Tunesien: Europas Bollwerk gegen Flüchtlinge?
Zwei Schattenrisse vor dem gleißenden Blau des Meeres; zwei Männer, die ein paar private Augenblicke auf der Terrasse eines kleinen Fünfsterne-Hotels in Sidi Bou Saïd teilen: Man hört das Rauschen des Golfes von Tunis, das Murmeln ihres Gesprächs, der eine, EU-Kommissar Johannes Hahn, der andere, Khemaies Jhinaoui, der tunesische Außenminister. Nebenan wird für ein Arbeitsessen gedeckt, Teller klappern, Gläser klirren. Die Entourage, sonst immer dicht an den Politikern, hält sich ein wenig abseits.
Für beide Seiten geht es um viel: Tunesien (elf Millionen Einwohner) ist das einzige Land, in dem sich die Lage nach dem sogenannten Arabischen Frühling zum Besseren wandelte. Vor sieben Jahren fegte die Jasmin-Revolution das korrupte Regime Zine El-Abidine Ben Alis weg, seither stolpert das Land in Richtung Demokratie. Für Europa ist es aus geografischen und historischen Gründen der natürliche Verbündete in einer fragilen Region. Nur 70 Kilometer liegt die italienische Insel Pantelleria von der tunesischen Küste entfernt. Ihr Name stammt aus dem Arabischen und bedeutet "Tochter der Winde".
Obwohl in manchen Wochen auch einmal Hunderte Tunesier in Schlauchbooten nach Italien übersetzen, in der oft vergeblichen Hoffnung, bleiben zu können, ist Tunesien bisher weder ein Transitland noch ein Herkunftsland für Flüchtlinge und Migranten; für Europa aber solle es eine Schlüsselrolle in der Migrationspolitik spielen. Still und leise rückt Europa von Flüchtlingslagern in Nordafrika ab, die man hier um kein Geld der Welt errichten will, und forciert stattdessen nachhaltige Fortschritte. Zunächst in Tunesien. Bis 2020 sollen aus Brüssel 1,2 Milliarden Euro an Finanzhilfe fließen. Zunächst galt es, die Grenzen zu Algerien und Libyen zu sichern. Bei seiner jüngsten Visite unterschrieb EU-Kommissar Hahn, zuständig für die europäische Nachbarschaftspolitik, eine 20-Millionen-Tranche für die Gesundheitsversorgung benachteiligter Landstriche und weitere 70 Millionen für eine Verwaltungsreform.
Die Großzügigkeit ist nicht uneigennützig, das weiß Außenminister Jhinaoui. Nach dem Arbeitsessen in Sidi Bou Saïd nimmt er sich Zeit für ein Gespräch: Tunesien sei "das einzige Land in der Region, das demokratische Reformen vorantreibt und einen toleranten Islam pflegt", sagt er. Dafür will er nicht nur finanzielle Unterstützung: Europa habe die Länder Osteuropas seinerzeit "wie eine Lokomotive aus der Kälte des Sowjetreiches gezogen", nun solle es Tunesien helfen, seine Gesetze zu modernisieren, die Wirtschaft zu stärken und die Infrastruktur zu verbessern. Und wenn für Jhinaoui eine EU-Mitgliedschaft auch utopisch ist, so macht er Journalisten aus Europa doch klar: Geredet wird hier auf Augenhöhe.
Botschaft an Brüssel
EU-Länder sorgen für 70 bis 80 Prozent des tunesischen Außenhandels. Geht es nach Brüssel, werden die Grenzen für Waren durchlässiger; nicht aber für Migranten und Flüchtlinge. Italien trainiert tunesische Polzieipatrouillen; Tunesien wiederum nimmt Staatsbürger zurück, nicht aber Migranten aus Drittstaaten. Pläne für Flüchtlingslager auf tunesischem Territorium liegen - zumindest derzeit - nicht am Tisch. Sie gelten als Brutstätten für Radikalisierungen, die tunesische Bevölkerung ist strikt dagegen; auch das zählt in einer jungen Demokratie. "Unsere europäischen Freunde müssen sich damit beschäftigen, warum Menschen weggehen, wir müssen bei den Ursachen ansetzen", sagt Jhinaoui. Die Botschaft ist in Brüssel längst angekommen; EU-Kommissar Hahn war mit genau dieser Mission in das Flugzeug gestiegen.
