Ach, Türkei! – Ah, Türkiye!
Am Anfang war Europa - als Vorbild und als Ziel. Als Mustafa Kemal Atatürk in den 1920er-Jahren mit einer radikalen Modernisierung der Türkei begann, tat er das zwar mit durchaus autoritären Mitteln, aber er orientierte sich an der westlichen Demokratie. Der Republikgründer war fasziniert von der Französischen Revolution und den Werten der Aufklärung: "Es gibt verschiedene Kulturen, aber nur eine Zivilisation - die europäische", erklärte er laut einer Biografie einmal.
Fast 100 Jahre später ist die Annäherung der Türkei an Europa längst nicht gelungen. Im Gegenteil: Am Sonntag, 16. April, wird die türkische Bevölkerung in einem Referendum entscheiden, in welche Richtung sich ihr Land entwickeln soll. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan möchte ihm eine Präsidialverfassung geben und so die politische Macht weitgehend in einer Hand vereinen - seiner eigenen. Die Türkei und Europa haben sich in den vergangenen Jahren voneinander entfremdet, und mit diesem Referendum könnte die Kluft zwischen den Nachbarn so tief werden, dass der Plan für eine gemeinsame Zukunft in der Europäischen Union obsolet wird.
So sieht man das in Europa, wo Bestürzung über autoritäre Maßnahmen wie die Inhaftierung von Journalisten herrscht, über eklatant demokratiefeindliche Gesetze und Säuberungen, von denen Zehntausende angebliche Sympathisanten des gescheiterten Putschversuchs im Juli 2016 betroffen sind. Dazu kommt die europäische Angst vor einer Islamisierung.
Die Türkei wiederum fühlt sich missverstanden und wittert dahinter Methode. Was immer die Regierung in Ankara tut oder lässt, werde böswillig als undemokratisch, autoritär oder islamistisch interpretiert, klagt die dortige Politik.
Die Beziehungen sind auf dem Tiefpunkt angelangt. Wer ist schuld an der Zerrüttung? War es von Anfang an Erdoğans Absicht, eine autoritäre, islamisch geprägte Republik zu errichten? Musste der Traum einer europäischen Türkei früher oder später platzen, weil die Täuschung nicht länger aufrechtzuerhalten war? Oder war es umgekehrt und die EU hatte in Wahrheit nie ein Interesse an einer Vollmitgliedschaft des europäisch-asiatischen Landes? War der seltsam verschlungene Weg, auf den sich Europa vorgeblich gemeinsam mit der Türkei machte, nur eine als Beitrittsprozess getarnte Sabotage - und mithin ein Grund dafür, dass sich das Land unter der Führung von Erdoğan zusehends vom Westen und dessen Werten abwendet?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man zumindest bis in die Ära von Atatürk zurückgehen. Lange Zeit war die Vorstellung, die Türkei könnte irgendwann in den Kreis der reichen europäischen Industriestaaten aufgenommen werden, bloß eine Utopie - aber eine, die immer wieder erstaunlich hartnäckig angestrebt wurde.
Mit dem Tod Atatürks im Jahr 1938 endet der Traum von der Europäisierung der Türkei keineswegs. Das Land führt ein Mehrparteiensystem ein und nähert sich 1952 durch den Beitritt zur NATO auch sicherheitspolitisch dem Westen an. Wirtschaftlich versucht die Führung in den 1950er- und 1960er-Jahren, die Industrialisierung des ärmlichen Agrarstaates voranzutreiben - was im Zusammenwirken mit einem allzu protektionistischen Kurs nicht besonders gut gelingt. Immer wieder funkt auch das Militär, das sich selbst als Gralshüter der kemalistischen Staatsidee versteht, dazwischen. 1960 etwa putschen die Generäle gegen den damaligen moderat rechten Ministerpräsidenten Adnan Menderes und lassen ihn hinrichten. Auch wenn die Armee anschließend eine neue, oppositionsfreundliche Verfassung einführt und die Macht an eine Zivilregierung abgibt - der Staatsstreich und seine Niederschlagung bedeuten dennoch einen Schock für viele türkische Bürger, nicht zuletzt für den damals siebenjährigen Recep Tayyip Erdoğan.
