Krim-Inspektion

Ukraine: Der Krisenverlierer Russland und seine Drohgebärden

Ukraine. Der Krisenverlierer Russland und seine Drohgebärden

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Es war eine furchterregende Streitmacht, die am Mittwoch vergangener Woche im Westen Russlands zu den Waffen gerufen wurde: 150.000 Soldaten, 880 Panzer, 120 Hubschrauber, 90 Flugzeuge und 90 Schiffe. „Hauptaufgabe ist, die Kampfbereitschaft unserer Kräfte zu prüfen. Alle Panzer werden schießen, alle Flugzeuge werden im Kampfmodus fliegen“, erklärte Verteidigungsminister Sergej Schojgu in Moskau.
Eine Drohgebärde im Zusammenhang mit der Ukraine? Mitnichten, beeilte sich der Kreml zu beteuern – wohl wissend, dass das niemanden beruhigen würde, auch wenn solche Manöver tatsächlich immer wieder routinemäßig durchgeführt werden.

Aber derzeit ist eben nichts Routine: Noch immer erschüttern die Nachwirkungen des Umsturzes in der Ukraine die gesamte Region. Die Folgen der Entmachtung von Präsident Viktor Janukowitsch sind unabsehbar. In der Hauptstadt Kiew ist nach dem Blutbad von Maidan mit mehr als 100 Toten zwar überraschend schnell wieder Ruhe eingekehrt.
Dafür spitzte sich die Lage in einem anderen Teil des Landes gegen Wochen-
ende gefährlich zu: Auf der Halbinsel Krim besetzten Angehörige der russischsprachigen Mehrheit das Regierungsgebäude sowie das Parlament, riefen zur Abspaltung von der Ukraine auf und gerieten deswegen mit Aktivisten der tatarischen Minderheit aneinander. Es gab mehrere Tote, was Wladimir Putin wiederum zum Anlass nahm, die Sicherheitsvorkehrungen für die im Hafen Sewastopol stationierte Schwarzmeerflotte zu verstärken.
Tags zuvor hatte die ukrainische Übergangsregierung ohne jede Not ein Gesetz gekippt, das dem Russischen (aber auch dem Rumänischem und Ungarischen) in allen Gebieten, in denen es von mindestens zehn Prozent der Bevölkerung verwendet wird, den Status einer Amtssprache garantiert. Außenminister Sergej Lawrow beklagte daraufhin eine „zunehmend neofaschistische Stimmung“ in Teilen der Ukraine.

Die Angst, der Kreml könnte den Schutz der dort lebenden russisch-sprachigen Bevölkerung zum Vorwand für eine Militärintervention nehmen, ist seither allgegenwärtig – und wird durch ein Verwirrspiel auf der Krim weiter angefacht. Am Donnerstag veröffentlichte ein Fernsehsender Aufnahmen, die belegen sollten, dass russische Truppen von ukrainischen Sicherheitskräften gerade noch daran gehindert wurden, in die Krim-Hauptstadt Simferopol vorzustoßen.

Private Militärdienstleister
Am Freitag bezogen militärisch adjustierte und bewaffnete Truppen auf den Flughäfen von Simferopol und Sewastopol Stellung. Um wen es sich dabei handelte, blieb vorerst unklar: Auf ihren Uniformen – die nach Recherchen der „Wiener Zeitung“ bei Militärexperten das Tarnmuster russischer Fallschirmjäger trugen – fehlten jegliche Abzeichen.

Schlussendlich sickerte durch, dass es offenbar private Militärdienstleister waren: angeheuert von Moskau, um die Einrichtungen der Schwarzmeerflotte auf der Krim zu sichern. Also offiziell keine russischen Trupen, inoffiziell aber sehr wohl.

Zuvor hatten Gerüchte die Runde gemacht, wonach nationalistisch-ukrainische Radikale versuchten, die Halbinsel auf dem Luftweg zu erreichen. In der Tat waren vergangene Woche Maidan-Aktivisten ebenso auf dem Weg dorthin wie Mitglieder der wegen ihres brutalen Vorgehens gegen die Demonstranten aufgelösten Polizei-Sondereinheit Berkut. Letztere wurden auf der Krim wie Helden empfangen und entschuldigten sich öffentlich – allerdings nicht für ihre Gewalt-orgien, sondern dafür, dass sie im Kampf gegen die „Faschisten“ versagt hätten.

Genau das ist die Rhetorik, mit der auch der Kreml Stimmung gegen die neue Regierung der Ukraine macht. Dahinter steht mehr als Propaganda. Die Vehemenz, mit der Russland die Beteiligung militanter Rechtsextremisten beim Sturz von Janukowitsch zur „faschistischen Machtübernahme“ hochzustilisieren versucht, zeigt auch, wie tief die Erbitterung über die Schlappe von Kiew sitzt.

Russland ist der große Verlierer der Ukraine-Krise. Die Regierung in Moskau habe die Lage völlig falsch eingeschätzt, sagt der Politologe Ivan Krastev gegenüber profil: „Sie hat alle Eier in den Korb von Viktor Janukowitsch gelegt. Der ist nun weg. Und zwar endgültig. Der Kreml hat sich viel zu lange auf die alten sowjetischen Seilschaften verlassen“ (siehe Interview hier).

