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Ukraine-Krieg: Die Einhorn-Kämpfer von Kiew

Sie kämpfen für Freiheit, Vaterland - und die Gleichstellung von Schwulen und Lesben. Ihr Symbol: Das Einhorn. Wie der Krieg in der Ukraine die Rechte von Homosexuellen vorantreiben könnte.

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Olexandr sitzt versteckt in einem Verschlag im Wald nahe der umkämpften Großstadt Kharkiv in der Ostukraine. Im Hintergrund hört man Granaten einschlagen, ein Panzer rollt an ihm vorbei. Eine Explosion. Stille. Er zupft seine Uniform zurecht und läuft los.

Videos wie diese postet der junge Mann regelmäßig auf TikTok und Instagram. Er hat gerade Gefechtspause als profil ihn erreicht, die erste seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Seit März kämpft der Medizinstudent als Sanitäter an der Front. Immer wieder fallen Strom und Internet aus – seine einzige Verbindung zu Familie, Freunden – und seiner Community.

Der 23-Jährige ist laut der Organisation Ukrainian LGBT+ Military for equal rights einer von rund 300 offen schwulen, lesbischen und bisexuellen Soldaten der ukrainischen Armee. Die Zahl der nicht geouteten ist weitaus höher. „Unicorns in Uniforms“ nennen sich die LGBTIQ+ Soldatinnen und Soldaten in sozialen Medien, wo sie stolz ihre Einhornaufnäher am Oberarm präsentieren, gleich neben der ukrainischen Flagge.

Der 23-jährige Olexandr kämpfte seit März an der Front in der Ostukraine. 

Das Einhorn auf der Uniform ist ein Symbol, das in der Ukraine mittlerweile sehr bekannt ist. Es steht für schwule, lesbische und bisexuelle Soldatinnen und Soldaten. Eingeführt hat ihn die Organisation Ukrainian LGBT+ Military for equal rights; eine NGO, die sich für die Rechte von queeren Soldaten einsetzt. Sie bietet psychologische aber auch rechtliche Unterstützung und Beratung vor dem Einsatz an der Front. Die Organisation finanziert sich durch Spenden aus dem In- und Ausland, staatliche Unterstützung gab es bisher keine. „Das Einhorn sichtbar zu tragen ist natürlich freiwillig, erfordert aber Mut“, betont Ira Nirsha. Sie ist eine von vielen Aktivistinnen der Organisation. 

Ira Nirsha ist überzeugt, dass der Krieg die ukrainische Gesellschaft und deren Einstellung zur Homosexualität änderte. 

Es ist ein öffentliches Coming-Out, das nicht nur in der Armee, sondern in vielen Teilen der Ukraine noch immer zu gesellschaftlicher Ausgrenzung – vereinzelt sogar zu Gewalt führen kann. Homosexualität ist in der Ukraine zwar nicht verboten, allerdings mit starker Stigmatisierung verbunden. Im europäischen Vergleich hinsichtlich der Rechte und Sicherheit von Homosexuellen landet die Ukraine auf Platz 39 von 49. (Österreich auf Platz 17, an erster Stelle sind Malta, Belgien und Luxemburg.) 

Wenn es ums Überleben geht, ist es den Menschen egal ob du schwul oder hetero bist. 

An das Getuschel und abwertende Sprüche hinter seinem Rücken hat sich Olexandr in seiner Einheit gewöhnt. Gewalt hat er – im Gegensatz zu seinen geouteten Kollegen in anderen Kompanien – allerdings nie erlebt. „Ich bin Sanitäter, ich rette meinen Kameraden das Leben. Wenn es ums Überleben geht, ist es den Menschen egal ob du hetero oder schwul bist. Sie haben sich an mich gewöhnt, schätzen mich für meine Persönlichkeit – und mein Vorgänger in der Kompanie war auch homosexuell.“

Eingetragene Partnerschaften oder die zivilrechtliche Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Personen sind in der Ukraine weiterhin verboten. Sollten Soldatinnen und Soldaten an der Front verwundet werden oder gar ums Leben kommen, dürfen ihre Partner weder über lebenserhaltende medizinische Behandlungen entscheiden noch den Leichnam entgegennehmen. Ein Recht auf Adoption hinterbliebener Kinder oder Erbrechtsansprüche gibt es ebenso wenig. Aber ausgerechnet der Krieg könnte das jetzt ändern.

Kampf gegen den Feind – und Homophobie

Nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ostukraine am 24. Februar 2022 hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj die Mobilmachung aller Wehrpflichtigen angeordnet. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen seither das Land nicht verlassen. Zu diesem Zeitpunkt studierte Olexandr im zweiten Semester an der Universität Kiew Medizin. Nach dem Angriff auf die Ukraine hat sich der 23- Jährige freiwillig gemeldet. Eine Woche später stand er an der Front, zunächst noch zur Versorgung Verwundeter in Kiew, danach in Irpin und Kharkiv im Osten des Landes. Für seinen Einsatz hat Olexandr vor Kurzem einen Orden von Präsident Selenskyj verliehen bekommen. Die Anerkennung seiner Kameraden in der Kompanie war ihm damit ebenso gesichert. „An der Front sind alle gleich, das haben die anderen Soldaten schnell gesehen. Sie kämpfen miteinander gegen den Feind, und sie sterben – wie, du und ich. Die Gesellschaft ändert sich durch den Krieg rasend schnell“, sagt Ira Nirsha von Ukrainian LGBT+ Military for equal rights. „Das war vermutlich die größte und wichtigste Erfahrung im Kampf für die Gleichstellung von Homosexuellen in der Ukraine.“

Geholfen hat hier auch die enorme Präsenz Iras Organisation in ukrainischen und internationalen Medien. Fernsehauftritte, Interviews und ein selbstbewusster Auftritt in sozialen Netzwerken; die Aktivistinnen und Aktivisten von Ukrainian LGBT+ Military for equal rights nützen alle verfügbaren Kanäle, um ihre Geschichten und Botschaften zu verbreiten – so auch Ira und Olexandr. Die Community ist weltweit durch Instagram und Facebook gut vernetzt, sie erhalten fast täglich Nachrichten aus allen Teilen der Ukraine und Europas.

Und dieses Netzwerk hat sich auch im Sommer bemerkbar gemacht. Ukrainian LGBT+ Military for equal rights initiierte eine Petition, um gleichgeschlechtliche Ehen in der Ukraine zu erlauben. Innerhalb kürzester Zeit sammelten sie über 28.000 Unterschriften. So viele sind notwendig, damit sich der Präsident mit dem Anliegen beschäftigt. Der Ball liegt jetzt bei Wolodymyr Selenskyj. Er hat das Thema bereits dem ukrainischen Parlament vorgelegt und „arbeite an Lösungen, um die Menschenrechte und Freiheit aller zu sichern“, lautet die Antwort auf die Petition aus dem Kiewer Marienpalast, dem Amtssitz des Präsidenten.

Laut ukrainischer Verfassung ist „eine Ehe nur zwischen Mann und Frau“ erlaubt. Die Legalisierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften oder Ehen würde somit nur mit einer Verfassungsänderung einher gehen, die aber auf Grund des im Februar verhängten Kriegsrechts derzeit nicht möglich ist. Ira und Olexandr haben dafür Verständnis. „Das Wichtigste ist, den Feind zu besiegen." Einen kleinen Sieg haben sie aber schon gefeiert, das Thema ist im Parlament und somit in der öffentlichen Debatte angekommen.

Russlands Propaganda gegen Homosexualität und „westliche“ Werte

Ein verstörter junger Mann spricht in die Kamera. Man merkt, dass er sich unwohl fühlt. Mit gebrochener Stimme sagt er: „Wir hatten ausländische Kämpfer aus dem Westen in unserer Einheit. Die waren aus Ländern, in denen gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt sind. Die Männer hatten miteinander Sex und auch mit uns. Ich persönlich zieh gerne Frauenkleider an“. Fake-Videos wie dieses über angebliche ukrainische Kriegsgefangene kursieren immer öfters auf Instagram oder werden in Telegram-Gruppen geteilt.

Dahinter soll die Propaganda-Maschinerie des Kremls stecken. Laut Ira Nirsha soll Russland ihre Organisation und deren Mitglieder als Propaganda missbrauchen und im Staatsfernsehen Falschmeldungen über Vergewaltigungen in der ukrainischen Armee durch schwule Soldaten verbreiten. „Es ist nicht nur ein Kampf gegen die Ukraine, sondern auch ein Kampf gegen westliche, moderne Werte“, ist Nirsha überzeugt. „Sie (Anm.: Russland) stecken Unmengen Geld in die Verbreitung solcher Fake-News im Internet.“

Bereits nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 hat Russland mit allen Mitteln versucht, die Rechte der LGBTIQ+ Community auf der Halbinsel zu beschneiden. Nach der Besetzung wurde jeder, der sich nicht klar als heterosexuell identifizierte, aus seinem Rang in der Armee entlassen und homophobe Gesetze, wie das Verbot der Regenbogenfahne, erlassen. Die Krim galt historisch als sicherer Rückzugsort für queere Menschen in Osteuropa, nicht zuletzt wegen der vielen Musikfestivals an den Stränden. Aktivistinnen und Aktivisten fürchten jetzt, dass sich dieses Vorgehen in den besetzen Gebieten der Ostukraine wiederholen, wenn nicht sogar verschlimmern könnte. In der russischen Armee gebe es keine Homosexuellen, lautet eine Stellungnahme aus dem Moskauer Verteidigungsministerium im Frühjahr. „Pure Propaganda, queere Menschen gibt es überall“, kontern Ira und Olexandr. Und genau deshalb tragen sie auch die Einhörner auf der Uniform, um zu zeigen: sie sind hier, sie sind mutig – und sie haben keine Angst.

Nach mehr als sieben Monaten an der Front kehrt Olexandr jetzt wieder zurück nach Kiew, um sein Medizinstudium abzuschließen. 

Maximilian Mayerhofer

Maximilian Mayerhofer

war bis Mai 2023 Online-Redakteur bei profil. Davor war er beim TV-Sender PULS 4 tätig.