Europaminister Ömer Çelik: "Das ist Doppelmoral"

Europaminister Ömer Çelik: "Das ist Doppelmoral"

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profil: Die Venedig-Kommission des Europarates hat in einem neuen Bericht über die Türkei einen "dramatischen Zusammenbruch der demokratischen Ordnung“ festgestellt. Die Türkei schlage mit der neuen Verfassung, über die am 16. April die Türken per Volksabstimmung entscheiden werden, einen Weg zu einem "autokratischen Einpersonenregime“ ein. Die Inhaftierung von Dutzenden Journalisten sei nicht gerechtfertigt. Was halten Sie von diesem Befund? Ömer Çelik: Diese Berichterstatter und auch viele EU-Politiker verstehen die Situation in der Türkei nicht richtig. Ich frage mich oft, ob die EU eine politische Union oder nur ein Thinktank ist. Die Türkei hat einen Putschversuch der FETÖ-Terrororganisation (des Predigers Fetullah Gülen, Anm.) erlebt und überstanden, dazu noch viele Terroranschläge. Wir haben von der EU keine Vorschläge gehört, wie wir die Lage verbessern und die Demokratie stärken sollen. Jetzt stößt es auf Kritik, wie wir nach dem gescheiterten Putsch die Demokratie ausbauen wollen. Welche Solidarität zeigt diese EU gegenüber der Türkei? Was schlägt sie zur Überwindung unserer Probleme vor?

profil: Vielleicht war die Idee von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ein Referendum über die Änderung der Verfassung unter dem Ausnahmezustand abzuhalten, keine so gute Idee. Çelik: Die Behauptung, dass ein Ende des Ausnahmezustands eine Normalisierung mit sich bringen würde, ist falsch. Die Bedrohung ist noch lange nicht vorbei. Es tauchen ständig neue Namen von Gülenisten, die an diesem Putschversuch im Juli 2016 beteiligt waren, auf. Außerdem gibt es laufend Terrorattacken auf die Türkei von der Terrormiliz DAESH (IS, Anm.) und den kurdischen Terrororganisationen YPG oder PKK.

profil: Aber warum sitzen in der Türkei Tausende Journalisten, Autoren, Künstler oder Akademiker in Gefängnissen? Schriftsteller und Publizisten wie die Brüder Ahmet und Mehmet Altan wurden wegen angeblicher Umsturzpläne juristisch auf eine Stufe gestellt mit Offizieren, die die Bombardierung des türkischen Parlaments angeordnet haben. Çelik: Diese Gerichtsverfahren sind alle sehr unterschiedlich. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Da gibt es einen Journalisten mit Presseausweis, der Materialien der PKK mit sich trug. Ist der noch ein Journalist oder doch ein Terrorist?

profil: Kommt darauf an, von welchen Materialien Sie sprechen. Çelik: Ich meine logistisches Material. Ein anderes Beispiel: Die Zeitung Özgür Gündem (pro-kurdisch, Anm.) wurde von uns geschlossen, weil sie in einem Artikel schrieb, dass die Attacken der PKK im Osten der Türkei nicht genug seien, sondern Richtung Westen auf Einkaufscenter und Zivilisten ausgedehnt werden sollten. Das ist Terrorismus.

profil: Aber diese 150 Journalisten, die jetzt in türkischen Hochsicherheitsgefängnissen auf ihren Prozess warten - viele noch ohne Anklage - haben zum überwiegenden Teil nur ihren Job gemacht. Ältere respektierte Journalisten wie Kadri Gürsel oder Nazlı Ilıcak, die schon während der Militärjunta ab 1980 im Gefängnis saßen, sind sicher keine Verbrecher. Die Türkei ist zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten geworden, behaupten zu Recht internationale Medienorganisationen. Çelik: Sie zitieren da jetzt verschiedene Fälle und Gerichtsverfahren, die ich im Detail nicht kommentieren kann. Da sind sicher auch Straftäter darunter. Jetzt ist die unabhängige Justiz am Zug. Wir sind Mitglied des Europarates, EU-Beitrittskandidat, Mitglied der OECD, ein Land mit starker Orientierung nach Westen. Also erwarten wir auch Respekt für unsere Gerichte. Niemand sollte von der türkischen Regierung verlangen, der Justiz Anweisungen zu geben.

profil: Die Venedig-Kommission kritisiert, dass die Justiz in der Türkei nicht unabhängig ist. Çelik: Die EU kritisiert uns für Verstöße gegen den Rechtsstaat oder die Pressefreiheit. Aber wir brauchen doch einen Dialog, wie wir die Lage verbessern können, sinnvolle Vorschläge. So würden wir in den Beitrittsverhandlungen mit der EU jetzt sehr gerne die Kapitel 23 und 24 eröffnen, also die Justiz und die Grundrechte. Dann könnten wir all diese Probleme ansprechen und auch lösen.

profil: Aber viele Journalisten sind schon seit Monaten ohne Anklage in Haft. Ein neuer Appell von internationalen Medienorganisationen fordert die Freilassung jener vielen Kollegen und Kolleginnen, die nur ihren Job gemacht haben. Çelik: Diese Entscheidung liegt nicht bei uns, sondern bei den Richtern. Auch in der EU gibt es Probleme mit der Justiz, etwa in Polen oder Ungarn. Die Türkei hat einen Putschversuch überstanden, durchläuft eine schwierige Zeit, aber die EU hat bislang keine Solidarität mit uns gezeigt. Wenn die Türkei von Terroristen der DAESH (IS, Anm.) angegriffen wird, werden türkische Fahnen in europäischen Hauptstädten aus Mitgefühl gehisst, wenn wir von der PKK angegriffen werden, dann gibt es nur Schweigen. Das ist auch eine Doppelmoral.

profil: Wieso wurde der "Welt“-Korrespondent Deniz Yücel in U-Haft genommen? Soll das die ausländischen Korrespondenten einschüchtern? Çelik: Wie gesagt, eine Entscheidung eines unabhängigen Richters ist zu respektieren.

profil: Der Richter hat laut Anwesenden bei der Verhängung der U-Haft über Yücel auf den Hinweis auf die Menschenrechtskonvention nur scharf erwidert, dass für ihn nur türkisches Recht maßgeblich sei. Das ist doch seltsam. Die Türkei ist all diesen Konventionen beigetreten. Çelik: Das muss überprüft werden. Die Türkei hat bei Verhängung des Ausnahmezustands erklärt, sich weiter an ihre internationalen Verpflichtungen zu halten.

profil: Wieso soll die Türkei der EU überhaupt noch beitreten, wenn diese so ungerecht und unsolidarisch ist, wie Sie behaupten? Çelik: Wir möchten die EU weiterhin als starke Gemeinschaft sehen, die ihren Werten treu bleibt. Die Türkei will einer starken Union beitreten. Das war und bleibt unsere strategische Entscheidung. Für das Heil unseres Kontinents und unserer Zukunft sollte die EU stark sein, aber die EU-Institutionen kümmern sich nicht darum. Eine Schwächung oder gar Auflösung der EU wäre schlecht für ganz Europa und würde uns in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zurückwerfen. Der neue US-Präsident Donald Trump hat sich gegen Freihandel und für eine schwache EU ausgesprochen. Chinas Präsident Xi Jinping hat in Davos für Globalisierung und Freihandel geworben. Es scheint, dass die ganze Welt auf dem Kopf steht. Es stehen in mehreren EU-Ländern wie Deutschland, Frankreich und den Niederlanden Wahlen an. Wie will die EU die Rechte der freien Welt vertreten? Die Europhobie nimmt zu. Leider schauen die EU-Politiker nur zu, statt Vorschläge vorzulegen.

profil: Österreichs Außenminister Sebastian Kurz will die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen. Er steht damit nicht allein da. Çelik: Wir Türken sind Freunde Österreichs. Aber Österreich sollte seine Stimme mit Hausverstand erheben. Leider hält sich Österreichs Außenminister nicht daran. Wir hören von anderen EU-Ministern, dass sie Herrn Kurz nicht ganz ernst nehmen. Das ist schade für ein so wichtiges Land wie Österreich. Er macht seinen Job nicht ordentlich. Er will die Beitrittsverhandlungen stoppen und sagte, dass unser Präsident nicht nach Österreich kommen soll, um sich dort an türkische Bürger zu wenden. Das ist eine unfreundliche Haltung gegenüber der Türkei. Solche Statements des österreichischen Außenministers sind nicht hilfreich für unsere bilateralen Beziehungen. Herr Kurz handelt so, als ob er in der Donaumonarchie Österreich-Ungarn leben würde. Aber Außenminister sollten in der realen Welt leben und handeln.

profil: Wird sich die Türkei an das Flüchtlingsabkommen mit der EU halten? Çelik: Im Vertrag wurden von der EU viele Vereinbarungen zugesagt, über die Finanzhilfe von drei Milliarden Euro, über die Visa-Liberalisierung, die Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen und so weiter. Wir haben alle unsere Zusagen gehalten, die EU keine einzige. Und daher ist es eine Lüge, wenn in der EU behauptet wird, dass die Türkei bald Migranten Richtung Europa schicken wird. Wir versorgen drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien, einzelne EU-Länder wollen nicht einmal 3000 von ihnen aufnehmen, aber sie predigen uns Türken die Menschenrechte. Diese Flüchtlingskrise ist eine der größten humanitären Krisen, aber die EU hat den Test nicht bestanden. Sie hat immer von Brücken statt Grenzen geredet, aber nichts davon umgesetzt. Sie kritisiert Donald Trump für sein Einreiseverbot für sechs muslimische Länder, macht aber in Wahrheit nichts anderes.

profil: Der türkische Verband DTIB spionierte Landsleute in Deutschland aus. In Österreich geriet der Islamverband ATIB unter denselben Verdacht, Gülen-Anhänger der türkischen Botschaft zu melden. Çelik: Ich kenne die Details dazu nicht. Aber die Existenz von DTIB ist auch für die EU wichtig, weil sie gegen al Kaida und DAESH (IS, Anm.) kämpft. Ich meine, die EU-Behörden sollten daher viel mehr mit DTIB kooperieren. Wir bestreiten den Vorwurf der Spionage energisch, aber weil wir keine Eskalierung wollten, haben wir diese Mitarbeiter von den Botschaften zurückbeordert.

profil: Plant die türkische Regierung wirklich die Einführung der Todesstrafe? Das wäre das Ende für EU-Beitritt und bedeutet Rauswurf aus dem Europarat. Çelik: Nach dem Putschversuch vom Juni 2016 fühlten wir Türken uns isoliert. Da schien vielen die Todesstrafe ein geeignetes Instrument. Aber es besteht kein Plan zur Einführung.

profil: Was passiert bei einem Nein beim Referendum über die neue Verfassung? Präsident Erdoğan wird kaum zurücktreten. Çelik: Es wird ein Ja geben. Ich denke, anders als in einem Gedicht von T. S. Eliot ist der Monat April nicht der grausamste, sondern der beste.

Ömer Çelik, 49

Der seit Mai 2016 amtierende Europaminister der Türkei zählt zu den engen Vertrauten des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Der holte ihn 2013 als Kulturminister in sein Kabinett. Der Wirtschaftswissenschafter und Politologe war zuvor Abgeordneter seiner Heimatprovinz Adana in der türkischen Nationalversammlung. Çelik verglich das scharfe Vorgehen gegen Oppositionelle mit dem "Kampf gegen die Nazis“. Im Vergleich mit der Gülen-Terrororganisation FETÖ würden die "Nazis wie Lehrlinge dastehen“.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 10 vom 6.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.