An der Front in der Ukraine: Unter Beschuss der Russen
Die Projektile der Scharfschützen verfehlen uns um wenige Meter.
Wir hatten uns gerade erst auf den Rückweg von einem kleinen Dorf* in der Region Cherson nach Odessa gemacht. Der Fahrer trat das Gaspedal durch, es galt, russischen Drohnen, die sich möglicherweise über den Wolken verstecken, kein verlockendes Ziel zu bieten. Nach wenigen Minuten hören wir das dumpfe „Plopp“ eines schallgedämpften Gewehrs und eine schnelle Folge von „Ping“-Geräuschen auf der Straße hinter uns. Aus dem Inneren des Jeeps klingt das, als ob Steine von der Stoßstange abprallen. Die Schüsse kommen von einem Gebüsch neben der Straße: Ein russischer Spähtrupp oder ein einzelner Scharfschütze hat offenbar unseren schwarzen Jeep beobachtet und richtigerweise angenommen, dass sich darin ein hoher Offizier befindet. Womöglich hätten wir die Schüsse gar nicht bemerkt, hätten uns die Leibwächter im Auto hinter uns nicht sofort über Funk informiert.
Hätten die Schüsse das Auto nicht verfehlt, könnte diese Geschichte nicht erzählt werden – oder sie hätte auf andere Weise Schlagzeilen gemacht. Denn im Auto sitzt, neben mir und zwei Bodyguards, niemand Geringerer als Generalmajor Andrii Kowaltschuk, der Kommandeur der ukrainischen Südfront. Er nimmt mich mit auf seinen täglichen Besuch bei den Kommandoposten und Bunkern seiner Offiziere entlang des Kampfgebiets.
Am Freitagmorgen zuvor hatten die Ukraine und Russland die letzten Einzelheiten eines Abkommens ausgehandelt, das den Export ukrainischen Getreides aus dem Hafen von Odessa ermöglichen sollte. Russland hatte den Hafen blockiert und die Ukraine die Küste vermint, um die Anlandung russischer Marinetruppen zu verhindern. Damit war die ukrainische Exportwirtschaft vom Rest der Welt abgeschnitten, und die internationalen Lebensmittelpreise gingen durch die Decke. Nun stand die Getreideernte vor der Tür – und es drohte eine globale Hungersnot, sollte es keine Einigung für einen humanitären Korridor zur Ausfuhr des Getreides geben.
Vladislav Davidzon
Ist ein US-amerikanischer Journalist und Buchautor mit jüdischen Wurzeln. Geboren 1985 in Usbekistan, hat er seine Kindheit in Moskau verbracht, bevor seine Familie in den frühen 1990er-Jahren in die USA migrierte. Davidzon studierte Philosophie, Slawistik und Menschenrechte an der Universität New York, der Sorbonne in Paris und der Uni in Venedig. Die vergangenen zehn Jahre pendelte er mit seiner Ehefrau zwischen Odessa und Paris. Als Ende Februar russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, befand er sich in Kiew, wo er den US-Schauspieler Sean Penn herumführte. Davidzon schreibt unter anderem für das „Foreign Policy Magazine“ und das „Wall Street Journal“ und arbeitet für die Denkfabrik Atlantic Council. Zuletzt erschienen mit „From Odesa With Love“ politische und literarische Essays über die Ukraine.
Als das Abkommen abgeschlossen wurde – und bevor es die Russen am nächsten Tag durch die Bombardierung des Hafens von Odessa aufs Spiel setzten – wartete ich vor dem Hotel Bristol in Odessa auf Generalmajor Kowaltschuk. Wir hatten uns am Abend zuvor bei einem Dinner näher kennengelernt – und der General wollte mir unbedingt zeigen, wie die Auswirkungen der sogenannten „Russki Mir“, der „russischen Welt“, in der Praxis aussahen. Ich sollte der erste westliche Journalist sein, der die Kommandoposten seiner Offiziere in den Oblasten Mykolajiw, Krywyj Rih und Cherson besucht.
