Türkei: Premier Erdogan kämpft um Istanbul
Von Rusen Timur Aksak
Wer Istanbul verliert, verliert die Türkei. Das wusste schon das laizistische Establishment, als im Jahr 1994 ein konservativ-islamischer Außenseiter aus dem rauen Armenviertel Kasimpasa als Oberbürgermeister-Kandidat antrat und gewann. Sein Name: Recep Tayyip Erdogan. Der Schock seiner Gegner war damals durchaus berechtigt, denn Erdogan führte die später von ihm gegründete Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zu drei aufeinanderfolgenden Siegen bei Parlamentswahlen und amtiert seit 2003 als Ministerpräsident.
Wie man Istanbul als letzte Stufe zur Machteroberung im ganzen Land nützen kann, machte Erdogan eindrucksvoll vor: Gleich bei der ersten Stadtratssitzung sorgte er für einen Eklat. Er brach mit der Tradition, die Versammlung mit dem Singen der Nationalhymne anzustimmen, und wies stattdessen seine Stadträte an, die erste Sure des Korans, die Fatiha, zu rezitieren. Der landesweite Skandal war perfekt und Erdogan ließ sich fortan mit Sätzen wie diesem zitieren: Ich bin der Imam von Istanbul.
Istanbul, so formulierten es Erdogan und seine Anhänger, sei nach der ersten Belagerung durch den osmanischen Sultan Mehmet 1453 nunmehr ein zweites Mal erobert worden und beide Male stieg die Stadt zur Hauptstadt eines riesigen Reiches auf. Während seiner erfolgreichen, wenn auch kurzen Amtszeit als Bürgermeister von Istanbul etablierte Erdogan im Windschatten der Wirtschafts- und Finanzkrise 2001 seine neue Partei, die AKP, die aus den Parlamentswahlen 2002 erstmals als stärkste Kraft im Land hervorging. Istanbul, das ist für den Langzeit-Premierminister nicht nur das industrielle und kulturelle Herz der Türkei, seine Heimatstadt und der Wohnort eines Fünftels aller Wahlberechtigten es ist das Fundament seiner Macht.
Sultan der Türkei droht Schlappe
Jetzt aber muss Erdogan fürchten, Istanbul wieder zu verlieren. Und was das bedeutet, ist ihm nur allzu bewusst. 20 Jahre nach seinem politischen Durchbruch droht dem Sultan der Türkei erstmals eine empfindliche Wahlschlappe. Bei den türkischen Kommunalwahlen am 30. März könnte die regierende AKP gleich in mehreren Städten an Stimmen einbüßen. Doch nirgendwo schmerzen die drohenden Verluste so sehr wie in Istanbul, das seit 1994 von Erdogan und seinen Gefolgsleuten regiert wird.
Seit den Gezi-Park-Protesten im vergangenen Frühjahr, als eine geplante Überbauung der innerstädtischen Grünfläche Massenproteste auslöste, ist das System Erdogan, das stets Prosperität und sozialen Frieden versprach, ins Wanken geraten. Der erfolgsverwöhnte Erdogan geriet unter Druck, weil sich von Istanbul aus die Proteste auf das gesamte Land ausweiteten. Zu schaffen macht ihm obendrein der offen ausgebrochene Konflikt mit der mächtigen Gülen-Bewegung, der Erdogan ihr Herzstück nehmen wollte, indem er die Dershanes private Nachhilfe- und Lerninstitute, die in der Türkei ein wichtiger Bildungsfaktor, aber auch ein Wirtschaftszweig geworden sind schließen wollte. Seither rächt sich die Gülen-Bewegung mit der Veröffentlichung von Telefonmitschnitten und Dokumenten, die Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung belegen sollen.
Eine ausgewachsene Staats-, Regierungs- und Demokratiekrise, die seine Erfolge aus mehr als einem Jahrzehnt vernichten könnte, hat Erdogan in Kauf genommen, um seinen mächtigen Gegenspieler im fernen Pennsylvania, den spirituellen Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, vom Zugriff auf den türkischen Staat abzuhalten. Seit Ausbruch des Konflikts mit der Gülen-Bewegung wurde die einst hoch gelobte Bewegung zu einer finsteren Sekte verdammt. Doch während Erdogan von Wahlkampfveranstaltung zu Wahlkampfveranstaltung zieht und über die parallelen Strukturen ätzt, verliert er zusehends den Nimbus des Unbesiegbaren. Wie um das Ausmaß ihrer Nervosität zu illustrieren, ließ die Regierung Erdogan vergangene Woche aus Sicherheitsgründen den Zugang zum Internet-Kurznachrichtendienst Twitter sperren was von den Usern rasch umgangen wurde.
Die Ausgangssituation für die kommenden Kommunalwahlen könnte ungünstiger nicht sein. Lange zehrte die AKP vor allem davon, dass der politische Gegner blass und gespalten war, doch nun kommt erstmals Mustafa Sarigül, der langjährige Bezirksbürgermeister des Stadtteils Sisli, zum Zug. Der Kandidat der streng laizistischen CHP rechnet sich gute Chancen aus, Erdogans alten Weggefährten, den seit 2004 amtierenden Oberbürgermeister Kadir Topbas, zu schlagen.
Sarigül und Erdogan eint mehr, als ihnen lieb ist: Beide sind Kinder von Binnenmigranten aus Anatolien, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Istanbul gezogen waren. Vor allem sind die beiden ein ähnlicher Politikertyp: charismatische Volkstribune mit Hang zum Poltern. Sarigül ist ein gut aussehender, modisch auftretender Mann mit Hang zur Schriftstellerei. Er war schon immer pragmatisch genug, auch konservative Wählerschichten anzusprechen, was die streng laizistschen Granden der CHP stets verschreckt hatte. Einige Zeit war Sarigül deshalb von der Partei ausgeschlossen.
Sarigül hatte sich im vergangenen Frühjahr von Anfang an mit den Gezi-Demonstranten solidarisiert und ihnen sogar logistische Unterstützung in Form von Ambulanzen und mobilen Toiletten zukommen lassen. Daher beruft sich Sarigül auch auf den Geist von Gezi. Den Wunsch einer urbanen Mittelschicht nach mehr Mitspracherecht betrachtet er als legitim und will ihn auch umsetzen sobald er Erdogan Istanbul entrissen hat.
Der Gezi-Faktor und die Korruptionsenthüllungen begünstigen die Opposition, doch der Wahlausgang bleibt unvorhersehbar: Die Umfragen sind mehr als fragwürdig, sehen doch manche ein AKP-Desaster voraus, andere prognostizieren der Regierungspartei ein Rekordergebnis von mehr als 50 Prozent; auch in Istanbul liegt mal Sarigül deutlich vorn, mal der AKP-Amtsinhaber. Die Leiter der Umfrageinstitute beschweren sich über politischen Druck. Adil Gür, einer der renommiertesten Umfrageforscher des Landes, hält sich mit Einschätzungen zurück, meint aber, dass entgegen den Umfragen eine große Erosion ausbleiben dürfte. Das würde bedeuten, dass die Opposition selbst in dieser günstigen Lage die AKP nicht vom Thron stoßen könnte. Und Erdogan tut alles, um diese Kommunalwahl zu einer Abstimmung über sein politisches Überleben umzudeuten.
Damit jedenfalls dürfte er Recht haben.