Währenddessen entstehen neue Verbindungen zwischen der Türkei und Europa. Die Anwerbung von Gastarbeitern führt zur Bildung einer rasch wachsenden Diaspora in Deutschland, die damalige EWG (ein Vorläufer der EU) schließt ein erstes Assoziationsabkommen mit dem kleinasiatischen Staat.
In der Türkei herrscht zu dieser Zeit extreme Instabilität . Regierungen wechseln, die Wirtschaft schwächelt, soziale Probleme eskalieren, Rechts- und Linksextremisten verüben Anschläge, in den Straßen wird gekämpft. Aber auch andere europäische Staaten erleben in den 1970er-Jahren politische Wirren. Griechenland, Spanien und Portugal sind damit beschäftigt, ihre jeweiligen diktatorischen Regimes loszuwerden und Demokratien zu etablieren. Im darauffolgenden Jahrzehnt werden sie Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft.
Der Türkei ist dies nicht vergönnt, sie schlittert in eine Diktatur. Am 12. September 1980 putscht das Militär, verhängt das Kriegsrecht und beginnt mit einer Säuberungswelle, die sich vor allem gegen Kurden und Linke richtet. Die Repressionen führen dazu, dass die kurdische Arbeiterpartei PKK 1984 den bewaffneten Kampf aufnimmt - auch wenn der Volksgruppe zuvor einige Zugeständnisse (etwa die Aufhebung des Verbots der kurdischen Sprache) gemacht wurden.
Aus Europa kommen inzwischen ablehnende Signale: 1987 hat die Regierung in Ankara ein offizielles Gesuch zur Aufnahme in die EG (wie die EWG ein Vorläufer der EU) gestellt, das aber rundweg abgelehnt wird.
Für Erdoğan beginnt in den 1980er-Jahren der Aufstieg in der islamistischen Bewegung, die inzwischen stetig gewachsen ist. Als er 30 wird, rückt er in den Vorstand der Refah Partisi (RP, Wohlfahrtspartei) auf. Ihre ebenfalls islamistische Vorgängerorganisation hat das Militär verboten - ein Schicksal, das auch die RP treffen wird.
Im Jahr 1994 gelingt Erdoğan sein bis dahin größter politischer Coup: Die in Istanbul regierenden Sozialdemokraten verheddern sich in einen Korruptionsskandal, Erdoğan wird überraschend zum Oberbürgermeister der Metropole gewählt. Vier Jahre lang zieht er ein Programm durch, das später zu seinem Markenzeichen wird: Er modernisiert und investiert, während er lauthals islamistische Reden schwingt und sich sogar als Anhänger der Scharia zu erkennen gibt.
Dabei kommt Erdoğan auch mit Gesetz und Armee in Konflikt. Dass er ein religiös-politisches Gedicht zitiert, reicht einem Gericht, um ihn im Jahr 1998 zu zehn Monaten Gefängnis zu verurteilen und mit einem lebenslangen Politikverbot zu belegen. Hier endet Erdoğans erster Versuch, einen in der Türkei damals noch verbotenen Spagat zu schaffen: die Macht im säkularen Staat zu erringen und gleichzeitig islamische Politik zu machen.
1999 wird die Annäherung an die EU zum konkreten Thema. Das Europäische Parlament befürwortet die Kandidatur um eine Mitgliedschaft. Die Türkei hat sich gewandelt. Sie ist nunmehr Mitglied der G-20, der Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer; die Europäische Kommission anerkennt die "positiven Entwicklungen" und geht davon aus, dass ein "verstärkter Dialog" in menschenrechtlichen Belangen zur Erfüllung der Kriterien führen werde.
Es fehlte nicht viel, und die Geschichte des Politikers Recep Tayyip Erdoğan hätte mit seiner Inhaftierung geendet, wie jene seiner islamistischen Vorgänger: als historische Anekdote. Doch um die Jahrtausendwende startet der Istanbuler ein Comeback, mit dem er zur wohl prägendsten Persönlichkeit seit dem Republikgründer Atatürk heranwachsen wird.
Aus übriggebliebenen islamistischen Splittergruppen gründet er mit Weggefährten im Jahr 2002 die Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP), die seither Wahlsieg um Wahlsieg einfährt. Die Bewegung gibt sich nun nicht mehr kämpferisch islamistisch, sondern konservativ und schafft 2002 mit 34,4 Prozent den Sprung zur stärksten Partei des Landes. Ein Jahr später übernimmt Erdoğan, nachdem sein Politikverbot wieder aufgehoben wurde, das Amt des Ministerpräsidenten.
Binnen Kurzem passiert Erstaunliches: Der Islamist mutiert in den Augen vieler europäischer Beobachter zum Hoffnungsträger mit moderat-islamischen Zügen. Er schafft die Todesstrafe ab, forciert die Meinungsfreiheit und setzt eine Historikerkommission ein, um die Frage des türkischen Genozids an den Armeniern zu klären. Sogar religiöse Kurden wählen in dieser Zeit die AKP, weil Erdoğan sie als sunnitische Brüder anspricht und mit auf seine Reise nehmen will.
Die Reformen sind bereits ein Erfolg der Annäherung der Türkei an die EU. Brüssel stellt Ankara in Aussicht, dass 2005 die Beitrittsverhandlungen beginnen könnten. Doch je näher der Termin rückt, umso deutlicher regt sich Widerstand in Europa, vor allem auch in Österreich. Die Regierung in Wien - damals eine ÖVP/BZÖ-Koalition - blockiert bis zuletzt eine Einigung auf den Beginn der Beitrittsverhandlungen und will lediglich über eine "privilegierte Partnerschaft" reden. Ähnlich verfahren die Sozialdemokraten und die CDU-geführte Regierung in Deutschland. Sie alle wissen sich damit einer Meinung mit der Bevölkerung, die sich laut Umfragen gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ausspricht.
Österreich und Frankreich kündigen an, im Falle des erfolgreichen Abschlusses der Beitrittsverhandlungen der Türkei ihre jeweilige Bevölkerung per Volksabstimmung über die Ratifizierung des Vertrages durch das Parlament entscheiden zu lassen. Außerdem wird der EU die Möglichkeit eingeräumt, ihre Aufnahmekapazität zu prüfen, ehe die Türkei tatsächlich beitreten darf.
Dass sich Europa all diese Hintertüren offenhält, wird in der Türkei als fortgesetzter Affront empfunden. Doch Erdoğans Regierung lässt sich - noch - nicht beirren. 2007 beschließt sie einen Reformplan, um unabhängig von der Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel die Kriterien für einen Beitritt zu erfüllen. In der Türkei geht die AKP mit einem Pro-EU-Kurs in die Parlamentswahlen, während in Frankreich Nicolas Sarkozy im Präsidentschaftswahlkampf den Bürgern verspricht, sich gegen einen Türkei-Beitritt starkzumachen.
Während die EU mit sich ringt, arbeitet Erdoğan daran, seine Herrschaft abzusichern. In einem Land wie der Türkei heißt das nicht nur, Unternehmer, Medienhäuser und mittels Verfassungsänderung sogar die Gerichte auf seine Seite zu ziehen, sondern auch, die Macht des Militärs zu brechen.
Der Ton des Hoffnungsträgers ist wieder rauer geworden. Erdoğan denkt erstmals laut darüber nach, ein Präsidialsystem einzuführen, um für seine Reformen nicht mehr auf lästige parlamentarische Koalitionen angewiesen zu sein. In einem ersten Schritt lässt er 2007 über eine Verfassungsänderung abstimmen, nach der das Staatsoberhaupt in Zukunft vom Volk direkt gewählt wird. Wie auch bei seiner zweiten Reform im Jahr 2010 mischt er umstrittene Vorschläge geschickt mit solchen, die an der nach wie vor geltenden Militärverfassung von 1982 rütteln. Noch wird er dafür in Brüssel gelobt.
Lange Zeit scheint alles gut zu gehen. Die Wirtschaft boomt so stark, dass der türkische Europaminister Egemen Bağış der von Wirtschafts-und Finanzkrisen gebeutelten EU zurufen kann: "Halte durch, Europa, die Türkei kommt dir zu Hilfe!" Noch wird das Land von vielen im Westen als Vorzeigemodell für die Vereinbarkeit zwischen der Entdeckung demokratischer Modernität und einer sanften Renaissance islamischer Tradition gesehen; noch gehen die Verhandlungen mit der EU zwar langsam, aber stetig voran; noch verfolgt die Türkei in der Region eine Politik der guten Nachbarschaft.
