Ukraine-Konflikt: Will Putin Krieg?
"Wer ist Herr Putin?“ Diese Frage stellte vor 22 Jahren eine Moderatorin russischen Politikern und Geschäftsmännern auf einem Podium des Weltwirtschaftsforums in Davos. Wir schreiben den 26. Januar 2000. Das neue Jahrtausend ist wenige Tage alt und ebenso neu ist der Präsident, der Boris Jelzin kommissarisch gefolgt ist. Das Panel wusste nicht recht, was auf die Frage antworten. So beschreibt es die in Moskau geborene US-Journalistin Masha Gessen in ihrer Putin-Biografie „Der Mann ohne Gesicht“: „Nach einer halben Minute brach der ganze Saal in Gelächter aus. Die größte Landmasse der Erde hatte einen neuen Staatschef und die Elite hatte keine Ahnung, wer er war.“
Heute kennt die ganze Welt Wladimir Putin. Mehr noch: Sie fürchtet sich vor ihm.
"Mein Leben hängt davon ab, wie dieser Mann entscheidet",sagt Alyona Getmanchuk, 43, die als politische Analystin für einen Thinktank in Kiew arbeitet. Es gehe hier nicht nur um die Ukraine, warnt sie, sondern um ganz Europa, das keine Antworten auf die aggressive Politik Putins zu finden scheint. Ist der russische Präsident dabei, eine neue Ordnung auf dem Kontinent zu errichten? Für eine Generation, die den Kalten Krieg nicht miterlebt hat, fühlen sich diese Wochen an wie ein schlechter Film.
Für Alyona Getmanchuk ist die Drohkulisse zum Alltag geworden. Seit 2014 schwelt im Osten der Ukraine ein Krieg, der so viele Menschen vertrieben hat, wie Wien Einwohner zählt. Vor wenigen Monaten war die 43-Jährige an der Frontlinie und hat gehört, wie 800 Meter entfernt geschossen wurde. "Wir haben bereits einen Krieg in der Ukraine",sagt sie im Skype-Gespräch mit profil, "deswegen sind sich viele uneinig, wie sie die neue Bedrohung nennen sollen. Wir sprechen von einem neuen, großen Krieg."
Es ist Donnerstagmorgen, ein Tag nach dem Besuch des US-amerikanischen Außenministers Antony Blinken in der Ukraine. Getmanchuk sitzt in ihrem Büro in Kiew, der Hauptstadt, die lange als sicherer Hafen galt. Jetzt hängen dort Plakate, die die Bevölkerung dazu auffordern, sich dem Zivilschutz anzuschließen. Der Ex-Boxer Vitali Klitschko, seit 2014 Bürgermeister von Kiew, warnt vor der Invasion. "Vor zwei Monaten haben die Menschen noch ihren Urlaub geplant, aber seit zwei Wochen bemerke ich auch in Kiew eine gewisse Unruhe",erzählt Getmanchuk. Die Frage, die sie am häufigsten hört: Wird Putin einmarschieren?
Satellitenbilder zeigen: Russland ist fähig, die gesamte Ukraine zu besetzen."
Wäre die Weltbühne eine Netflix-Serie, dann stünde dieser Cliffhanger vor der nächsten Folge. Das Magazin "Economist" hat dazu eine passende Karikatur veröffentlicht. Sie zeigt Putin, mit Kalaschnikow auf dem Schoß, lässig zurückgelehnt auf einem goldenen Thron. Es ist das Image, das sich Putin selbst gegeben hat. Anfang der Nullerjahre ließ sich der damalige Jungpolitiker eine von Heldengeschichten gespickte Biografie schreiben. Sie erzählt von einem Jungen, der sich im St. Petersburg der Nachkriegszeit mit Trunkenbolden prügelte, der mit elf Jahren die Liebe zum Kampfsport entdeckte und bereits als Schüler wusste, dass er eines Tages beim gefürchteten Geheimdienst KGB arbeiten will. "Putin wollte aus dem Schatten heraus die Welt beherrschen, oder zumindest einen Teil davon",schreibt seine Biografin Masha Gessen. Das ist ihm gelungen. Im Sommer soll er wie ein russischer Zar in einem Palast am Schwarzen Meer residieren. Mit unterirdischer Eishockey-Halle, Casino, Amphitheater und goldenem Stuck an der Decke. Alexej Nawalny, der Mann, der diese angebliche Putin-Residenz enthüllt hat, sitzt heute in einem der härtesten Straflager Russlands.
Ist so jemand zu Verhandlungen bereit? US-Präsident Joe Biden ist wenig optimistisch. Bei einer Pressekonferenz am Mittwoch hat er durchklingen lassen, dass Putin in die Ukraine einmarschieren wird. "Er muss etwas tun",so Biden, aber Russland werde "einen großen Preis" dafür zahlen.
Die angedrohten Sanktionen reichen bis zum Ausschluss Russlands aus dem internationalen Banken-Kommunikationsnetzwerk. Es geht aber auch um einen Handelskrieg, der unter anderem Mikrochips, also wichtige Bauteile für Autos und Elektrogeräte, umfasst.
