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Ungarn: Rechtspopulist Viktor Orban vor der Wiederwahl

Ungarn. Rechtspopulist Viktor Orban vor der Wiederwahl

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Von Gregor Mayer/Felcsut

Liebevoll krault Andras Varadi dem ­zotteligen Muttertier mit der einen Hand das Rückenfell, während er ihm mit der anderen ein Büschel Heu füttert. „Vor drei Jahren hatte ich 360 Tiere“, sagt der 49-Jährige mit Wehmut in der Stimme: „Jetzt sind mir noch 15 Schafe und 37 Ziegen geblieben.“

Varadi ist Schafzüchter im 100-Seelen-Weiler Göm-böljaras, 50 Kilometer westlich von Budapest. Drei Generationen lang hat seine Familie dort ihre Herden grasen lassen, doch jetzt ist kein Platz mehr für sie – und das liegt nicht zuletzt an Premierminister Viktor Orban.

Orban-Ungarn
Das Dreieck zwischen den Orten Gömböljaras, Alcsutdoboz und Felcsut ist die Herkunftsstätte des ungarischen Regierungschefs. Hier ist der Rechtspopulist, dessen Wiederwahl bei der Parlamentswahl am kommenden Sonntag als so gut wie sicher gilt, aufgewachsen. Hier hat er als Zehnjähriger Fußball zu spielen begonnen, und damit eine Leidenschaft entdeckt, der er selbst in seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident (1998–2002) noch beim damaligen Unter- und heutigen Nationalligisten FC Felcsut aktiv frönte. Und hier verbringt er große Teile seiner Freizeit – in einem von Großmannssucht, rustikalem Feudalismus und Provinzromantik geprägten Mikrokosmos, der ganz Orban-Ungarn modellhaft abbildet.

Sein Zentrum ist Orbans Landsitz in Felcsut: ein proper geweißeltes Häuschen mit rotem Ziegeldach und Geräteschuppen, rundherum ein schlichter Holzzaun. Hier könnte ein schlichter Kleinbürger wohnen – wenn da nicht die Fußballakademie wäre, die der Regierungschef 2009 unmittelbar daneben aus dem Boden stampfen ließ. Die wuchtige Ornamentik in ihrem Inneren gemahnt mehr an einen Sektentempel als an eine Sport-ausbildungsstätte. Entworfen wurde sie von dem inzwischen verstorbenen Architekten Imre Makovecz, dessen Arbeiten seine anthroposophischen und nationalistischen Überzeugungen widerspiegeln. Schüler von Makovecz haben auch das Fußballstadion geplant, das gerade an der Grundgrenze von Orbans Anwesen hochgezogen wird und mit seinen geschwungenen Dächern, den Holzbögen und den glänzenden Messingkuppeln wie eine Paraphrase auf Schlumpfhausen wirkt. 3500 Sitzplätze hat das Stadion, 1800 Einwohner Felcsut. Demnächst soll der kleine Flugplatz des Dorfes zu einem Airport ausgebaut werden, eine Bahnstrecke ist ebenfalls geplant.

„Jetzt ist da alles eingezäunt”
Warum? Vielleicht auch, weil die Geschäfte der lokalen Günstlinge des Premiers gar so gut laufen. Bürgermeister Lörinc Meszaros, ein enger Orban-Vertrauter, hat etwa eine Rinderzucht aufgebaut und alles Weideland in der Umgebung gepachtet. Das ist ein gutes Geschäft, denn die EU fördert Landwirtschaftsflächen mit Viehhaltung mit 225 Euro pro Hektar.
Über rund 1400 Hektar Land gebietet Meszaros inzwischen. Eine seiner Weiden grenzt an das Gehöft, das sich die Familie von Schafzüchter Andras Varadi mit anderen Kleinbauern und Kleintierhaltern teilt. Im Kommunismus und auch nach der Wende hatte das bukolisch wirkende Hügelland einer Staatswirtschaft gehört. Der Deal mit den Bauern war für beide Seiten nützlich: Die Tiere durften weiden, die Schäfer zahlten eine kleine Pacht und hielten die Wiesen in Ordnung. „Jetzt ist da alles eingezäunt. Es gibt keinen Auslauf mehr. Ich musste fast alle meine Tiere verkaufen“, klagt Varadi.

Am Viehgatter des Bürgermeisters parkt ein Wagen des privaten Sicherheitsunternehmens Euroved. Das Fahrzeug sieht bis auf den Schriftzug an den Türen genauso aus wie die weiß-blauen Autos der ungarischen Polizei. „Die sind auch dazu da, um mich zu beobachten“, glaubt Varadi. Tatsächlich ist er der Einzige, der den Mut aufbringt, die hier herrschenden feudalen Verhältnisse öffentlich anzuprangern und den Ortschef zu kritisieren.

Rinderzüchter ist der ehemalige Gasmonteur Meszaros erst seit Kurzem. Bereits längere Zeit fungiert er als Präsident der Fußballakademie und Generalunternehmer des Stadionbaus. Hinter vorgehaltener Hand bezeichnen ihn die Leute als „Strohmann“ des Ehepaars Orban, das nur Immobilien, aber keine Unternehmen besitzt.

Beweisen lässt sich das zwar nicht. Doch es fällt auf, dass der Bürgermeister sein Vermögen in den vier Jahren der Ministerpräsidentschaft Orbans enorm zu vermehren vermochte. Mit geschätzten 6, 9 Milliarden Forint (220 Millionen Euro) steht er auf Platz 88 der Liste der reichsten Menschen Ungarns. Gute Geschäfte hat in dieser Zeit auch Janos Flier gemacht, ein ehemaliger Automechaniker, der heute Geschäftspartner von Orbans Frau Aniko Levai ist.

Landromantik
Für Orban selbst verbinden sich in dieser beschaulichen und dennoch nah an der Hauptstadt Budapest liegenden Ecke des Landes Geschäftsinteressen aufs Idealste mit Kindheitserinnerungen und Landromantik. Der Politiker, der Ungarn in den 25 Jahren seit der Wende wie kein anderer geprägt – und entdemokratisiert – hat, wurde am 31. Mai 1963 in der nahegelegenen Stadt Szekesfehervar geboren. Die familiären Verhältnisse waren ärmlich, aber von aufstiegsorientiertem Ehrgeiz geprägt. Vater Gyözö mauserte sich vom einfachen Maschinentechniker zum Steinbruchdirektor, Mutter Erzsebet wurde im zweiten Bildungsweg Logopädin. Viktor und seine zwei jüngeren Brüder mussten spuren und wurden bereits als Kinder zu Arbeiten im Garten und bei der Kleintierzucht angehalten. Ohrfeigen setzte es schnell. Vor allem der schlagfertige und freche Viktor bekam seinen Anteil ab. „Vater war sowieso ein aggressiver Mensch“, erinnerte sich Orban 1989 in einem freimütigen Interview. „Einige Male hat er mich richtig verprügelt, nicht häufig, aber dann ordentlich, wie sich’s gehört.“ Es war eine harte Welt, in der sich der körperlich Stärkere durchsetzte. Seine eher kleine Statur machte Viktor durch Zähigkeit und Willensstärke wett. Politisiert wurde in diesem Milieu nicht. Anpassen und anpacken lautete die Devise.

Das Gymnasium in Szekesfehervar brachte den Schüler Orban mit Sprösslingen aus bürgerlichen Familien zusammen, deren Antikommunismus ihn ansteckte. Das Jusstudium in Budapest weitete seinen Horizont, ambitioniertere Kommilitonen fanden sich in Studienkollegien zusammen, in denen sogar Dissidenten wie der Philosoph Janos Kis und der Samisdat-Verleger Gabor Demszky unzensurierte Vorträge hielten – also Leute, die ansonsten Auftritts-, Veröffentlichungs- und Berufsverbot hatten. Während der ungarische Kommunismus im Niedergang war, trat Orbans angeborene Führernatur hervor. Zusammen mit anderen gründete er 1988 die erste regime-unabhängige Jugendorganisation, den Bund Junger Demokraten (Fidesz).

Die damals linksliberale Jugendpartei schaffte 1990 den Einzug in das erste frei gewählte Parlament. Orban wurde Fraktionschef. 1993 riss er die Macht in der Partei an sich. Das betraf vor allem die Kontrolle über die Finanzgebarung und damit auch die damals nicht unbeträchtlichen staatlichen Parteienförderungen.

Das Geld setzte Orban nicht nur für politische Zwecke ein. Auch eine Anschubfinanzierung für den Steinbruch, den sein Vater als vormaliger Manager und KP-Parteibuchinhaber bei der allgemeinen Privatisierung in seinen Besitz gebracht hatte, ließ sich damit bewerkstelligen. Schlüsselfigur dieser – juristisch nie beanstandeten – Transaktionen war ein gewisser Lajos Simicska, heute der reichste und mächtigste Oligarch im Umfeld des Regierungschefs.

Den Niedergang der ersten bürgerlich-rechten Regierung beobachtete der wendige Jungpolitiker Orban aus der Opposition heraus. Zugleich führte er seine Partei nach rechts, in das ideologische Vakuum hinein, das die gescheiterten Konservativen hinterlassen hatten. 1998 wurde Orban als jüngster Ministerpräsident in der Geschichte Ungarns vereidigt, an der Spitze einer von seiner Fidesz geführten rechten Koalitionsregierung. Schon damals unternahm er erste Versuche, demokratische Regeln und Mechanismen auszuhebeln. Und er öffnete sich gegenüber den extremen Nationalisten, um das Wählerpotenzial rechts der Mitte maximal abzuschöpfen.

2002 wurde Orban überraschend abgewählt. Einer knappen Mehrheit der Ungarn war sein Machtdrang dann doch zu missionarisch gewesen. Das Ergebnis wollte er zunächst nicht anerkennen: „Die Heimat kann nicht in der Opposition sein“, tönte er damals.

Die linksliberale Koalition, die anschließend an die Regierung kam, wirtschaftete Ungarn innerhalb von acht Jahren völlig ab. Bei den Wahlen 2010 errang Orban mit 53 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Er nutzte sie hemmungslos, um den Staat nach seinen Bedürfnissen umzukrempeln. Hunderte Gesetze und eine neue Verfassung schwächten die demokratischen Grundrechte wie in keinem anderen Land der EU (siehe Kasten). Die freien Medien wurden marginalisiert, die Staatsmacht gestärkt. In den Amtsstuben wird angstvoll geflüstert. Karriere machen, öffentliche Aufträge ergattern, Land pachten oder auch nur Lizenzen für Tabak-Trafiken erhalten können lediglich jene, die das Vertrauen von Orbans Küchenkabinett oder dessen örtlichen Statthaltern genießen.

Auch im Mikrokosmos von Felcsut lässt sich dieses Feudalsystem gut beobachten. Ein Satrap wie Bürgermeister Meszaros scheint an kein Recht und Gesetz gebunden zu sein. Vor zwei Jahren erstattete Nachbar Andras Varadi Anzeige gegen ihn: Männer des Orban-Vertrauten hätten von seiner kleinen Wiese Dünger im Wert von 2000 Euro – viel Geld für den Schafbauern – entwendet. Die Polizei blieb jedoch untätig, so Varadi.

Schon im Juni 2011, erzählt der Schafzüchter weiter, sei Meszaros im Mercedes bei ihm vorgefahren und habe ihn auf eine Tour durch die nähere Umgebung eingeladen: „Dieses Feld gehört mir, dieses hier, dieses …“, soll der Bürgermeister dabei gesagt haben: „Du wirst bald nichts mehr zum Weiden für deine Schafe haben.“ Das war ein halbes Jahr, bevor der staatliche Bodenfonds die Flächen überhaupt erst zur Verpachtung ausschrieb.

Praktiken wie diese kümmern nur wenige. Immerhin trat aber kürzlich der Fidesz-Agrarpolitiker Jozsef Angyan, Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, unter Protest gegen die weitum im Land gepflegte Bodenvergabe zurück – und aus der Fraktion aus. „Im Gegensatz zu Ihrem Wahlprogramm reißen sich beutegierige wirtschaftliche Interessensgruppen, um nicht zu sagen: Mafia-Familien, Oligarchen des spekulativen Großkapitals, Privatisierungsgewinnler und ‚grüne Barone‘, den Boden unter den Nagel“, hielt er Orban vor.

Angyans Worte ließen den Regierungschef unbeeindruckt. Nach dem zu erwartenden Wahlsieg am 6. April wird er das Fußballstadion neben seinem Landhaus in Felcsut einweihen und dann im Schatten des megalomanischen Bauwerks feiern. Bürgermeister Meszaros und seine anderen Gefolgsleute sind sicher mit von der Partie. Nur einer wird an der Sause gewiss nicht teilnehmen: Andras Varadi krault lieber die letzten Schafe, die ihm noch geblieben sind.