Kowaltschuk, noch keine 50 Jahre alt, wurde in einem Dorf im nordwestlichen Oblast Wolyn nahe den Grenzen zu Polen und Belarus geboren. Er gehört zu einem Kader talentierter ukrainischer Flagg- und Führungsoffiziere, die nach der Auflösung der Sowjetunion ausgebildet wurden. Als ehemaliger Stabschef der ukrainischen Luftstreitkräfte wurde Kowaltschuk vor einigen Jahren für seine tapfere Führung zu Beginn des Krieges mit Russland zum „Helden der Ukraine“ ernannt. Als wir an den im Sommerlicht glitzernden Seen und Flüssen vorbeifahren, erinnert er sich an die vielen Male, die er mit dem Fallschirm aus dem Heck eines Flugzeugs über den Gewässern absprang.
Wie andere osteuropäische Generäle, mit denen ich Zeit verbracht habe, ist Kowaltschuk äußerst geschwätzig, seine Sprache direkt, mit einem Hang ins Derbe – wobei sich ein schelmisches Grinsen von einem Ohr zum anderen zieht, wenn ihm wieder einmal etwas Freches eingefallen ist. Als junger Mann hatte er Probleme mit dem Anerkennen von Autoritäten. Wir fahren durch ein atemberaubend schönes Weizenfeld-Panorama zwischen Odessa und Mykolajiw. „In der Schule habe ich ständig widersprochen“, sagt Kowaltschuk, „sie konnten mich nur nicht rausschmeißen, weil ich bei Tests immer gut abgeschnitten habe.“
Heute hält General Kowaltschuk die Kontrolle über die sechs südlichen Oblasten der Ukraine, rund 100.000 Mann stehen unter seinem direkten Befehl. Nun soll er die bevorstehende ukrainische Gegenoffensive zur Rückeroberung der südukrainischen Gebiete leiten, die die Russen in den ersten Tagen des Krieges erobert hatten. Als Verantwortlicher für ein halbes Dutzend Regionen unterstehen ihm ebenso viele regionale Militärgouverneure, und Kowaltschuk reist mehrmals pro Woche in den Süden, um sich auf die Gegenoffensive vorzubereiten. Im Lauf des Tages besuchen wir verschiedene Kommandoposten und Stützpunkte, wo er Berichte entgegennimmt. Präsident Wolodymyr Selenskyj und das ukrainische Oberkommando haben eine bevorstehende Offensive zur Rückeroberung der Region Cherson angekündigt. Doch was den Zeitplan und die Strategien angeht, hält sich natürlich auch Kowaltschuk bedeckt.
Sprecher der ukrainischen Streitkräfte haben unlängst unterstrichen, was aufmerksamen Beobachtern der ukrainischen Medienkanäle schon seit geraumer Zeit klar war: Die von den Amerikanern gelieferten taktischen Langstreckenraketensysteme haben den russischen Munitionsdepots und der Infrastruktur in den besetzten Gebieten zugesetzt. Laut ukrainischen Angaben wurden in den Wochen, seit die Ukraine Artillerie mit großer Reichweite erhalten hat, mindestens 50 russische Munitionsdepots durch Präzisionsangriffe in Schutt und Asche gelegt. Einige Tage nach unserer Reise sprengen die Ukrainer die Antoniwski-Brücke in Cherson mit den HIMARS-Mehrfachraketenwerfern aus den USA. Die Brücke ist nun unbrauchbar – und die russischen Soldaten, die sich auf der falschen Seite des Dnepr-Flusses befinden, sitzen fest und werden ernsthafte Probleme mit dem Nachschub bekommen.
