Ach, Kiew!

Ukraine: Kurz vor den Wahlen deutet nichts auf eine friedliche Lösung des Konflikts hin

Ukraine. Wenige Tage vor den Wahlen deutet nichts auf eine friedliche Lösung des Konflikts hin

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Am kommenden Sonntag hätte alles gut werden sollen: Drei Monate nach dem Umsturz in Kiew wählt das Volk einen neuen Präsidenten aller Ukrainer und Ukrainerinnen; die russische Minderheit im Land fasst langsam Vertrauen in die demokratisch legitimierte Führung; internationale Sanktionen bringen Moskau dazu, seine Destabilisierungspolitik zu beenden; unabhängige Untersuchungen führen zur Aufarbeitung des Massakers auf dem Maidan-Platz in Kiew; die Ukraine wird langsam wieder zu einem friedlichen und einigen Staat.

Das war der Plan. Tatsächlich läuft aber fast nichts so, wie es sollte.
Schuld daran tragen aber nicht nur Wladimir Putin im Kreml und die prorussischen Separatisten im Osten des Landes – sondern auch die pro-westliche Übergangsregierung in Kiew und ihre mächtigen Unterstützer Europa und die USA.

Fünf Beispiele für das Versagen der Ukraine und ihrer Partner.

1) Kiew kann – oder will – die Spaltung des Landes nicht überwinden.
Ein runder Tisch hat den Vorteil, dass nicht deutlich wird, wer auf der einen und wer auf der anderen Seite sitzt. Das traf sich gut, als die ukrainische Regierung am vergangenen Mittwoch zum ersten Runden Tisch zur Lösung der Krise lud – es gab nämlich keine zwei Seiten, die einander gegenübersitzen konnten. Vertreter der pro-russischen Separatisten wurden nicht nach Kiew gebeten.
Das passt ins Bild einer Regierung, die nicht willens oder nicht imstande ist, auch nur ansatzweise integrativ aufzutreten. Das Übergangskabinett in Kiew weigert sich, mit Leuten zu verhandeln, die „Blut an den Händen haben“ oder „illegitime Forderungen erheben“. Bloß: mit wem dann?
Es ist eine Geisteshaltung, die sich schon 48 Stunden nach dem Sturz von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch gezeigt hatte. Damals schaffte eine Parlamentsmehrheit im Schnellverfahren die Möglichkeit ab, Russisch in bestimmten Regionen als offizielle Sprache zuzulassen. Es bedurfte des Drucks der EU, um das Gesetzesvorhaben zu stoppen.
Seither gelang Regierungschef Arseni Jazeniuk keine Geste der Versöhnung in Richtung der russischsprachigen Bevölkerung. Stattdessen machte die Nachricht Schlagzeilen, dass Hunter Biden, Sohn von US-Vizepräsident Joe Biden, beim ukrainischen Gasproduzenten Burisma als Cheflobbyist aufgenommen werde – ein willkommener Anlass für Moskau, erneut zu behaupten, die Regierung in Kiew sei von den USA gesteuert.
„Die Propaganda-Abteilung des Kreml kann sich ein langes Wochenende gönnen“, spottete der britische „Guardian“. Die Gefahr, die ukrainische Regierung könnte die Einheit des Landes wiederherstellen, ist sehr gering.

2) Für eine allgemein anerkannte Wahl fehlen grundlegende Voraussetzungen.
US-Außenminister John Kerry hatte eine Botschaft, die er selbst als „sehr einfach“ bezeichnete: „Lasst die Ukraine wählen!“, erklärte er vergangenen Donnerstag. Die Lage ist allerdings alles andere als einfach.
So viel steht bereits vor der für kommenden Sonntag, 25. Mai, geplanten Präsidentschaftswahl fest: In Teilen der Ost-ukraine wird sie nicht oder nur eingeschränkt durchgeführt werden können – etwa in den jüngst ausgerufenen „unabhängigen Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk. Damit steht aber zwangsläufig auch ihre Legitimität in Frage.
Dass die Ukraine versucht, so schnell wie möglich eine demokratisch anerkannte Regierung zu bilden, ist verständlich. Was vom Übergangskabinett bislang aber vernachlässigt wurde, ist die entscheidende Frage einer Verfassungsreform. Umfragen zufolge spricht sich auch im Osten des Landes nur eine extremistische Minderheit der Bevölkerung für einen tatsächlichen Anschluss an Russland aus. Die Mehrheit will schlicht und einfach größere Unabhängigkeit von Kiew.
Der Wechsel von einem zentralistischen zu einem föderalistischen System erfordert aber ein entsprechend adaptiertes Grundgesetz. Fehlt diese Voraussetzung, dann müssen die Ostukrainer ihre neue Regierung auf Basis einer Verfassung wählen, die ein Hauptgrund für den Unmut gegen Kiew ist – noch dazu ohne konkrete Aussicht, dass sich daran etwas ändert. Und das könnte weitaus mehr dazu beitragen, die Wahlbeteiligung zu senken, als alle Straßensperren und Boykottversuche durch prorussische Kräfte.