Putin hat sich noch nicht entschieden, ob er diesen Preis zu zahlen bereit ist.
Unberechenbarkeit ist Teil seiner Strategie. Einerseits beschwichtigt Moskau, niemanden angreifen zu wollen. Andererseits steht die Drohung einer militärischen Antwort im Raum. Aus Sicht des Westens ist deswegen klar, dass Russland der Aggressor ist, dass Putin die Krise künstlich schürt. Moskau hingegen fühlt sich von der NATO bedroht und empfindet deren Osterweiterung in der unmittelbaren Nachbarschaft als Provokation.
Selbst russische Beobachter können die Frage, ob ein Einmarsch in die Ukraine bevorsteht, nicht beantworten. Der Präsident gilt als abgeschirmt, aus seinem engsten Umfeld dringt so gut wie nichts nach außen. So lässt sich über die Szenarien nur spekulieren.
Blufft Putin bloß, weil er Joe Biden auf die Probe stellen will? Möchte sich Russland auf internationaler Bühne profilieren, weil es den eigenen Machtverlust durch den Niedergang fossiler Brennstoffe fürchtet? Plant Putin den Einmarsch gemeinsam mit dem belarussischen Diktator Lukaschenko? Will er Teile der von prorussischen Separatisten kontrollierten Ostukraine angliedern und eine Landbrücke zur Krim errichten, die er 2014 annektiert hat?
Wir haben bereits einen Krieg in der Ukraine."
Ein Anruf beim Militäranalysten Franz-Stefan Gady vom Institut für Strategische Studien in London. Er sagt: "Satellitenbilder zeigen, dass Russland fähig ist, die ukrainischen Streitkräfte zu zerschlagen und die gesamte Ukraine zu besetzen." Laut Gady habe sich die Schlagkraft der russischen Streitkräfte verbessert, die Armee einen nicht zu unterschätzenden Modernisierungsschub erfahren. "Die russische Militärdoktrin setzt auf Feuerkraft und sieht einen schnellen, kurzen und äußerst blutigen Erstschlag vor",so Gady, "in den ersten 24 Stunden könnte es Tausende Tote geben."
Vereinfacht gesagt gibt es zwei Blickweisen auf Putins Motive. Während die einen glauben, dass der russische Präsident versucht, den Preis für diplomatische Verhandlungen hochzutreiben, befürchten die anderen, dass er nie an einem Kompromiss interessiert war, sondern bloß einen Vorwand sucht, um die Grenzen mit Militärgewalt neu zu ziehen. Für letztere Theorie spricht, dass der Westen den Forderungen, die Russland bereits im Dezember auf den Tisch gelegt hat, unmöglich nachkommen kann. Die lauten nämlich: das Ende der NATO-Erweiterung im Osten. Und: ein Ende von Militärübungen in Osteuropa und im Kaukasus. Beides lehnt die NATO kategorisch ab.
Putin will etwas, das ihm Biden niemals geben kann: eine Vetomacht darüber, wer dem westlichen Militärbündnis beitreten darf. Er geht so weit, NATO-Mitgliedern vorzuschreiben, was sich in Zukunft auf ihrem Territorium abspielt. "Den Russen ist es seit Jahren ein Dorn im Auge, dass die NATO Raketenabwehrsysteme in Rumänien und Polen unterhält. Alles, was das russische Arsenal gefährdet, wird als direkte Gefahr gesehen",so Gady. Putin gehe es nicht nur um die Ukraine: "Russland hat langfristig das Ziel, die USA vom Kontinent zu verdrängen."
Und was, wenn die NATO einfach nicht mehr wächst? Gibt Putin dann Ruhe?
Auch hier hat die NATO klargemacht, dass ihre "Politik der offenen Tür" nicht zur Diskussion stehe. Unwahrscheinlich ist, dass sich Putin damit zufriedengibt und zurückrudert. Das würde einen Gesichtsverlust auf internationaler Bühne sowie im Inneren des Landes bedeuten. Wie soll man sich da in der Mitte treffen?
Dieser Tage scheint in Europa ein neuer Kalter Krieg aufzuziehen. Die Ereignisse der letzten Woche fühlen sich an wie eine Reise in die Vergangenheit, als es noch eine bipolare Weltordnung gab. Zwei Nuklearmächte-USA und Russland-verhandeln über die Zukunft Europas. Dazu kommt die Diskussion über Einflusssphären und neue Superwaffen. So hat Putin eine Hyperschall-Rakete präsentiert, die er als "unbesiegbar" bezeichnet. Sie lässt sich von U-Booten aus abfeuern, ist im Flug manövrierfähig und von der herkömmlichen Luftabwehr schwer abzufangen.
Die Beziehungen sind frostig. Dass man überhaupt noch miteinander redet, ist die einzige gute Nachricht. Wer spricht, der schießt nicht aufeinander. Doch Putin hat in der Vergangenheit klargemacht, dass er wenig von dieser Regel hält. Seit Amtsantritt hat er in regelmäßigen Abständen Kriege vom Zaun gebrochen, um seinen Einfluss im postsowjetischen Raum zu wahren.
Im Oktober 1999 marschierten russische Truppen in Tschetschenien ein, das sich zuvor als unabhängig erklärt hatte, heute aber ein föderaler Bestandteil Russlands ist. 2008 besetzte Russland Teile Georgiens und erkannte die Unabhängigkeit der abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien an. Auch im Pseudostaat Transnistrien im Osten der Republik Moldau tritt Putin als Schutzherr auf. 2014 verleibte sich Russland völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim ein und unterstützt prorussische Separatisten im Donbass. Seither tobt ein Krieg, der in den letzten acht Jahren 13.000 Opfer gefordert hat. Zuletzt landeten kampferprobte russische Fallschirmjäger im von Unruhen gebeutelten Kasachstan, neben Belarus einer der loyalsten Verbündeten des Kreml. Beide Länder sind autoritäre Regime, Russland ihre Schutzmacht.
Diese außenpolitischen Abenteuer haben Putin nicht geschadet. Ganz im Gegenteil: Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft zu destabilisieren, hat ihn stärker gemacht. Nach der Annexion der Krim gingen seine Popularitätswerte steil nach oben. Warum sollte er die Ukraine nicht ein zweites Mal angreifen? Er hat wiederholt klargemacht, dass das Land aus seiner Sicht nur in Partnerschaft mit Russland wirklich unabhängig sein könne.
Noch sind die Verhandlungen nicht endgültig gescheitert. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat sich mit der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock sowie dem US-Außenminister Antony Blinken getroffen. Das Normandie-Format, also Treffen unter Vermittlung von Frankreich und Deutschland, soll wiederbelebt werden. Einen Durchbruch haben die Verhandlungen nicht gebracht. Und das, obwohl erstmals seit zweieinhalb Jahren wieder ein NATO-Russland-Rat in Brüssel tagte. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg meinte wenige Tage später dennoch: "Wir müssen auf das Schlimmste vorbereitet sein, auch auf militärische Gewalt."
Neu ist die Kriegsgefahr nicht. Seit Monaten ist bekannt, dass der Kreml immer mehr Truppen an die ukrainische Grenze verlegen lässt. Satellitenbildern zufolge sollen es über 100.000 Soldaten sein, und es werden immer mehr. Videos in sozialen Medien zeigen, wie Panzer und Artillerie auf Züge geladen und nach Belarus verlegt werden, dem nördlichen Nachbarn der Ukraine. Mit dem Machthaber Alexander Lukaschenko will Putin eine Militärübung mit dem Namen "Alliierte Entschlossenheit" abhalten, unweit von der polnischen und ukrainischen Grenze. Die "New York Times" berichtete, dass Moskau Personal aus seiner Botschaft in Kiew abziehe. Von Beobachtern wird das als Signal gesehen, dass ein Einmarsch kurz bevorsteht. Schon jetzt ist die Ukraine von einsatzbereiten russischen Truppen umzingelt.
Putin ringt um Macht und Einfluss in Osteuropa, wo seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ein Staat nach dem anderen der NATO beigetreten ist. Es begann 1999 mit Ungarn, Polen und Tschechien und ging 2004 mit Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien und der Slowakei weiter. Aus russischer Sicht ist das Wachsen der NATO die eigentliche Bedrohung, nicht der russische Truppenaufmarsch.
Die Krux: Eine verbindliche Absage, wie sie Russland fordert, kann die NATO gar nicht geben. "Die Ukraine entscheidet selbst über sich. Und das ist der Punkt",stellte Generalsekretär Jens Stoltenberg vergangene Woche klar. Aus Sicht des Westens sind die Nachfolgestaaten der Sowjetunion souveräne, unabhängige Staaten. Laut Meinungsumfragen unterstützt die Mehrheit der Ukrainer und Ukrainerinnen eine Mitgliedschaft in der NATO. Putin ignoriert diesen Wunsch und versucht nichts anderes, als die Geschichte des Endes des Kalten Krieges neu zu schreiben. Den Truppenaufmarsch rechtfertigt er mit dem Narrativ, der Westen habe Anfang der 1990er-Jahre die Zusicherung gemacht, sich niemals nach Osten auszudehnen. Weder in den US-amerikanischen noch in den russischen Archiven gibt es Belege dafür. Das scheint Putin egal zu sein. Er will jetzt mit Waffen neue Fakten schaffen und die europäische Friedensordnung von Grund auf verändern.
Vielleicht geht es Putin am Ende aber nicht nur um die vermeintliche Gefahr von außen, sondern um die Machtsicherung nach innen. Sein Regime ist über die Jahre immer repressiver geworden. Doch während in Russland Oppositionelle vergiftet und Hunderte Journalisten ins Gefängnis gesteckt werden, hat sich die Ukraine zu einer jungen Demokratie mit Reformwillen und Ambitionen auf einen EU-Beitritt entwickelt. Es liegt in Putins Interesse, diesen Erfolgsprozess zu stoppen, bevor ihn die Menschen in Russland nachzuahmen versuchen.