Die Sonnenblumen auf den Feldern stehen kurz vor der Blüte. Die ungeöffneten Blütenköpfe neigen sich im Gleichschritt, als würden sie aus einem tiefen Schlummer erwachen. Als unsere beiden Autos sich der Front nähern, sind immer häufiger verkohlte Weizenfelder zu sehen. Nach dem Beschuss durch russische Artilleriegeschosse steigt grauer Rauch auf, hie und da glüht es noch nach. Neben einem Feld liegen frisch geerntete Weizenballen zerfetzt neben den verkohlten Überresten eines teuren, in Mahagoni-Rot lackierten amerikanischen Traktors. Nicht weit entfernt hat sich eine nicht explodierte russische Rakete halb in die Erde gegraben. „Sie haben den Weizen geerntet, hatten aber keine Zeit, ihn einzusammeln oder zu verkaufen“, sagt Kowaltschuk und schüttelt den Kopf. An einer Kreuzung beobachten wir, wie russische Artillerie in ein leeres Feld einschlägt. Als der General meine Verwunderung bemerkt, erklärt er, dass er noch am Vortag seine Panzer und Artillerie auf diesem Feld stationiert hatte, sie aber inzwischen abziehen ließ.
Militäranalysten meinen, dass die Ukraine die Gegenoffensive eher früher als später beginnen muss und der Prozess wohl vor August in Gang kommen wird. Die gezielte Zerstörung der besetzten Infrastruktur müsse durch punktgenaue Raketenangriffe vorbereitet werden – der Beginn einer zermürbenden Schlacht. Auch die Russen haben ihren Vormarsch unterbrochen, um sich neu zu bewaffnen und auszurüsten. Die vergangenen zwei Monate haben sie damit verbracht, die Region Cherson mit weiteren Panzern und Artilleriesystemen aus dem russischen Osten zu verstärken sowie Waffensysteme und Soldaten aus dem Donbas zu verlegen. Im Gegensatz zu den Russen hat die ukrainische Armee keine Personalprobleme, sagt Kowaltschuk: „Wir haben bereits eine halbe Million Mann mobilisiert und können eine weitere halbe Million mobilisieren, wenn das nötig ist. Was wir jetzt brauchen, um die Operation fortzusetzen, sind mehr schwere Waffen.“ Ohne es offen auszusprechen, deutet er an, dass seine Streitkräfte nicht über genügend Feuerkraft für eine Gegenoffensive verfügen.
Wie die ukrainische Regierung und der Rest des ukrainischen Militärs fordert auch Kowaltschuk den Westen auf, die Lieferung von Artilleriesystemen zu beschleunigen. „Wir haben bisher keinerlei Verluste bei den HIMARS-Systemen zu verzeichnen“, sagt er stolz. „Das zeigt, wie gut wir sie in kurzer Zeit eingesetzt haben – selbst die Amerikaner waren überrascht, wie effektiv wir die Systeme nutzen. Jede Rakete trifft ihr Ziel, jede Rakete zerstört eine Brücke oder ein Munitionsdepot.“ Das zeige, dass man sehr wohl wisse, wie man die Systeme vor den Angriffen des Feindes schützen könne.
Die Kosteneffizienz der ukrainischen Kriegsanstrengungen steht der überwältigenden Verschwendung der russischen Kampagne gegenüber, die er in seinem Einsatzgebiet beobachtet habe, sagt Kowaltschuk. Neben den russischen Verlusten auf der Schlangeninsel und dem gesunkenen Flaggschiff Moskwa hätten die Russen allein in den Gewässern Odessas Technologie im Wert von einer Milliarde Dollar vergeudet.
Im Gegensatz zu anderen Teilen der besetzten Gebiete hat sich in Cherson eine lebendige ukrainische Widerstands- und Partisanenbewegung entwickelt. Die Bewegung arbeitet mit Sabotage und Propaganda, bei der bis spät in die Nacht kunstvolle Plakate mit Drohungen gegen die Besatzer in der ganzen Stadt geklebt werden. Die Autos von Kollaborateuren werden routinemäßig bombardiert, und mehrere russische Besatzungsbeamte wurden ermordet. Die Region wurde auch von Schläferzellen der ukrainischen Armee infiltriert, die sich an Nachhut-Aktionen beteiligen. In den sozialen Medien kursieren Videos von glücklosen russischen Rekruten, die bei Patrouillen von ukrainischen Männern mit Sturmhauben und vorgehaltener Waffe gefangen genommen wurden.
Ich frage General Kowaltschuk, ob der russische Geheimdienst im Vorfeld der Kampagne zur „Räumung der Region“ gute Arbeit bei der Zerschlagung der ukrainischen Partisanennetze in Cherson geleistet habe. „Sie arbeiten auf jeden Fall in diese Richtung“, sagt er, ohne ins Detail zu gehen. Einige Partisanen, ukrainische Schläfer-Agenten und Saboteure wurden ausgeräuchert und verhaftet. Die ukrainische Armee hat die Zivilbevölkerung des Gebiets Cherson dazu aufgerufen, die Region zu evakuieren, um der ukrainischen Armee den Weg für Kämpfe freizumachen. In den Cafés und Straßen von Odessa trifft man zahlreiche Binnenvertriebene aus Cherson.
Unser letzter Halt an diesem Tag ist ein kleines Dorf an der Grenze zur Region Cherson. Fast alle Gebäude sind durch den unaufhörlichen russischen Artilleriebeschuss beschädigt oder zerstört worden. Die Frontlinie ist nur wenige Kilometer entfernt, und die russischen und ukrainischen Artilleristen schießen alle paar Minuten darüber hinweg. Der General lässt mich zusammen mit seinen Leibwächtern vor dem Gefechtsstand zurück. Ich warte darauf, dass er seinen Lagebericht unter einem Vordach aus Stahlbeton entgegennimmt, während die Leibwächter den Jeep auftanken.
„Wir haben eine Million Mann mobilisiert und können eine weitere halbe Million mobilisieren.“
Jedes Mal, wenn ukrainische Artilleriegranaten abgefeuert werden, unterbrechen die Männer im Unterstand ihr Gespräch, um die Sekunden zwischen Abschuss, Explosion und dem unvermeidlichen Gegenfeuer von der anderen Seite zu zählen. Mir wird geraten, in einen Graben zu springen und mich in einer Ecke zu verkriechen, für den Fall, dass eine russische Rakete das Dach unseres Bunkers trifft. Eineinhalb Stunden später kehrt General Kowaltschuk zurück. In der Nacht hatten die ukrainischen Streitkräfte ein weiteres kleines Dorf in der Region Cherson zurückerobert. Die russischen Truppen, die es besetzt hatten, würden sich aber wahrscheinlich neu formieren und im Lauf des Tages die Rückeroberung versuchen. „Haben Ihre Leute Verluste erlitten?“, frage ich. „Ja“, sagt Kowaltschuk und benutzt den grimmigen sowjetischen Jargon aus dem Afghanistankrieg für „Fracht“, die aus einem Kriegsgebiet evakuiert werden muss: „Wir hatten einmal zweihundert und ein paar dreihundert.“ Gemeint sind ein toter Soldat („zweihundert“) und ein paar Verletzte („dreihundert“).
Wenige Minuten später geraten wir ins Visier des Scharfschützen. Sobald wir außer Schussweite sind, springt General Kowaltschuk aus dem Auto. Einen Moment lang blickt er in die Richtung, aus der die Schüsse kamen. Nachdenklich zündet er sich eine Zigarette an und untersucht das Auto auf Einschusslöcher. Er sagt: „Die Baumkronen, das Laub und die Äste in dem Waldstück, aus dem geschossen wurde, haben wahrscheinlich einige Schüsse abgefangen.“
Wie auch immer: Der Scharfschütze hatte nicht getroffen – und der General würde einen weiteren Tag leben, um zu kämpfen.
*Ortsnamen können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden.