Alleine in Ankara

Tayyip Erdogan: Alleine in Ankara

Türkei. Der Abstieg des ehemaligen Hoffnungsträgers Erdogan

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Es war ein bizarrer Auftritt des türkischen Regierungschefs: Inmitten des größten Korruptionsskandals der Geschichte des Landes trat er, vor Selbstbewusstsein strotzend, vor die Journalisten und sprach, wie so oft, von sich selbst in der dritten Person: „Wenn sie versuchen, Tayyip Erdogan mit den Korruptionsvorwürfen zu treffen, werden sie nichts erreichen.“
Seit zwei Wochen gelangen immer neue Details einer offenbar gigantischen Korruptionsaffäre innerhalb der regierenden AKP-Partei ans Tageslicht. Es geht um Schmiergelder, Baugenehmigungen und geheime Geschäfte mit dem Iran. Die Folgen sind beträchtlich: Inzwischen mussten bereits drei Minister ihr Amt zurücklegen – einer der Geschassten erlaubte sich daraufhin bislang Undenkbares: Er forderte Erdogan zum Rücktritt auf. Der Premierminister reagierte brachial, tauschte flugs die Hälfte seines Kabinetts aus und erklärte in einer Rede nahezu die gesamte Welt zum Feind. Währenddessen verkündeten immer mehr Parteimitglieder ihren Austritt, zuletzt ging selbst Staatspräsident ­Abdullah Gül auf Abstand zu ­Erdogan.
Die Affäre weitet sich zusehends zur Regierungs-, Staats- und Demokratiekrise aus – und Erdogan ist drauf und dran, seine Erfolge aus mehr als einem Jahrzehnt zu verspielen.
Dabei war er auf dem besten Weg, als der wichtigste türkische Regierungschef und mächtigste Landsmann seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in die Geschichte einzugehen. Der schnauzbärtige 59-Jährige mit dem aufrechten, stolzen Gang hat als konservativ-islamischer Außenseiter aus dem rauen Istanbuler Armenviertel Kasimpasa das einst kriselnde Agrarland zu einer stolzen Regionalmacht aufgebaut – und zumindest anfangs offener, liberaler und moderner gemacht.

Heute ist das 74-Millionen-Einwohner-Land eine der am schnellsten wachsenden Wirtschaftsnationen der Welt. Die Leser des US-Magazins „Time“ wählten Erdogan im Jahr 2011 zum einflussreichsten Menschen des Jahres, in der arabischen Welt galt sein Modell der islamischen Demokratie lange als Beweis, dass ein islamisches Land ökonomisch erfolgreich und zunehmend demokratisch sein kann, ohne seine Religion zu verleugnen.
Allmählich verkam Erdogans Herrschaft allerdings zu genau jenem Autoritarismus, gegen den er seit seiner ersten Parlamentswahl 2002 anzukämpfen versprochen hatte. „Sultan Erdogan“ nennen ihn die Türken inzwischen halb spöttisch, halb verächtlich. Bislang letzter Höhepunkt der Entwicklung: Um die Korruptionsermittlungen zu stoppen, versucht der Premierminister derzeit nach allen Regeln der Kunst, die demokratische Gewaltenteilung auszuhebeln. Er ließ 400 Polizisten, die gegen die AKP ermittelt hatten, entlassen oder strafversetzen und gegen willfährige Beamte austauschen. Die Neuen widersetzen sich nun anscheinend den Anordnungen der Staatsanwaltschaft, weitere Verdächtige festzunehmen. Anschließend wurden auch Justiz und Medien auf Kurs gebracht.

Der „Übervater der Türken“ wirkt nicht mehr wie der demokratisch gewählte Regierungschef einer der größten Volkswirtschaften der Welt, sondern wie ein despotischer Hitzkopf. Die Liberalen hat er dadurch schon vor langer Zeit vergrault, doch jetzt regt sich zusehends auch Widerstand in jenen Schichten, denen Erdogan seinen Aufstieg verdankt: im konservativen Mittelstand aus dem religiösen Provinzmilieu.

Dort hatte Erdogan bisher eine treue Wählerbasis – loyal, wie es Politiker in Europa schon seit Jahrzehnten nicht mehr kennen. Selbst die brutale Niederschlagung der Gezi-Proteste, die sich gegen die Willkür und den konservativ-religiösen Kurs des Premiers richteten, trübte sein Image dort nicht. Auch danach lagen seine Beliebtheitswerte weiterhin bei über 50 Prozent.

Doch in der Zwischenzeit wird der nationale Erziehungsversuch auch aus islamischer Sicht verurteilt. Selbst die staatliche Religionsbehörde hat die von Erdogan geplanten Polizeikontrollen in gemischten Studenten-WGs verurteilt, da nach der Lehre des Islam jedermann ein Recht auf die Unversehrtheit seines Hauses hat. Hinzu kommt: Erdogan hat sich mit der einflussreichen religiösen Strömung rund um den Prediger Fethullah Gülen angelegt. Gülen hat Erdogan die Grundlage für den Aufschwung im lange unterentwickelten Anatolien gelegt, gemeinsam zwangen die beiden einst die Kemalisten und das Militär in die Knie. Der bereits länger schwelende Streit zwischen dem immer autoritärer agierenden Erdogan und den eher liberalen Gülen-Anhängern eskalierte, nachdem Erdogan vergangenen November angekündigt hatte, tausende von Nachhilfeschulen – das Herzstück der weltweiten Gülen-Bewegung – zu schließen. Der Gülen-Seilschaft sagen die Medien fast einhellig nach, die jetzigen Korruptionsverfahren eingefädelt zu haben, da sie besonders stark in Justiz und Polizei vertreten ist.

Zu allem Überdruss erschüttert der Skandal auch das Vertrauen der Finanzmärkte, die türkische Lira rutschte auf ein Rekordtief – und rüttelt damit am Fundament der Macht jenes Mannes, der als Architekt des wirtschaftlichen Aufstieges gilt.