Den Einfluss auf die Ukraine zu verlieren, wäre schon schlimm genug. Der Schaden geht aber weit darüber hinaus, denn für Putin war das Land integraler Bestandteil eines großen Projekts: der Eurasischen Union, einer aus acht osteuropäischen, kaukasischen und zentralasiatischen Ländern bestehenden Freihandelszone, die ab nächstem Jahr ein Gegengewicht zur EU bilden sollte. Dass die neue Regierung in Kiew daran festhält, ist nicht zu erwarten. Springt sie ab, kommt der Eurasischen Union aber auch eine der drei größten Volkswirtschaften abhanden – und das Prestigevorhaben ist so gut wie tot.

Der Kreml könnte zwar versuchen, Druck auf die Ukraine auszuüben, etwa mit der bewährten Methode, die Gaspreise kräftig zu erhöhen, nicht bezahlte Rechnungen fällig zu stellen und bei Zahlungsverzug die Lieferungen zu stoppen. Angesichts der leeren Kassen, vor denen die Regierung in Kiew steht, wäre das ein Leichtes.

Eingliederung ausländischer Territorien
Das Problem ist allerdings, dass Moskau damit tendenziell seiner eigenen Sache schadet. Ein Lieferstopp würde nicht nur die Industrie im Osten der Ukraine und damit eine Art verlängerte Werkbank Russlands treffen. Er könnte auch die Gasversorgung in die EU lahmlegen, die über dieselben Pipelines abgewickelt wird. Und das würde nicht nur auf eine direkte Konfrontation hinauslaufen, sondern zudem auch auf massive finanzielle Einbußen für den Energiesektor, die Haupteinnahmequelle des Kremls.
Dort dürfte auch die Tatsache, dass die militärischen Drohgebärden gegenüber der Ukraine dem staatlichen russischen Gaskonzern Gazprom dramatische Verluste bescherten, für Unruhe gesorgt haben: Es war nur ein Vorgeschmack auf das, was bei einer Intervention drohen würde.
Aber mit einer Invasion in der Ukraine rechnet letztlich niemand. Das lässt sich aus Aussagen des vom Kreml immer noch als legitimer Präsident anerkannten Viktor Janukowitsch ableiten. Militärischer Beistand sei nicht notwendig, erklärte der Geschasste beim ersten öffentlichen Auftritt seit seiner Flucht nach Russland. Und: Die Krim solle ihren Status als autonome ukrainische Republik beibehalten.

Selbst wenn Janukowitsch nicht mehr als wirklich bedeutender Faktor gelten mag, dürfte ein Russland, das die Nichteinmischung in interne Angelegenheiten anderer Länder als ehernes Prinzip vor sich herträgt, Statements wie diese eigentlich nicht völlig ignorieren.
Das Tauziehen um die Krim ist damit noch nicht beendet. Dafür ist die Halbinsel für Russland viel zu wichtig: Noch unter Janukowitsch wurde ein Abkommen ausgehandelt, das als Gegenleistung für billiges Gas bis zum Jahr 2042 die Statio-nierung der Schwarzmeerflotte in Sevastopol garantiert.

Entsprechend deutlich signalisiert Moskau, dass es sich die Eingemeindung der Krim bis auf Weiteres vorbehält. Am Freitag vergangener Woche wurde ein Gesetzesentwurf der Fraktion Gerechtes Russland bekannt, der die Eingliederung ausländischer Territorien in die Föderation erleichtern soll. Bisher war dazu ein völkerrechtlicher Vertrag notwendig; künftig soll der „Wille des Volkes in Form eines Referendums“ ausreichen.
Das ist maßgeschneidert für die Krim, wo am 25. Mai – dem Tag der vorgezogenen Präsidentschaftswahlen – über den künftigen Status der autonomen Republik und damit letztlich über den Verbleib bei der Ukraine abgestimmt werden soll. Dass das Ergebnis bei einem Anteil von 58 Prozent Russen an der dortigen Bevölkerung nicht unbedingt im Sinne der Regierung in Kiew ausfallen wird, liegt auf der Hand.

Stimmen die Bewohner der Krim für eine Abspaltung, dann hat Russland bereits den passenden rechtlichen Rahmen für eine Aneignung parat, so fragwürdig dieser auch immer sein mag. Bis dahin kann der Kreml versuchen, die Stimmung durch verdeckte Aktionen anzuheizen – im Bewusstsein, dass die Reaktionen der westlichen Welt auf offene Interventionen verheerend wären.

Rational betrachtet spricht also alles gegen eine unmittelbare militärische Eskalation. Allerdings: Sich darauf zu verlassen, wäre angesichts der aufgeheizten Stimmung und all dessen, was auf dem Spiel steht, aber letztlich auch nicht rational.

Am Freitag abend jedenfalls war die Situation alles andere als klar: Ab dem späten Nachmittag nahm das Ausmaß der russischen Truppenbewegungen auf der Krim eindeutig zu – viele davon über die Bestimmungen des Stationierungsabkommens hinaus. Über ukrainischem Territorium wurden Kampfhubschrauber gesichtet, auf den Hauptverkehrsverbindungen waren Panzerfahrzeuge und Militärlastwagen unterwegs. Die Telefonleitungen wurden unterbrochen, der zivile Luftverkehr eingestellt.

Dann brach die Nacht über die Halbinsel Krim herein.

Mitarbeit: Andrej Iwanowski, Moskau