Doch dann beginnt, ausgehend von Tunesien, der Arabische Frühling. In Ägypten gewinnt nach dem Umsturz der Muslimbruder Mohammed Mursi die Präsidentschaftswahlen, um nur wenig später von der Armee gestürzt zu werden. Erdoğan zeigt sich erschüttert, denn Szenen wie diese führen ihm ein Trauma seiner Kindheit vor Augen: die Hinrichtung des ersten frei und demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Adnan Menderes im Jahr 1961.
Das Nachbarland Syrien versinkt in einem blutigen Krieg. Die dort lebenden Kurden sehen erstmals ihre Chance auf einen eigenen Staat gekommen; gleichzeitig erobert, ausgehend vom Irak, die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) immer größere Gebiete in der Region. Erdoğan unterstützt die Ultra-Islamisten lange Zeit stillschweigend, indem er Kämpfer ungehindert aus der Türkei nach Syrien reisen lässt - unter anderem mit dem Hintergedanken, dass sie die syrischen Kurden in Schach halten.
Währenddessen gehen Gerüchte um eine Krebserkrankung Erdoğans um, seine geliebte Mutter Tenzile stirbt. Der einst so selbstsichere Populist macht einen zusehends paranoiden Eindruck und versucht auf immer autoritärere Weise, seine Macht in chaotischen Zeiten abzusichern. Nirgends zeigt sich die neue Nervosität so deutlich wie bei den Protesten gegen den Istanbuler Gezi-Park, die er brutal niederknüppeln lässt. Zwölf Menschen sterben, Tausende werden verletzt, ein Protest um ein paar Bäume weitet sich zum riesigen Volksaufstand aus.
Das Muster, das in jenen Tagen entsteht, wirkt bis heute fort: Erdoğan präsentiert sich als einziger Garant für Stabilität und Ordnung gegen eine Vielzahl von Feinden des Volkes und des Staates - seien es die angeblichen Putschisten rund um seinen Widersacher, den Islam-Prediger Fetullah Gülen; seien es die Kurden, deren bewaffneter Arm vor zwei Jahren mit Attentaten den Kampf wieder aufgenommen hat; sei es die Terrormiliz IS, die jetzt auch die Türkei mit Anschlägen überzieht.
Seine Anhänger versetzt Erdoğan damit in einen dauerhaften Belagerungszustand. Gleichzeitig geht er auf Kollisionskurs mit der EU - etwa durch die Drohung, den mühsam ausgehandelten Flüchtlingsdeal platzen zu lassen; durch wüste Rhetorik gegen Länder, die auf ihrem Boden keine Wahlkampfveranstaltungen türkischer Politiker zulassen wollen; durch die Inhaftierung von Journalisten wie dem deutsch-türkischen "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel.
Die türkische Bevölkerung hat es beim Referendum am 16. April in der Hand, Präsident Erdoğan auf riskante Weise zu ermächtigen, politischen Widerstand und Opposition gegen seine Politik zu beschränken oder ihm dies zu verwehren.
Europa kann dies nicht beeinflussen. Doch viele in Europa scheinen zu glauben, man könne sich der Türkei und aller Probleme, die man mit ihr verbindet, entledigen, indem man die Verbindungen kappt: den Beitrittsprozess beendet, die Hilfszahlungen einstellt und dem Land den Rücken kehrt.
Das ist ein Irrtum. Europa wird mit der Türkei weiterhin leben und zusammenarbeiten müssen. Die Flüchtlingskrise war nur eine Andeutung dessen, welche geopolitische Bedeutung dieses Land hat, das unter anderem an Syrien, den Iran und den Irak grenzt. Die Frage ist, auf welche Weise man Ankara, solange Erdoğan regiert, am besten davor bewahren kann, alle europäischen Errungenschaften über Bord zu werfen - mit Druck, mit Kooperationsangeboten und vor allem mit dem Hinweis darauf, dass die Türkei auf dem europäischen Weg vor allem sich selbst etwas Gutes getan hat.
Der 16. April wird ein Indiz dafür sein, wie wichtig der türkischen Bevölkerung Demokratie, Parlamentarismus und Oppositionsrechte sind. Die Zeit danach wird deutlich machen, wie sehr Europa am Schicksal der Türkei gelegen ist.
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 15 vom 10.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.