Warum Wladimir Putin mittlerweile nach ganz eigenen Regeln spielt
Im Juni des Jahres 2005 empfing Wladimir Putin eine Gruppe von US-amerikanischen Geschäftsleuten in St. Petersburg. Robert Kraft, ein schwerreicher Industrieller, dessen Konzern The Kraft Group unter anderem das American-Football-Team der New England Patriots besitzt, war einer der Gäste des russischen Staatspräsidenten. Im Jahr davor hatten die Patriots die Super Bowl, das Finale der National Football League, gewonnen, und Kraft trug denRing bei sich, den die Mitglieder des siegreichen Teams erhalten. Es war ein 4,94-karätiger, mit 124 Diamanten besetzter Goldring. Geschätzter Wert: etwa 25.000 Dollar. Putin bat, ihn sehen zu dürfen. Kraft reichte ihn dem Präsidenten. Der steckte sich das massive Schmuckstück an den Finger und rief aus: Damit könnte ich jemanden töten! Dann ließ er den Ring in seiner Tasche verschwinden, zog, von drei Leibwächtern abgeschirmt, davon und schloss die Tür hinter sich. Kraft sah den Ring nie wieder.
Erst im vergangenen Jahr erzählte der heute 72-jährige Geschäftsmann diese Geschichte bei einer Rede anlässlich einer Gala im New Yorker Hotel Waldorf-Astoria, von der die New York Post berichtete. Kraft sagte demnach, er sei 2005 vom Weißen Haus gebeten worden, den Ring nicht zurück zu verlangen, um einen Eklat zuvermeiden. Widerwillig habe er die Bitte befolgt und stattdessen öffentlich erklärt, Putin den Ring geschenkt zu haben. Putins Sprecher wiesen diese Darstellung zurück und beharrten darauf, Kraft habe Putin den Ring von sich aus als Geschenk überreicht.
Ist es vorstellbar, dass sich ein Staatspräsident einfach nimmt, was er will? Nein? Die aktuelle ukrainische Regierung sieht das anders. Und nicht nur sie. Vergangene Woche nämlich nahm sich Putin die ukrainische Halbinsel Krim. Oder, wie es seine Sprecher formulieren würden, er bekam die Krim als Geschenk überreicht, indem das dortige Parlament Moskau bat, sich Russland anschließen zu dürfen. Die Regierung in Kiew wird die Souveränität über die Krim ebenso wenig zurück bekommen wie Robert Kraft seinen Super-Bowl-Ring.
Schlimmer noch: Russland ist für den Westen völlig unberechenbar geworden. Eine Krise in der Ukraine, die beherrschbar zu sein scheint, droht, sich plötzlich in einen Krieg zu verwandeln. Weil Moskau Soldaten schickt, eine Invasion teils andeutet, teils tatsächlich beginnt, und anstelle des Völkerrechts die eigene Interessenlage voranstellt.
Wenn Putin etwas will, kann niemand mehr einschätzen, welche Grenze er nicht zu überschreiten bereit wäre. Putin habe den Kontakt mit der Realität verloren, soll die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in einem Telefonat mit US-Präsident Barack Obama gesagt haben, der russische Präsident lebe in einer anderen Welt.
Wenn Russland und der Westen nicht mehr in derselben Welt leben, ist die globaleStabilität in Gefahr. Für Putin ist der Westen zum Feind geworden, den erzurück schlagen muss, um sein Reich zu schützen. Dabei kennt er keine Skrupel, und es gibt keine Opposition im eigenen Land, die ihm bei diesem Ansinnen Widerstand leisten könnte. Unangefochten bringt er die militärische Großmacht Russland in Konfrontationsstellung zum Westen. Das macht ihn zum derzeit wohl gefährlichsten Mann der Welt.
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