Derzeit sieht alles nach einer weiteren Amtszeit für Viktor Orbán aus.

Ungarn: Was Viktor Orbán so erfolgreich macht

Er hasst Flüchtlinge, legt sich permanent mit der EU an und dämonisiert seine Gegner. Die Parlamentswahlen am 8. April dürften ihm eine dritte Amtszeit in Folge bescheren. Was macht Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán so erfolgreich?

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Wahlkampf in Ungarn. 200 Interessierte haben sich im Theatersaal des Kulturzentrums des Budapester Außenbezirks Újpest eingefunden. „Bürgerzentrum“ steht am Eingang über dem schönen Haus aus dem 19. Jahrhundert, das von der klassizistischen Ästhetik der Gründerzeit geprägt ist. Der Redner des Abends ist Parlamentspräsident László Kövér. Als Mitgründer der rechtspopulistischen Regierungspartei Fidesz ist er ein politisches Urgestein. Das Durchschnittsalter des Publikums liegt bei rund 60 Jahren.

Kövér, ein harscher Recke mit mächtigem Schnauzbart, ist seit 2010 im Amt. Ihm steht eine Parlamentswache zu Diensten, die neuerdings sogar mit Schnellfeuergewehren und Granatwerfern bewaffnet ist. Unter den Oppositionsabgeordneten ist er verhasst. Immer wieder verdonnert er sie zu hohen Geldstrafen, wenn sie im Plenum des Hohen Hauses Protestbanner entrollen, um auf Missstände aufmerksam zu machen, die von den regierungskontrollierten Medien totgeschwiegen werden. Hier, im Bürgerzentrum Újpest, gibt er ein Heimspiel. Als ein Provokateur durch die geöffnete Tür zum Vorraum hereinruft „Mein Gott, du hast genug gelogen!“, winkt er routiniert ab. Die Zuhörer lachen belustigt auf. Sie sind Anhänger seiner Partei, die sich für die Veranstaltung anmelden mussten. Wenig später schlägt Kövér einen ernsten Ton an: „Diese Wahl ist sehr wichtig. Es geht nicht nur um die nächsten vier oder acht oder acht plus acht Jahre. Es geht um unsere Kinder und Enkelkinder. Es soll eine Weltregierung kommen. Es ist eine Liquidierung im Gange, eine Liquidierung des Staates, der Nation.“

Der Alarmismus des langjährigen Weggefährten von Regierungschef Viktor Orbán soll die Kernschichten noch einmal aufrütteln. Die Wahl am 8. April wird der Fidesz-Partei mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut eine absolute Mehrheit im Parlament bescheren. Orbán wird höchstwahrscheinlich seine dritte Ministerpräsidentschaft in Folge antreten. Nicht, dass er ausgesprochen beliebt wäre: Nach einer Umfrage des Instituts Závecz von Ende Februar wünschen sich 43 Prozent, dass er geht, und 37 Prozent, dass er bleibt – der Rest hat dazu keine Meinung. Nur 43 Prozent der Wähler wollen, dass Orbán künftig eine bestimmende Rolle in der Politik spielt. Doch den Oppositionskandidaten trauen sie noch weniger. Gergely Karácsony, der Spitzenkandidat des links-grünen Wahlbündnisses MSZP-PM, kommt auf einen Beliebtheitswert von lediglich 32 Prozent (siehe Interview hier).

Orbán im Wahlkampf in Budapest

Das ungarische Wahlrecht begünstigt die relativ stärkste Partei, und das ist derzeit Fidesz. 106 der 199 Mandate werden an Direktkandidaten vergeben. Eine Stichwahl gibt es seit 2014 nicht mehr. Die Wähler der Opposition verteilen sich auf mehrere, zum Teil ideologisch entgegengesetzte Parteien: die rechtsradikale Jobbik, die sozialdemokratisch-grüne Allianz MSZP-PM, die linke DK (Demokratische Koalition) von Ex-Premier Ferenc Gyurcsány, die Grün-Partei LMP. In fast allen Wahlkreisen ist Fidesz die relativ stärkste Partei. Ihr Kandidat kann mit 40 oder noch weniger Prozent der Stimmen das Mandat gewinnen, wenn alle anderen Kandidaten jeweils weniger Stimmen bekommen. Vor vier Jahren errang Fidesz mit einem Stimmanteil von 45 Prozent knapp mehr als zwei Drittel der Parlamentsmandate. Dafür reichten die Stimmen von 2,3 Millionen von knapp acht Millionen wahlberechtigten Bürgern, bei einer Wahlbeteiligung von 62 Prozent.

Seit 16 Jahren wählen bei jeder Wahl mindestens 2,3 Millionen Menschen die Orbán-Partei. Das war selbst 2006 der Fall, als sie mandatsmäßig besonders schlecht abschnitt. Auch am 8. April kann die Regierungspartei mit einer ähnlichen Stimmenzahl rechnen. Orbán scheint auch am Vorabend seiner dritten Amtszeit unverwüstlich zu sein. Wie schafft er es, dauerhaft so viele Menschen an sich zu binden?

Seiner Anhängerschaft vermittelt er ein starkes Wir-Gefühl. Konsequent hat er seit der Rechtswendung der Fidesz-Partei in den 1990er-Jahren die Begriffe „Nation“ und „Ungartum“ vereinnahmt. In seiner Erzählung blicken die Ungarn auf eine glorreiche Geschichte zurück, die aber vor allem in jüngerer Zeit durch große Ungerechtigkeiten verdüstert wurde. Vor allem die Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg (für Ungarn war der Friedensvertrag aus dem Versailler Lustschloss Trianon maßgebend) rühren am kollektiven Schmerzempfinden. Tatsächlich leben heute mehr als zwei Millionen ethnische Ungarn in den Nachbarländern, vor allem in Rumänien, der Slowakei und Serbien. Orbán hat ihnen die ungarische Staatsbürgerschaft angeboten, und jene, die sie angenommen haben, genießen nun sogar das Wahlrecht in Ungarn.

Zur Abgrenzung braucht das Wir-Gefühl Feindbilder.

Orbáns Anhängern gefällt es, wie sich ihr Ministerpräsident mit den Großen der Welt anlegt, wenn es die Interessen des Landes zu erfordern scheinen, und wie er ihnen damit nach der empfundenen historischen Schmach vermeintlich ein Stück Würde zurückgibt. Mit der strikten Ablehnung von EU-weiten Quoten für die Verteilung von Asylwerbern hat Orbán nicht nur gegen Brüssel Position bezogen, sondern auch die anderen Länder der Visegrád-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) für die Ablehnungsfront mobilisiert.

Orbán diktierte den ausländischen Banken neue Konditionen, als die Fremdwährungskredite wegen des gefallenen Forint-Kurses für die ungarischen Kreditnehmer zur unerträglichen Last wurden. Im Wahlkampf vor vier Jahren verordnete er den Energie-Multis niedrigere Strom- und Gaspreise. Auf jeder Strom- und Gasrechnung musste damals vermerkt sein, wie viel Geld der betreffende Kunde dank der Regierung weniger zu zahlen hatte.

Im Újpester „Bürgerzentrum“ schlägt Parlamentspräsident Kövér den Bogen zur Schelte durch die EU-Institutionen und internationalen Medien, die sich Orbán mit seinen Robin-Hood-Aktionen eingehandelt hat: „Diese Angriffe gegen Ungarn sind nur logisch: Es darf wohl nicht Schule machen, wie sich ein relativ kleines Land wie unseres seine relative Unabhängigkeit erringt.“ Zur Abgrenzung braucht das Wir-Gefühl Feindbilder. Neben den „Brüsseler Eliten“ sind das seit 2015 vor allem die Flüchtlinge.

Viktor Orbán im Jahr 1998, als er erstmals den Auftrag zur Regierungsbildung bekam

Hunderttausende zogen im Sommer jenes Jahres durch Ungarn. Keiner blieb, alle wollten in den Westen. Die plastische Erfahrung großer Menschenmengen aus der Fremde blies Orbán zu einem überlebensgroßen Bedrohungsbild auf. Nirgendwo sonst in Europa gibt es vergleichbar hasserfüllte Dauerkampagnen. „Migranten sind wie Zahnpasta“, predigt Orbán im Wahlkampf: „Ist die Pasta erst aus der Tube, kriegt man sie nicht mehr rein.“ Seine Anhänger finden das witzig, Kritiker sind entsetzt.

Seit mehr als einem Jahr zielt der Propaganda-Feldzug auf den US-Milliardär George Soros ab. Ihm wird unterstellt, die Flüchtlingsströme von 2015 persönlich organisiert zu haben. Europa sollte demnach mit muslimischen Migranten überschwemmt werden, damit die europäischen Nationen ihre „christliche und nationale Identität“ verlieren. Orbáns Kritiker und Gegner sind nach dieser kruden Verschwörungstheorie allesamt „Söldner“ von Soros, von ihm „gekauft“, „essen ihm aus der Hand“. Die Dämonisierung von Soros verfolgt aber noch einen anderen Zweck: Der in Budapest geborene Holocaust-Überlebende, der sein Geld mit Börsenspekulationen machte, unterstützt mit seinen Stiftungen weltweit – auch in Ungarn – Zivilorganisationen, die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen. Dem autoritär angehauchten Orbán sind die von Soros geförderten, in Ungarn tätigen Zivilvereine ein Dorn im Auge. Bereits beschlossene und geplante weitere Gesetze sollen sie künftig in die Illegalität drängen.

Regierungsgegner thematisieren zunehmend Strategien, um den unerschütterlich erscheinenden Fidesz-Vorteil bei den Direktmandaten auszuhebeln.

Orbáns Macht über die Menschen stützt sich auch auf die von ihm kontrollierten Medien. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein reines Propagandaorgan. Von Orbán abhängige Oligarchen haben zahlreiche Privatfernsehsender, Internet-Portale und alle Lokalzeitungen aufgekauft. Im Oktober 2016 wurde die wichtigste regierungskritische Zeitung des Landes, die „Népszabadság“, durch eine derartige „feindliche“ Übernahme gekillt. Die gesteuerte Verteilung von Ackerland, die staatliche Vergabe von Trafiklizenzen, die Auftragserteilungen durch Fidesz-gelenkte Gemeindeverwaltungen haben auch auf der lokalen Mikroebene wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse geschaffen, die ganze Bevölkerungssegmente an die Regierungspartei ketten.

Trotzdem ist in den vergangenen Wochen – und das erklärt Kövérs düstere Szenarien – Sand ins Getriebe von Orbáns Wahlmaschinerie gekommen. Regierungsgegner thematisieren zunehmend Strategien, um den unerschütterlich erscheinenden Fidesz-Vorteil bei den Direktmandaten auszuhebeln. Wähler, die Orbán satthaben, werden dazu aufgerufen, ihre Direktstimme jenem Kandidaten zu geben, der in ihrem Wahlkreis die besten Chancen hat, den Fidesz-Kandidaten zu schlagen, auch wenn er nicht der vom Wähler präferierten Partei angehört. Ob und in welchem Ausmaß das am Wahltag funktionieren wird, weiß niemand. Das macht Prognosen über die Mandatsverteilung schwierig.

In den regierungskritischen Medien werden außerdem immer mehr Korruptionsfälle aus Orbáns Umfeld publik. Die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF beschuldigt Unternehmen, in denen Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz eine Schlüsselrolle spielte, der Manipulation kommunaler Ausschreibungen für EU-geförderte Beleuchtungskörper. Die Behörde spricht von „Betrug im Stile organisierten Verbrechens“ und empfiehlt der EU-Kommission, von Budapest EU-Förderungen in Höhe von 44 Millionen Euro zurückzufordern.

Orbán droht inzwischen seinen politischen Gegnern unverblümt.

Der langjährige Orbán-Gefährte und ressortfreie Minister Lajos Kósa soll einem Medienbericht zufolge von einer Hausfrau aus einem ostungarischen Dorf die Verfügungsvollmacht über 4,3 Milliarden Euro erhalten haben. Die Vollmacht wurde von einem Budapester Top-Notar beglaubigt, die Echtheit des Dokuments zieht selbst Kósa nicht in Zweifel. Die Frau, die sich inzwischen aus Ungarn abgesetzt hat, behauptet, dass ihr eine Erbschaft in dieser Höhe zustehe, die sie aber seit vielen Jahren wegen verschiedener juristischer Hindernisse nicht anzutreten vermag. Kósa bezeichnete die Frau als Betrügerin, die sich mit der vorgeblichen Erbschaft Geld auslieh, das sie nie zurückzuzahlen beabsichtigte. Oppositionelle Kommentatoren vermuten hinter den bizarren Dokumenten eine gigantische Geldwäscheaktion für veruntreute EU- und andere Korruptionsgelder – bewiesen ist das freilich nicht.

Gerade diese Affären könnten ein Abbröckeln von politisch gemäßigten Fidesz-Wählern der Mittelschichten bewirken. Orbán, der abgebrühte Politprofi, lässt sich seine Nervosität kaum anmerken. Aber der Ton wird schärfer. Bislang vermied Orbán alles, was den Eindruck eines klassischen Polizeistaates erwecken würde. Doch bei den jüngsten Protesten von Schülern gegen die unzumutbaren Zustände im Schulwesen kesselte die Polizei Gruppen von Demonstranten ein, um ihre Personalien aufzunehmen.

Ein paar Wochen später erhielten die Betroffenen Strafbescheide in Höhe von jeweils 160 Euro – weil sie bei dem Protest in der Mitte der Straße marschiert seien.

Orbán droht inzwischen seinen politischen Gegnern unverblümt. In seiner Rede zum Nationalfeiertag am 15. März sagte er: „Wir sind sanfte und heitere Menschen, aber wir sind weder blind noch einfältig. Nach der Wahl werden wir uns natürlich Genugtuung verschaffen, moralische, politische und auch juristische Genugtuung.“ – „Elégtétel“, das ungarische Wort für Genugtuung, hat mehrere Bedeutungsnuancen, darunter auch diese: Vergeltung. Die Opposition deutet Orbáns Ankündigung in diesem Sinn.