Ukrainische Vize-Premierministerin: „Russland könnte Wahllokale angreifen“
Im März sollten in der Ukraine Präsidentschaftswahlen stattfinden, doch die Regierung in Kiew lehnt das ab. Vize-Premierministerin Olha Stefanischyna wundert sich im Gespräch mit profil, wieso in Wien der Ruf nach der Abhaltung der Wahlen besonders laut ist.
Im März sollten in der Ukraine Wahlen stattfinden, doch Ihre Regierung lehnt das ab. Wieso?
Stefanischyna
Unsere Verfassung verbietet das Abhalten von Wahlen in Kriegszeiten. Was die Sicherheitslage betrifft, wäre das sehr kompliziert. Russland hat ukrainische Zivilisten im Visier, Wahllokale könnten angegriffen werden. Zudem stehen immer noch viele ukrainische Gebiete unter russischer Besatzung, unsere Städte sind unter Beschuss. Es gibt rechtliche und praktische Gründe, wieso wir die Wahlen nicht abhalten können. Das ist keine politische Entscheidung.
Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg fordert die Abhaltung der Wahl. Er spricht von einem wichtigen Signal für die Demokratie.
Stefanischyna
Das überrascht mich. Ich bin seit einem halben Tag in Wien und wurde schon drei Mal darauf angesprochen. Das ist interessant, denn überall sonst verstehen die Menschen, dass wir die Wahlen nicht abhalten können.
Hat Europa- und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler Sie auch darauf angesprochen?
Stefanischyna
Sie hat nichts gefordert, sondern sich nach der rechtlichen Situation erkundigt.
Nichts deutet darauf hin, dass der Angriffskrieg Russlands bald enden wird. Welche Perspektiven auf demokratische Teilhabe können Sie den Menschen in der Ukraine geben?
Stefanischyna
Es ist einfach, das von Wien aus zu besprechen. Anders ist es, wenn man im (unter russischem Beschuss stehenden, Anm.) Oblast Sumy in ein Wahllokal geht – und das zum letzten Ausflug des Lebens werden könnte. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer befinden sich in besetzten Gebieten und können nicht wählen gehen. Hinzu kommt die Größe unseres Landes. Allein die Region Kiew entspricht der Größe eines einzigen baltischen Landes. Das Sicherheitsrisiko ist zu groß. Um unsere Antwort auf die Frage nach den Wahlen zu verstehen, muss man den Krieg mit eigenen Augen sehen. Wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man die Kinder zu Bett bringt und nicht weiß, ob sie am nächsten Morgen wieder aufwachen? Der erste Schritt zu Sicherheit in der Ukraine ist eine allumfassende Luftabwehr.
In Umfragen sprechen sich immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer für ein rasches Ende des Krieges und für Friedensverhandlungen aus. In einer Gallup-Umfrage waren es rund 31 Prozent, im Jahr zuvor waren es 26 Prozent gewesen. Wie geht Ihre Regierung damit um?
Stefanischyna
Die Umfrage des US-amerikanischen „International Republican Institute“ kommt zu anderen Ergebnissen: 73 Prozent der Befragten sind sicher, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird; 21 Prozent sind positiv eingestellt. Nur zwei Prozent glauben nicht an einen Sieg, ein Prozent ist sich sicher, dass wir verlieren. Nicht zu gewinnen, würde einen endlosen Krieg bedeuten. Wir haben die Annexion der Krim und des Donbass gesehen, wir hatten die Minsker Verhandlungen und das Normandie-Format, all das hat nichts geändert. Die Friedensverhandlungen der Vergangenheit haben zu einem Angriffskrieg geführt. Kein Land der Welt kennt die Strategien Russlands besser als wir. Wer kritisch denkt, erkennt, dass man Dinge durch Verhandlungen hinauszögern kann. Doch eines Tages wird die Aggression zurückkommen. Wir haben einen klaren Plan: unsere Friedensformel.
Diese sieht unter anderem den Abzug der russischen Truppen, die Freilassung aller Kriegsgefangenen, ein Tribunal für Kriegsverbrecher und Sicherheitsgarantien für die Ukraine vor – Maximalforderungen sozusagen.
Stefanischyna
Frieden wird nicht an einem Tag gemacht. Wir arbeiten die Friedensformel Schritt für Schritt ab. Das Strategiebuch der Russen ist seit Jahrzehnten dasselbe. Wir können es jetzt ändern. Es sollte unser gemeinsames Ziel sein, die Friedensformel umzusetzen und der Ukraine zum Sieg zu verhelfen.
Welche Gesprächskanäle gibt es noch zwischen Kiew und Moskau?
Stefanischyna
Es gibt Kommunikation auf militärischer Ebene über den Austausch von Kriegsgefangenen sowie zwischen den Bürgerbeauftragten über die Rückkehr der nach Russland deportierten Kinder und Jugendlichen. Kurz nach Kriegsbeginn gab es den Versuch von Verhandlungen. Doch dann sahen wir die von russischen Soldaten vergewaltigten und ermordeten Männer, Frauen und Kinder in Butscha. Zivilisten wurden regelrecht hingerichtet. Mitten in den Verhandlungen wurde das Theater in Mariupol bombardiert, in dem sich Zivilisten versteckten. Da war klar, dass es keinen Raum für Debatten gibt. Ich verstehe, dass alle müde sind, aber eines kann ich Ihnen sagen: Die Menschen im Westen sind mit Sicherheit nicht so erschöpft wie die Ukrainerinnen und Ukrainer. Es gibt keine rasche Lösung, denn sie muss nachhaltig sein, um den Krieg zu beenden und Sicherheit in Europa zu garantieren.