Stattdessen soll Tunesien den Bogen über die Afrikanische Union, die Arabische Liga und die EU spannen, eine Rolle, mit der sich der gelernte Diplomat Jhinaoui offenbar anfreunden kann. "Kein Land der Welt kann die Konflikte hier alleine lösen", sagt er. Auf Jhinaouis Betreiben hin verständigten sich im Vorjahr hochrangige Vertreter aus Ägypten und Algerien bei einem Treffen in Tunis, dass Libyen nur unter UN-Schirmherrschaft befriedet werden könne. Tunesien selbst ist freilich alles andere als stabil: Zwischen den wohlhabenden Küstenstädten, wo sich die gebildete Mittelschicht, Wirtschaftsbetriebe, Kapitalgeber und die politische Zentralmacht ballt, und den vergessenen Gegenden im Landesinneren und an den Grenzen im Süden klafft ein tiefer Graben. Ein Teil der Finanzhilfen soll dafür herhalten, die Landflucht zu stoppen, Ärzte, Berufsausbildungen und Betriebsansiedelungen in dünn besiedelte Gebiete umzulenken und die korrupten lokalen Behörden, die jeden Aufschwung torpedieren, an die Kandare zu nehmen.
Nach mehreren Terroranschlägen 2014 waren zudem die Touristen ausgeblieben, und sie kehren nur zögerlich zurück. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 15 Prozent, bei den Jungen deutlich höher. Dazu kommen bis zu einer Million Libyer im Land. Sie gelten nicht als Flüchtlinge, bezahlen brav ihre Miete, schicken ihre Kinder in die Schulen und fallen dem Staat weiter nicht zur Last. Zumindest bisher. Seit jedoch in Libyen Bargeld knapp wird und vor den Banken Menschen stundenlang Schlange stehen, um einen Teil ihres Lohnes abzuheben, bleiben in Tunesien Spitals-und Arztrechnungen unbezahlt, und immer öfter klopfen Freunde und Bekannte bei den in Tunesien lebenden Landsleuten an: "Kann ich auch kommen? Kannst du mir helfen, Arbeit zu finden?"
"Das haben früher nur die Schwarzafrikaner gemacht"
Mohamed und Albizanti leben in La Marsa im Nordosten von Tunis. Mohamed arbeitete als Grafiker und Videoproduzent im libyischen Tripolis und übersiedelte im Vorjahr an die tunesische Küste. Sein Freund Albizanti war Journalist in Libyen, setzte sich hier für die Rechte der jüdischen Minderheit ein und zog sich damit den Hass islamistischer Kreise zu. 2016 wurde er von Milizen gekidnappt und gefoltert. Nach zwei Tagen ließen sie ihn frei, die Organisation Reporter ohne Grenzen brachte ihn in Sicherheit. Eigentlich wollte er nach wenigen Monaten zurück, doch man habe ihm signalisiert, dass er in Libyen seines Lebens nicht sicher sei. Nun baut er in Tunesien eine Plattform für Menschenrechte und Journalismus auf. Neuerdings höre er vermehrt von Libyern, die in ein Boot nach Europa steigen: "Das haben früher nur die Schwarzafrikaner gemacht." Im Libyen erlebten Mohamed und Albizanti zwischen 2012 und 2014 goldene Jahre. Viele aus ihrem Umfeld arbeiteten für den Staat, bekamen 1800 Dollar für drei Tage Arbeit in der Woche, dreckige und schwere Arbeiten erledigten Gastarbeiter. Nun pokern in dem einst prosperierenden Ölstaat zwei Regierungen und Tausende Milizen um die Macht. In Berichten von Menschenrechtsorganisationen ist von Sklavenmärkten für Migranten zu lesen, von grauenhaften Zuständen in den von Milizen kontrollierten Flüchtlingslager, von Vergewaltigungen und skrupelloser Ausbeutung. Im Süden des Landes geriet der einst von Diktator Muammar Gaddafi in Schach gehaltene Schmuggel außer Kontrolle. Es herrschen Chaos, Gewalt und Rechtlosigkeit. Das ist der Sukkus einer Gesprächsrunde mit Vertretern vom UN-Flüchtlingswerk (Unhcr), der International Migration Organisation (IOM) und EU-Experten. Die meisten arbeiten von Tunis aus, doch in allen ihren Szenarien von Wanderungen und Fluchtbewegungen spielt Libyen eine wesentliche Rolle: "Allmählich setzt sich auch in Brüssel die Erkenntnis durch, dass man nicht nur an den Küsten, sondern die ganze Route entlang arbeiten muss", konstatiert einer aus der Runde.
Zwischen 700.000 und eine Million Migranten halten sich laut Schätzungen in Libyen auf. Werden sie an einem Ort vertrieben und landen in einer Region, die bereits überfordert ist, geht ein Teil in die Heimatländer zurück, ein Teil steigt in ein Boot nach Europa. Für EU-Kommissar Hahn hängt die Zukunft Libyens - und also auch die künftige Entwicklung von Wanderungen in der Region - davon ab, ob es gelingt, verlässliche Institutionen aufzubauen und den privaten Sektor zu entwickeln.
Das ist auch das erklärte Ziel von Alexandre Chatillon-Mounier. Der Franzose überwacht ein Acht-Millionen-Euro- Programm der Europäischen Union, das den unternehmerischen Geist der jungen libyschen Bevölkerung entfachen soll. Immerhin wollen laut einer aktuellen Umfrage unter 1000 Libyern zwischen 18 und 30 Jahren fast drei Viertel ein Geschäft aufmachen. Der Bedarf - etwa in den Bereichen Bau und IT -ist immens. In der Praxis scheitern gute Ideen bisher am bürokratischen Irrwitz, wie Nessrin Gaddah aus leidvoller Erfahrung weiß. Zwei Mal schon versuchte die Libyerin, ein Übersetzungsbüro aufzumachen: "Die Verfahren und Voraussetzungen ändern sich buchstäblich jeden Tag, es ist hoffnungslos." Sollte sich das bessern, würde sie "in der Sekunde" zurückkehren. Jeder Schritt zu mehr Stabilität und Sicherheit nützt Nessrin, Mohamed, Albinzanti. Und natürlich auch Tunesien, das einstweilen genug mit sich selbst zu tun hat.
Der Hinweis, dass es in Wahrheit zwei Tunesien gäbe - ein liberales, wohlhabendes und ein tribalistisch geprägtes, armes - fällt in fast allen Gesprächen. Die Radiojournalistin Saloma kennt beide. "Rebel with a cause" steht auf ihrem Kleid. Ihr Mann arbeitete für einen Flughafen im Süden, ein Jahr lang hielt sie es dort aus: "Es war schlimm, ich möchte nicht einmal für zwei Stunden wieder zurück." Diesem Tunesien fehle es an Infrastruktur, Jobs, Ideen, Kultur, Unterhaltung. Ende 2010 hatte dieser Mangel an allem den Arabischen Frühling ausgelöst; in vernachlässigten Regionen, wo er bis heute nicht behoben ist, fühlt die Bevölkerung sich von der Regierung betrogen, hat für Menschenrechte und Demokratie wenig übrig; und immer wieder schließen sich Junge extremistischen Gruppierungen an. Laut internationalen Berichten sind 6000 Tunesier beim sogenannten "Islamischen Staat"; nur Saudi- Arabien kommt auf eine höhere Pro-Kopf-Rate an "foreign fighters". Saloma hingegen versteht sich als Teil eines Tunesien , in dem 90 Prozent der Bevölkerung hinter demokratischen Reformen stehen und Medien frei von Zensur und Angst berichten: "Heute darf man sich sogar über den Präsidenten lustig machen, das war früher ganz und gar unmöglich."
Ungleiche Verteilung
Bisher schaffte es die Regierung selbst mit Anreizen aller Art nicht, die Kluft wesentlich zu verkleinern. Im Schauraum von Somef sind Steckdosen, Schalter und LED-Fassungen ausgestellt, die in den Fabrikshallen nebenan hergestellt werden. Das Gros der Arbeiterinnen trägt Kopftuch. 600 Mitarbeiter beschäftigt der Familienbetrieb an drei Standorten, die alle in den gut erschlossenen Gewerbezonen unweit von Tunis liegen. Arbeitskräfte gäbe es auch in ländlichen Regionen, doch der Somef-Geschäftsführer winkt sofort ab: "Hier sind wir nicht weit vom Hafen, wenn uns Teile fehlen, können wir sie schnell beschaffen. Im Süden und im Landesinneren gibt es kein Internet, und die Straßen sind so schlecht, dass Lastwägen kaum vorwärtskommen."
Die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Arbeit sorgt regelmäßig für Turbulenzen. In den fast sieben Jahren seit der Volkserhebung wurde die Regierung acht Mal umgebaut. Als EU-Kommissar Hahn auf Staatsvisite weilt, hat Premierminister Youssef Chahed hinter den Kulissen wieder einmal alle Hände voll damit zu tun, ein neues Kabinett aufzustellen und den Reformzug auf Schiene zu halten: 13 Minister werden angelobt, unter ihnen Innen-, Verteidigungs- und Finanzminister. In dem holzvertäfelten Raum des Außenministerium, wo die Konterfeis von Jhinaouis Amtsvorgängern hängen, ist nicht mehr viel Platz an den Wänden. Der Außenminister hat Glück, er ist einer der wenigen, der nach der Rochade auf seinem Posten bleibt.
Druck kommt aber auch von außen. In der arabischen Welt und der Türkei wird jede noch so kleine Veränderung in Tunesien misstrauisch registriert. Vor allem in den Golfstaaten ist man über die neuen, unerhörten Freiheiten nicht erfreut. Seit jeher gilt Tunesien bei Frauenrechten als das fortschrittlichste arabische Land. 1956 bereits schaffte man hier die Polygamie ab. Nun wurde auch der Passus gestrichen, wonach Tunesierinnen nur Muslime heiraten dürfen. Präsident Béji Caïd Essebsi schlug darüber hinaus vor, Männer und Frauen im Erbrecht gleichzustellen. Mit dieser Abkehr von der Scharia stünde Tunesien in der islamischen Welt allein da. Auch mit ihr ist Tunesien eng verflochten, wie man an den Rändern der Ballungsräume sehen kann, wo von arabischen und türkischen Investoren errichtete Einkaufszentren, Privatkliniken, Finanzdistrikte, Nobelwohnbauten und Moscheen aus der Erde wachsen.
In einem dieser Ärztezentren befindet sich das "Institut für menschliche Entwicklung" von Emna Jeblaoui. An den benachbarten Türen stehen die Namen von Rheumatologen, Augenärzten und Psychiatern. Die Professorin für Islamwissenschaften öffnet die Tür und führt in ihr Vereinsbüro. "Es ist winzig, aber dafür bin ich frei", sagt sie. An der Wand hängt ein Flachbildschirm. Besuchern, die zum ersten Mal hier sind, zeigt sie den Film "#50 women, #50 men, #100 citizens", den sie gemeinsam mit einem bekannten tunesischen Journalisten drehte. Er schrieb Bücher über Jugendliche, die als Kämpfer nach Syrien gingen. Jeblaoui sitzt in einem Komitee zur Bekämpfung von Korruption, unterrichtet an der Uni ein liberales Verständnis von Islam, forscht zu den Ursachen von Radikalisierung, analysiert Nachmittagssoaps, mit denen TV-Sender aus Ägypten und den Golfstaaten das liberale Tunesien ideologisch infiltrieren. Sie gilt in ihrem Land als eine öffentliche Intellektuelle; mittlerweile aber hat sie es sich angewöhnt, auf ideologischen Minenfeldern leise aufzutreten: Statt autokratische Regime zu provozieren, arbeite sie unter dem Radar an nachhaltigen Veränderungen: "Wir sind weder Araber noch Europäer, sondern ein südliches, mediterranes Land und von hoher strategischer Bedeutung für die Sicherheit in Nordafrika, darauf sollten wir uns konzentrieren", sagt sie. Tunesien sei so etwas wie die letzte Pufferzone vor den Toren Europas. Scheitere der Transformationsprozess hier, sei nicht nur ihr Land in Gefahr, sondern auch Europa. EU-Kommissar Hahn ist in diesem Punkt ganz ihrer Meinung.