3) Die Übergangsregierung
hat ihr Gewaltmonopol nicht nur verloren, sondern auch ­verschenkt.
Es gibt in Konfrontationen einen entscheidenden Faktor, der eine ungewollte Eskalation verhindern kann: Die Professionalität der Bewaffneten. Doch genau daran mangelt es den ukrainischen Sicherheitskräften in besorgniserregendem Ausmaß.
Theoretisch verfügt das Land über 157.000 Armeesoldaten, 45.000 Grenzschützer und eine 40.000 Mann starke Truppe des Innenministeriums. Dennoch wurde in den vergangenen Wochen zusätzlich eine Nationalgarde aus dem Boden gestampft, die sich aus ehemaligen Angehörigen der Maidan-Selbstverteidigungsgruppen rekrutiert.
Warum? Zunächst, weil die Übergangsregierung dem eigenen Militär nicht wirklich traut. Eine Rolle spielt wohl auch die Angst davor, einer russischen Intervention nicht genügend Kampfkraft entgegensetzen zu können, und zudem die Tatsache, dass die Maidan-Milizen anders kaum von der Straße wegzubringen gewesen wären.
Nunmehr geraten die Nationalgardisten im Osten des Landes ohne ausreichende Ausbildung und Erfahrung mit Separatisten aneinander. In der Stadt Mariupol führte das beim Sturm auf ein besetztes Rathaus am 9. Mai zu einem Gefecht mit mindestens sieben Toten und 40 Verletzten. Vorfälle wie dieser können jederzeit dazu führen, dass die Lage komplett außer Kontrolle gerät.
Problematisch ist zudem, dass die Übergangsregierung – die zu Recht das Unwesen der prorussischen Milizen im Donbass beklagt – ihrerseits mit nationalistischen Bürgerwehren kooperiert. In Chernivtsi (Czernowitz) patrouilliert die Polizei laut einem Bericht der OSZE etwa Seite an Seite mit einer uniformierten „Selbstverteidigungsgruppe“ durch die Stadt. Die mit der EU vereinbarte Entwaffnung militanter Maidan-Demonstranten macht ebenfalls keine Fortschritte.
Die Ukraine hat ihr staatliches Gewaltmonopol also im Osten teilweise an prorussische Separatisten verloren und im Rest des Landes freiwillig an dubiose Gruppierungen teilprivatisiert. Je länger dieser Zustand anhält, desto größer ist das Risiko eines Bürgerkriegs.

4) Die Aufklärung des Maidan-Massakers kommt nicht voran.
Am Anfang stand der Schrecken über das Blutbad bei den Demonstrationen am Maidan-Platz in Kiew, das Scharfschützen des Regimes von Viktor Janukowitsch zur Last gelegt wurde. Allerdings waren auch Polizisten unter den Toten. Also: Wer hat tatsächlich geschossen? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend für die Aufarbeitung der Turbulenzen, die zum Machtwechsel führten. Die damalige Opposition verlangte – unterstützt von der EU – eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle. Der Europarat bot sich zur Aufklärung an.
Inzwischen sind mehrere Monate vergangen. Vor zwei Wochen hielt das internationale Beratergremium erst seine zweite Arbeitssitzung ab und beschloss dabei, von den Behörden in Kiew „Auskünfte über die Untersuchung dieser Zwischenfälle anzufordern“.
Für das lahme Tempo sind nicht die Beauftragten des Europarats verantwortlich, sondern die Akteure in Kiew. Dort stellt die frühere Opposition heute bekanntlich die Regierung, die Leitung der Ermittlungen untersteht dem Generalstaatsanwalt Oleh Machnizkyj, einem Mitglied der Rechtsaußen-Partei Swoboda. Gleichzeitig verhinderten die Behörden, dass sich das Europarats-Gremium selbst an den Untersuchungen beteiligt – es darf bloß beobachten.
Zuletzt drängte die EU auch darauf, die Brandkatastrophe von Odessa in die Untersuchungen einzubeziehen, bei der am 2. Mai mehr als 30 pro-russische Aktivisten starben, nachdem mutmaßlich ukrainische Nationalisten ein Gewerkschaftshaus angezündet hatten. Noch hat die ukrainische Regierung der Idee nicht zugestimmt. Entschlossene Aufklärung sieht anders aus.

5) Die Sanktionen von EU und USA machen keinen Sinn.
Erst verhängten EU und USA Sanktionen gegen Angehörige und Unterstützer des Janukowitsch-Regimes, weil sie diese für die Eskalation der Situation verantwortlich machten. Es folgten Strafmaßnahmen – das Sperren von Konten sowie Einreiseverbote – gegen russische Militärs, Abgeordnete und zwei Unternehmen, die bei der Annexion der Krim eine Rolle gespielt hatten. Russland wurde aus den jährlichen G8-Treffen verbannt.
Bei aller moralisch unterfütterten Straf-Symbolik ging die Überlegung verloren, was die Sanktionen eigentlich bewirken sollen. Das Einfrieren von Konten blieb weitgehend wirkungslos, weil kaum Geld gefunden wurde, das man den gelisteten Personen zurechnen konnte. Die Visa-Sperren kümmern kaum jemanden.
Gleichzeitig führt Frankreich jegliche EU-Sanktionen gegen das militärische Vorgehen Russlands ad absurdum, indem es dem Kreml zwei Kriegsschiffe vom Typ „Mistral“ im Wert von 1,2 Milliarden Euro liefert – das erste noch dieses Jahr – und zudem 400 russische Marine-Soldaten als Mannschaft dafür ausbildet.
Im Vergleich zu Geschäften wie diesem sind Kontosperren und dergleichen bloß lächerliches Geplänkel – und werden von Moskau auch als solches betrachtet. Die einzige Provokation, die Russland tatsächlich getroffen hat, wurde nicht von den EU-Außenministern beschlossen: Der Sieg der bärtigen Dragqueen Conchita Wurst beim Eurovision-Song-Contest.

*

Zwar ist Russland der hauptsächliche Urheber des Zerfalls der Ukraine, weil es alles unternimmt, um eine Westannäherung des Landes zu torpedieren. Das Schlimme ist jedoch: Die Führung in Kiew agiert ungeschickt, fahrlässig und engstirnig – und weder Europa noch die USA verhindern das.
So vergibt die neue Ukraine ihre Chance, zwei wesentliche Trümpfe gegenüber Russlands rücksichtslosem Mobbing einzusetzen: politische und moralische Integrität.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur