Uri Avnery: Linke Legende

Uri Avnery kämpfte erst für einen israelischen Staat und später für einen palästinensischen. Tessa Szyszkowitz über eine der letzten israelischen Stimmen für den Nahost-Frieden, die jetzt verstummt ist.

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Als im Sommer 2011 in Tel Aviv eine Sozialrevolte losbrach und junge Israelis wochenlang auf der Straße gegen hohe Preise für Wohnungen und Nahrungsmittel protestierten, ging ich mit dem betagten Friedensaktivisten Uri Avnery abends über den Rothschild-Boulevard. Schlohweiß sein Haar und Bart, gerade sein Rücken, so schritt der bald 90-Jährige damals seine Truppen ab.

Seine Truppen, das waren linke Israelis, die dort in Zelten hausten und mit Gitarren und Gesängen friedlich gegen die Ungleichheit in ihrer Gesellschaft protestierten. Immer wieder stand jemand auf und berührte den alten Mann am Arm, als wollten sie sich versichern, dass Avnery wirklich da war und kein Geist aus dem letzten Jahrhundert. "Uri, schön, dass du da bist", sagte ein junger Mann: "Du bist unser Idol."

Er war ein Zionist erster Stunde, der den Traum, einen gerechten, demokratischen Staat für die Juden zu erkämpfen und zu erhalten, unermüdlich verfolgte. Uri Avnery kam 1923 im deutschen Beckum zur Welt, seine Eltern emigrierten mit ihm nach Hitlers Machtergreifung 1933 nach Palästina. Seinen deutschen Namen Helmut Ostermann gab er nur zu gern auf, um sich mit einem neuen hebräischen Namen in der Sprache der neuen israelischen Nation zu beheimaten.

1938 schloss sich der glühende Zionist dem Irgun an, einer rechten jüdischen Untergrundbewegung, die er nach vier Jahren wieder verließ, weil er ihre Terrormethoden nicht gutheißen konnte. Er kämpfte im Unabhängigkeitskrieg 1948 und wurde schwer verwundet. Danach schrieb er für die linksliberale Tageszeitung "Haaretz", übernahm 1950 das Wochenmagazin "HaOlam HaSeh" -"Diese Welt" und verbrachte ab 1965 als Abgeordneter linker Kleinparteien einige Legislaturperioden in der Knesset, dem israelischen Parlament.

1975 gründete Avnery den "Israelischen Rat für Israelisch-Palästinensischen Frieden". In diesen Jahren war es Israelis noch per Gesetz verboten, sich mit Mitgliedern der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) zu treffen. Avnery brach dieses Gesetz mit Lust. Längst war er zu der Überzeugung gelangt, dass nur ein unabhängiger, palästinensischer Staat neben dem Staat Israel die Chance barg, beiden Völkern Frieden zu bringen. 1982 fuhr er im Libanonkrieg nach Beirut, um PLO-Chef Jassir Arafat zu treffen, und ließ sich mit ihm fotografieren. Seine Mutter Hilda enterbte ihn daraufhin.

Uri hatte seine Mission gefunden

Doch Uri hatte seine Mission gefunden. 1993 gründete er mit seiner Frau, der Fotografin Rachel, die Initiative Gusch Schalom (Friedensblock). Unermüdlich kämpfte er mit dieser kleinen Gruppe unabhängiger linker Aktivisten für die Zweistaatenlösung. Als der Osloer Friedensprozess Anfang der 1990er-Jahre eine Chance auf eine Beilegung des Nahost-Konflikts zu bieten schien, war er begeistert.

Im Dezember 2015 besuchte ich ihn in seiner Wohnung in Tel Aviv. Ich brachte Nadia Sartawi aus Paris mit, die Tochter des früheren Arafat-Vertrauten Issam Sartawi. Uri freute sich sehr über ihren Besuch. In Uris Arbeitszimmer hing ein Foto ihres Vaters. Sartawi war von Arafat 1976 damit beauftragt worden, diplomatische Kontakte mit Israel zu knüpfen. Bruno Kreisky half beim Zustandekommen dieser Treffen, die oft in Wien stattfanden. Issam aber wurde 1983 von einem palästinensischen Terroristen der Abu-Nidal-Organisation erschossen, die Verhandlungen mit Israel ablehnte. Avnery hatte in Sartawi sein Alter Ego gesehen. Beide hatten erst mit der Waffe in der Hand für das Selbstbestimmungsrecht ihres Volkes gekämpft und wurden später die leidenschaftlichsten Advokaten einer friedlichen Koexistenz.

Begreifen wir, dass es die wichtigste Aufgabe dieser Generation ist, mit diesen Arabern, besonders den Palästinensern, Frieden zu machen?

Bis zum letzten Tag hat der 94-jährige Uri Avnery in einer wöchentlichen Kolumne mit enormer Gedächtniskraft und unbestechlicher Schärfe gegen die Politik der aktuellen israelischen Regierung angeschrieben. In seiner letzten Kolumne vom 4. August bezeichnete er das neue Nationalstaatsgesetz Israels, das nur den Juden ein Selbstbestimmungsrecht in Israel, dem historischen Palästina, zugesteht, als "halbfaschistisch":"Sind wir Teil dieser Region, die von Arabern bewohnt ist? Begreifen wir, dass es die wichtigste Aufgabe dieser Generation ist, mit diesen Arabern, besonders den Palästinensern, Frieden zu machen?" Die Kolumne liest sich wie sein politisches Testament.

Knapp nach Erscheinen der Kolumne erlitt der fast 95-Jährige einen Gehirnschlag und starb am 20. August. Seine Asche, so hat er es verfügt, wird über dem Meer vor Tel Aviv verstreut. Mit ihm verstummt eine der letzten linken Stimmen, die so gar nicht mehr ins momentane rechte israelische Klima passen will. Avnery wird allen fehlen, die den Traum von einem gerechten Frieden im Nahen Osten - nicht nur den Traum, auch den Kampf darum - nie aufgegeben haben.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz