Kinn, sie klammern
sich an umgestürzte Busse, an aus den Angeln gehobene Türen, im
Hintergrund kreischen die Alarmanlagen der fortgeschwemmten Autos.
Der Geschäftsmann Thivanka Kandy beobachtet eine Gruppe von sechs
halbwüchsigen Mädchen, die zum Einkaufen durch die Altstadt
schlenderten. Sie klammerten sich an eine Säule. Dann verlor eine
von ihnen den Halt, und alle anderen ließen ebenfalls los.
Wahrscheinlich wollten sie ihrer Freundin helfen. Mögen sie im
Jenseits dafür belohnt werden.
Ocean is coming!: Die Warnrufe der Hotelangestellten haben am
späten Vormittag auch die Filmemacher Helmut Voitl und Elisabeth
Guggenberger aus der Ruhe gerissen. Ihre Unterkunft liegt sicher auf
einer Anhöhe. Von dort aus müssen sie mit ansehen, wie die Küste
ertränkt wird. Voitl sieht 15 Meter lange Fischerboote, die von der
Wucht des Wassers hunderte Meter ins Landesinnere katapultiert
wurden. Er sieht einzelne Hausmauern, die aus dem Trümmerfeld ragen.
An manchen hängt noch ein gerahmtes Familienfoto oder ein Spiegel.
Mohamed Sabib hingegen hat von der Killerwelle, die unter seinem
Fischerboot durchgelaufen ist, nicht mehr gemerkt als ein leichtes
Schaukeln. Er hat sich nichts dabei gedacht. Gegen Mittag tuckert er
langsam zurück zum vermeintlich sicheren Hafen. Als er dort ankommt,
steht in Maradana kein Haus mehr.
APA-Meldung 035, 7.35 Uhr MEZ: EILT - Erdbeben in Südasien: Über
300 Tote auf Sri Lanka. Anzahl der Toten in Südindien auf 74
gestiegen. Evakuierungen in Thailand.
Sonntagvormittag, Malediven
Auf dem Flugplatz von Male sitzt Pilot Dieter Malina im Cockpit
seiner Turboprop ATR 42, ein Rotor läuft bereits, der Tower hat Taxi
clearance erteilt - die Erlaubnis, zur Startbahn zu rollen. In
diesem Moment strömt zwischen den Hangars die See auf das Flugfeld.
Sie schiebt Ölfässer und Mülltonnen vor sich her, das Wasser steigt
an den Rädern der Turboprop empor. Malina und sein Copilot klettern
auf den höchsten Punkt, den sie erreichen können: das Flugzeugdach.
Ein Autobus wird an ihnen vorbei auf die Startbahn gespült. Aus dem
Becken des Wasserflugplatzes ragen die Heckflossen versunkener
Maschinen.
Im Hotel gleich neben dem Flughafen ist der britische
Parlamentsabgeordnete Jim Fitzpatrick untergebracht. Er hat seine
Frau dabei. Die hat ihn in der Früh noch ermahnt, nicht so zu
wackeln, als das Bett bebte. Um neun Uhr muss Fitzpatrick bei seiner
ersten Sitzung sein, denn er ist hier, um die Wahlen zu beobachten,
die am 31. Dezember stattfinden sollen.
Wahlen sind nicht üblich auf den Malediven. Parteien sind
verboten, Dissidenten werden immer wieder eingesperrt, seit über 26
Jahren regiert Präsident Maumoon Abdul Gayoon, ein Patriarch der
alten Schule.
Aber weil ein bisschen Demokratie langfristig besser fürs
Touristengeschäft ist, hat er sich zu Reformen durchgerungen. Ihm ist
wichtig, was die Welt von ihm denkt. Er braucht ihre Hilfe. Seit
Jahren schon warnt Gayoon vor den Gefahren durch die Erderwärmung.
Sein Reich besteht aus 1200 Inseln, 200 davon bewohnt, die meisten
seiner 300.000 Einwohner leben nur einen knappen Meter über dem
Meeresspiegel.
Sein Reich ist bedroht; wie sehr, das bestätigt sich an diesem
Vormittag. Als die Welle über die Atolle schwappt, verschwinden die
Malediven einen Moment lang von der Erde. Emmerich Steiner,
Regierungsrat in Ruhe, sieht im Meeru Island Resort mit Entsetzen,
wie der Frühstückstisch, den er gerade verlassen hat, weggerissen
wird.
Die Flut ist auf den Malediven nur mehr knietief. Die Wellen haben
auf ihrem 2500 Kilometer langen Weg schon einiges an Kraft verloren.
Doch ihre Kraft reicht aus, um die geplanten Wahlen zu verhindern;
sie werden auf später verschoben. Wenn die Natur zuschlägt, muss die
Demokratie warten. Radio Maledu sendet Gebete.
Ist es vorbei?
Es fängt gerade erst an.
Sonntagmittag, Wien
Noch hat das Wiener Außenamt keine Vorstellung davon, was sich im
Indischen Ozean tatsächlich abgespielt hat. Die Rede ist von ein paar
Leichtverletzten unter einer österreichischen Reisegruppe in Sri
Lanka. Immerhin: Man richtet eine Notruf-Hotline mit sieben
Telefonisten und einen achtköpfigen Krisenstab ein.
In Khao Lak schleppt sich Michaela Dörflinger derweil mit
zerschnittenen Füßen die Stiegen in den zweiten Stock des Hotels
Muktara hoch, weil Gerüchte über eine neuerliche Flutwelle
herumgeistern. Auf ihrem Weg dorthin tappt sie an mehreren Toten
vorbei. Über dem Hotel knattern die Rotorblätter eines Helikopters.
Es heißt, dass die Tochter des Königs von Thailand evakuiert wird.
APA-Meldung 140, 12.49 Uhr MEZ: VORRANG - Zahl der
Flutwellen-Opfer auf mindestens 4000 gestiegen.
Ortszeit Thailand: knapp vor 19 Uhr. Ortszeit Sri Lanka: 18 Uhr.
Die Sonne geht unter. Es wird dunkel.
Das Außenministerium ist völlig unvorbereitet auf die Zahl von
Anfragen: Tausende wollen Informationen über das Schicksal ihrer
Angehörigen. Viele kommen nicht weiter als in die Warteschleife. Dann
wird es auch in Österreich dunkel.
Am Abend starten zwei Linienflüge der AUA planmäßig nach Colombo
und Bangkok.
APA 249, 18.12 Uhr MEZ: Vorrang - Seebeben: Mehr als 10.200 Tote
in Südostasien.
Montag Früh, Tamil Nadu, Indien
Tamil Nadu, die südöstlichste Provinz Indiens, ist keine gängige
Destination für Pauschaltouristen. Über den Hafen von Chennai, der
Provinzhauptstadt, werden Leder, Erdnüsse und rohe Baumwolle
exportiert; im Hinterland gibt es Chemiewerke, Textilfabriken und ein
Atomkraftwerk, und südlich davon, entlang der 2000 Kilometer langen
Küste, erstreckt sich Indien, wie es indischer nicht sein könnte: ein
Fischerdorf neben dem anderen, Hunde, Ziegen, Hühner. Die Menschen,
die hier leben, sind tief verwurzelt in Traditionen, pflegen
archaische religiöse Zeremonien mit Hingabe. Sie leben von ihren
Netzen, den Booten und dem Meer.
Jetzt schwimmen im Meer die Leichen. Die Trauerschreie der Frauen
gellen über den Strand. Überall Kessel, Kochtöpfe, Plastikschlapfen,
zerbrochene Möbelstücke. Verletzte, blutende Ziegen stolpern unter
den Palmen umher. Es riecht nach Fisch, Kerosin und Kadavern. Warum
hat mich das Meer am Leben gelassen?, klagt die Fischersfrau Kalyani
der Zeitung Hindu News. Ihre Söhne waren draußen in den Booten
fischen, ihre Tochter war am Strand, jetzt sind sie alle weg, die
Hütte samt allen Habseligkeiten ebenfalls. Das Wasser hätte mich
gleich mitnehmen sollen.
Montag Früh, Phuket, Thailand
Raus. Nur raus hier. Auf den Straßen von Phuket herrscht heilloses
Chaos: Urlauber irren kaum bekleidet zwischen den Trümmern herum,
Verletzte werden in die überfüllten Spitäler geschleift, Angehörige
suchen nach Vermissten, Leichen liegen im Schutt, Medikamente fehlen,
die Ärzte in den Notfallambulanzen nähen Wunden ohne
Betäubungsmittel.
Waltraud und Johann Marold entschließen sich, die Katastrophenzone
auf eigene Faust zu verlassen, fahren zum Flughafen von Phuket und
ergattern zwei Plätze in einer Maschine nach Bangkok.
Michaela Dörflinger, Otto Skrube und ihr Sohn Mario haben die
Nacht, mit Handtüchern zugedeckt, im Freien verbracht. Am Morgen
bringt sie ein Thai auf einem Pritschenwagen zu einem Nothospital,
das in einem buddhistischen Tempel eingerichtet wurde. Marios
gebrochene Hand und die Schürfwunden werden versorgt, später ruckeln
sie in einem überfüllten Bus nach Phuket. Ich weiß nicht mehr, wie
es gegangen ist, aber irgendwann hatten wir mithilfe einer
einheimischen Frau, die unsere Verletzungen bemerkt hat, ein
Flugticket in der Hand, sagt Michaela Dörflinger.
In Phuket versucht der österreichische Diplomat Erwin Ferner
derweil, eilends aus der thailändischen Hauptstadt eingeflogen, die
Lage einsam und allein unter Kontrolle zu bringen. Im Büro des
Honorarkonsulats, das stundenlang nicht besetzt war, drängen sich
dutzende verstörte und verzweifelte Urlauber.
APA 032, 7.41 Uhr MEZ: EILT Seebeben: In Thailand laut Konsul drei
Österreicher tot.
Während sich die Regierung in Berlin schon auf hunderte deutsche
Opfer einstellt, weist das Außenministerium in Wien Befürchtungen
über österreichische Tote hartnäckig zurück. Die Telefonzentrale
bricht zusammen, E-Mails mit Anfragen gehen verloren.
Die AUA weigert sich, Auskunft über die Identität der Passagiere
zu geben, die mit den ersten Flügen aus der Krisenregion nach
Österreich zurückkehren sollen: Datenschutz.
Montagvormittag, Galle, Sri Lanka
Es war eine Nacht in kompletter Finsternis, in Galle gibt es
keinen Strom mehr. Als es wieder hell wird, beginnt das große
Taumeln: Die Stadt füllt sich mit Flüchtenden, Umherirrenden,
Suchenden, berichtet der BBC-Mitarbeiter Ronald Buerke. Die
Touristen von den umliegenden Stränden wollen nach Hause, irgendwie;
die Einheimischen von den umliegenden Stränden haben kein Zuhause
mehr. Die Straßen sind kaputt, von Armee und Polizei ist außer ein
paar kreisenden Hubschraubern nichts zu sehen, und das Wasser wird
knapp.
Die Menschen graben den ganzen Tag im Schlamm und in den Ruinen,
nach Essen, nach Wasserflaschen, nach irgendetwas. Dabei graben sie
viele der Leichen wieder aus, die man eben erst hastig verscharrt
hat, berichtet Buerke. Dann gräbt man die Leichen wieder ein, denn
sie werden bald zu stinken beginnen, und für Zeremonien ist keine
Zeit.
In Sri Lanka ist kein einziger österreichischer Diplomat. Das
Außenamt muss erst einen im arabischen Raum stationierten Beamten
suchen, der sich über Abu Dhabi nach Colombo durchschlägt. Wir waren
völlig auf uns allein gestellt, ärgert sich Amir Taheri,
Grafikdesigner aus Wien: Es gab keine österreichische
Ansprechperson, keinen Telefonkontakt, nichts.
Die Filmemacher Elisabeth Guggenberger und Helmut Voitl haben sich
entschieden, Sri Lanka nicht zu verlassen, wie tausende andere: Dass
jetzt alle flüchten, hat für die Einheimischen eine fatale
psychologische Wirkung, sagt Voitl. Stattdessen organisieren die
beiden eine Hilfsaktion und beginnen, Geld zu sammeln. In kürzester
Zeit kommen rund 2000 Euro zusammen. Sie kaufen Medikamente und
Nahrungsmittel und verteilen sie mithilfe von Mönchen eines
buddhistischen Klosters.
APA 174, 11.26 Uhr MEZ: EILT - Erdbeben in Asien: Zahl der
Flutopfer auf rund 20.000 gestiegen.
Montagabend, Tamil Nadu, Indien
In den Fischerdörfern von Tamil Nadu war das Leben nie einfach.
Die Alten können sich an mehrere Hungersnöte erinnern, erst im
vergangenen Jahr kam eine Flut nach vier Jahren Dürre. Es gab
Cholera, brennende Schulen und einen Skandal um vergiftetes Bier.
Doch so etwas gab es noch nie.
Dutzende Dörfer an der Coromandelküste sind vom Erdboden
verschwunden. Die lokalen Zeitungen berichten, es gebe nicht genügend
Überlebende, denen man die toten Verwandten zum Begraben übergeben
könne. Die Spitäler ersuchen dringend, keine Toten mehr zu ihnen zu
bringen. Die Behörden ordnen an, die Toten zu fotografieren und zu
verbrennen, bevor Geier und andere Aasfresser sich ihrer bemächtigen
können und Krankheiten übers Land tragen.
Am Abend fliegt ein Hubschrauber über die Küste. Drin sitzt die
Regierungschefin von Tamil Nadu, Jayaram Jahalithaa, ehemals
Schauspielerin. Sie ist eine schillernde Figur, korrupt, aber wird
immer noch mit einer Hingabe geliebt, wie man sie nur in Südindien
zustande bringt. Zu ihrem 54. Geburtstag schnitt sich ein Verehrer
ihr zu Ehren die Zunge ab, zu ihrem 55. Geburtstag opferte einer
seine Finger, und heuer, zum 56., malte einer 56 Bilder mit eigenem
Blut.
Sie finde keine Worte, sagt Jahalithaa nun. Aber ich werde
nicht von eurer Seite weichen, um den Schmerz mit euch zu teilen.
Montagabend, Brüssel
Ärzte ohne Grenzen hat sich, wie die anderen Nothelfer, einen
Überblick verschafft. Bilanz: In Indien haben die Behörden die Sache
im Griff. Es gebe genug Nahrung und Medikamente, die Wasserpumpen
werden instand gesetzt, und unter Zeltplanen hat das
Gesundheitsministerium Erste-Hilfe-Stationen errichtet.
In Bangladesch ist, entgegen ersten Befürchtungen, kaum etwas
passiert. Thailand stand, aufgrund seines gut funktionierenden
Gesundheitswesens, nie auf der Liste der dringenden Fälle. Aber in
Indonesien sieht es böse aus. Erst war von 5000, dann von 15.000,
schließlich von 25.000 möglichen Todesopfern allein in Banda Aceh die
Rede.
Das Charterflugzeug mit den fertigen Hilfskits steht bereit. Aber
es gibt immer noch keine Einreisegenehmigung der Behörden.
Am Montagabend tritt der indonesische Außenminister Yusril Ihza
Mahendra vor die Presse. Die korrekten Prozeduren müssen eingehalten
werden, lässt er sie in dürren Worten wissen, die Regierung will
erst komplette Daten über die Lage sichern, bevor man dem Ausland
erlauben werde zu helfen.
Was ist dort bloß los?
Dienstag, Banda Aceh, Sumatra
APA 012 4.24 Uhr MEZ: Erdbeben in Asien - bis zu 40.000 Tote
befürchtet.
48 Stunden sind vergangen, und immer noch ist Indonesien ein
schwarzes Loch. Es gibt eine E-Mail des Polizisten Rilo Pambudi aus
der Küstenstadt Meulaboh: Es gebe nichts mehr zu essen, verzweifelte
Plünderungen, man erwarte ein Massensterben. Es gibt den Bericht des
Vizepräsidenten Jusuf Kalla, der sich im Hubschrauber über die Region
fliegen ließ, sich mit einem weißen Tuch den Schweiß der
Erschütterung vom Gesicht wischte und meinte, es sei alles viel,
viel schlimmer als erwartet. Es gibt ein paar Fotos von der großen
Moschee mit den schwarzen Zwiebeltürmen in Banda Aceh, in deren
Parkanlage Leichen gestapelt sind.
Die BBC-Korrespondentin Rachel Harvey ist eine der ersten
Augenzeugen, die ins Epizentrum der Katastrophe vordringen. Ich
gehe, wo früher die Marktstraße war, mit Gemüsehändlern, CafØs. Jetzt
sind da Schlamm, Schutt, ineinander verkeilte Teile von Autos und
Motorrädern, dazwischen die Gliedmaßen von Menschen. Alles liegt noch
genau dort, wo es das Wasser zurückließ, bevor es sich wieder ins
Meer zurückzog. Niemand hat bisher etwas von der Stelle bewegt. Und
mein Satellitentelefon ist das einzige Kommunikationsmittel, das
funktioniert.
Dass es in Banda Aceh immer noch keine Hilfe gibt, liegt an der
Militärregierung. Sie ändert ihre Verhaltensmuster nicht, auch nicht
im Augenblick der höchsten Not. Eine ganze Polizeibrigade wird seit
der Flut vermisst, außerdem 500 Mann Militärpersonal samt ihren
Familien. 15.000 Soldaten wurden ins Feld geschickt, um Leichen zu
bergen, doch gleichzeitig fürchtet die Regierung in Jakarta, die
Rebellen könnten das Chaos für einen Umsturzversuch nützen.
Deswegen also steht das Charterflugzeug von Ärzte ohne Grenzen
mit 32 Tonnen Medikamenten und Hygienematerial Dienstagmittag immer
noch in Oostende abflugbereit, aber ohne Landeerlaubnis. Deswegen
weiß niemand, ob es in Banda Aceh eine Million Obdachlose gibt oder
noch mehr. Ob es stimmt, dass 6000 von den Wellen angeschwemmte
Leichen bereits am Strand verwesen.
Die Rebellenführung in Schweden hat ihren Kämpfern befohlen, die
Waffen niederzulegen und zu helfen. In Ermangelung jeder
funktionierenden Telefonleitung ist diese Botschaft wohl nicht
angekommen.
Dienstag, Wien
48 Stunden sind vergangen, doch erst jetzt erfährt die Welt von
der Tragödie, die sich in Khao Lak abgespielt hat. Meldungen sprechen
von 700 toten Touristen, darunter möglicherweise viele aus
Österreich. Erste Reaktion des Außenministeriums: Blödsinn. Das
Haus Plassnik will nur die Zahl von fünf Opfern bestätigen und über
mögliche Vermisste gar nichts sagen.
Kann es auch gar nicht. Die gesammelten Informationen müssen von
den Telefonisten einzeln in Computerfiles eingegeben werden und sind
nicht vernetzt. Tags zuvor sind bei Systemabstürzen zudem zahlreiche
Datensätze verloren gegangen. Die Rettungsteams, die am nächsten Tag
losgeschickt werden, brechen ohne eine auch nur annähernd
vollständige Liste der Vermissten auf.
Mittwoch, Sri Lanka, Ostküste
Nach drei Tagen unter tropischer Sonne wird das Wasserproblem akut
- überall. Brunnen sind überschwemmt, Leitungen geborsten, Pumpen
kaputt, und je mehr Leichen und Tierkadaver noch herumliegen, umso
größer wird die Seuchengefahr. Noch sind keine Cholera- oder
Typhusepidemien gemeldet, doch Nothilfe-Profis wissen, dass sie
kommen werden. Deswegen revidiert die UNO ihre Prognosen nach oben:
Die Opferzahl, die die Flut gefordert hat, wird sich durch
Krankheiten noch einmal verdoppeln.
Und immer noch öffnen sich neue Fenster auf bisher versteckte
Schauplätze. An der Ostküste Afrikas, in Somalia, haben die Tsunamis
ganze Dörfer weggeschwemmt. Die Andamanen und Nikobaren, zwei
Inselgruppen ganz nahe am Epizentrum, muss es schwer erwischt haben,
doch Genaues weiß man nicht. Aus Sri Lanka hat man zwar erfahren,
dass der deutsche Exkanzler Helmut Kohl erfolgreich aus seinem
Ayurveda-Hotel evakuiert wurde, es gehe ihm gut. Doch von der
Ostküste sickern Informationen nur ganz spärlich durch.
Dort, im Osten, gibt es kaum schicke Touristenresorts. Es ist ein
Bürgerkriegsgebiet, vermint, geschunden, mit Flüchtlingsbaracken, mit
einem brüchigen Waffenstillstand, und Teile davon regieren die Tiger
von Eelam (LTTE), die tamilischen Rebellen. Wenn die Regierung Sri
Lankas Opferzahlen meldet, dann sind jene aus den Rebellengebieten
nicht mitgezählt; wenn Hilfslieferungen in Colombo ankommen, dann
sind sie nicht für die Tiger bestimmt. Doch in ihrem Gebiet muss das
Wasser am allergrimmigsten gewütet haben.
Im Küstenort Kallapaadu etwa lagen vor drei Tagen noch 1500
Fischerboote, heute seien noch sechs oder sieben übrig, melden die
Tiger über das Internet, das ihre wichtigste Verbindung nach außen
ist. Im örtlichen Waisenhaus waren 150 Kinder, von denen sie nur 20
retten konnte, berichtet Frau Vaitheki, die örtliche LTTE-Chefin.
Ich hörte welche kreischen, die von der Welle ins Meer gezogen
wurden, während ich versuchte, die anderen wiederzubeleben, die am
Ersticken waren.
Es klingt bei diesen Berichten Verbitterung durch. Darüber, dass
die 8000 Vermissten, die es allein in Ampara gibt, ignoriert werden.
Darüber, dass angeblich mehrere Lkws mit Hilfsgütern an den Grenzen
zum Rebellengebiet gestoppt und anderswohin umgeleitet werden. Über
die Hinterlassenschaft des Kriegs, die alles noch unerträglicher
macht: Die Flut hat die Landminen aus dem Boden geschwemmt, mit denen
Regierungstruppen und Rebellen ihre Stützpunkte befestigten - schon
in den ersten Stunden nach der Flut soll es Explosionen gegeben
haben.
Und dann geschieht in dieser gottverlassenen Gegend doch noch ein
kleines Wunder: 3000 der Vermissten von Ampara tauchen wieder auf.
Ein Armeehubschrauber findet sie auf einer schmalen Anhöhe, auf die
sich Männer, Frauen, Kinder geflüchtet haben. Ein kreisender
Armeehubschrauber hat für Tamilen noch selten etwas Gutes bedeutet.
Diesmal wirft er Wasser und Nahrungsmittel ab.
Mittwoch, Sri Lanka, Westküste
Die Hilfsaktion von Elisabeth Guggenberger und Helmut Voitl läuft
derweil gut. Besser jedenfalls als die Maßnahmen mancher großer
Organisationen. In Colombo beobachtet Gerhard Kero, Urlauber und
Sri-Lanka-Kenner aus St. Pölten, die Hilflosigkeit der Helfer. Vor
dem Colombo Plaza, einem Fünfsternehotel, türmen sich Paletten mit
Medikamenten. Und nichts geschieht damit, weil die Infrastruktur für
ihre Verteilung fehlt. Im Plaza sitzt indessen ein professionell
ausgerüstetes Katastrophenteam aus Frankreich den ganzen Mittwoch
untätig herum, weil Anweisungen für den Einsatz fehlen. Immerhin: Man
lässt sich das Buffet schmecken.
Im Süden der Insel, hört Kero von einem Freund, sei eine Lieferung
mit Trockenmilch für Babys angekommen. Allerdings kann niemand etwas
damit anfangen - es gibt keine Fläschchen, und sauberes Wasser zum
Anrühren schon gar nicht.
Mittwoch, Wien
Unter dem Druck der Öffentlichkeit stockt das Außenministerium
seine Krisenhotline auf 30 Plätze auf und schickt weitere Hilfsteams
in die Region. Es sei in den Tagen zuvor schwierig gewesen, die
Situation dort korrekt zu beurteilen, rechtfertigt man die
Verspätung.
Michaela Dörflinger, die Khao Lak überlebt hat, liegt inzwischen
im Spital von Leoben - mit Schnittwunden, Abschürfungen und einer
Knieverletzung. Das ist nichts, sagt sie. Das kann alles wieder
heilen.
APA 535, 18.12 Uhr MEZ: Rotes Kreuz und UNO befürchten mehr als
100.000 Tote.
Am Abend erwähnt Ursula Plassnik in einer Sondersendung der Zeit
im Bild erstmals bis zu sechzig ums Leben gekommene Österreicher.
Man sieht ihr an, wie ungern sie darüber spricht.
Donnerstag, Banda Aceh, Indonesien
Das Flugzeug von Ärzte ohne Grenzen ist endlich in Banda Aceh
gelandet, die Mitarbeiter sind an der Arbeit, und auch die UNO hat
Hilfe versprochen. Erste Berichte bestätigen die schlimmsten
Befürchtungen. Wo Lebensmittel abgeworfen werden, erzählen Helfer,
brechen Kämpfe aus, so groß muss der Hunger sein.
Man hat nach Banda Aceh Bulldozer geschickt, Gruben ausgehoben und
mit dem Begraben der verwesenden Leichen begonnen. Die
Opferschätzungen stehen mittlerweile bei 80.000, doch keiner hat
wirklich mitgezählt. Wir zählen die Massengräber, nicht die Toten,
erklärt Provinzgouverneur Azwar Abu Bakar und schätzt 400 Leichen pro
Grube. Identifiziert, fotografiert oder registriert wird hier kein
Toter mehr. Es wird keine Totenscheine geben, keine Renten für die
Hinterbliebenen.
Donnerstag, Tamil Nadu, Indien
Es hat eine obskure Erdbebenwarnung gegeben, an der Küste ist noch
einmal Panik ausgebrochen. Die Nerven liegen blank in Indien. Eine
Tageszeitung bringt eine aufsehenerregende Enthüllungsstory: Das
Massensterben hätte vermieden werden können, wenn bloß die Behörden
richtig funktioniert hätten. Bereits um 7.30 Uhr am Sonntag, erzählt
General Krishnaswamy, war die indische Luftwaffe über das Erdbeben
und die drohende Flut informiert. Die Information wurde an ein
Ministerium weitergefaxt, allerdings mit der falschen Faxnummer.
So vieles weiß man heute, so vieles erfährt man erst jetzt, für so
vieles ist es zu spät.
Donnerstag, Wien
APA 222, 11.47 Uhr MEZ: VORRANG - Außenministerium: 100 tote
Österreicher in Khao Lak befürchtet.
APA 354 , 14.10 Uhr MEZ: EILT - Erdbeben in Asien: Fast 120.000
Todesopfer verzeichnet.
APA 443, 15.35 Uhr MEZ: Seebeben in Asien forderte über 130.000
Opfer.
Die österreichische Regierung beschließt, als Nothilfe eine
Million Euro zur Verfügung zu stellen. Halb so viel, wie sie sich
ihre neue Audi-Dienstwagenflotte kosten lässt. Noch immer warten
hunderte Touristen darauf, ausgeflogen zu werden.
Vermisst werden: David Baumgartner, elf Jahre alt, blond, kurze
Haare, zuletzt gesehen im Khao Lak Lagoon Resort. Elfriede Liesbauer,
genannt Fritzi, 56, blond, blaue Augen, und ihr Mann Otto, 58, graues
Haar, braune Augen, zuletzt gesehen im Khao Lak Seaview Resort & Spa.
Karin Gartner, 38, schwarze Haare, 170 groß, grüner Kolibri mit
Orchidee am linken Arm eintätowiert, zuletzt gesehen am Bang-Niang
Beach.
Und viele andere.
Erstmals erschienen in profil Nr. 1/2005 am 3.1.2005