Kyjiw, Mitte August 2024. Blauer Himmel, keine Wolke weit und breit. Schon am Morgen kratzt das Thermometer an der 30-Grad-Marke. Ein dunkler Mittelklassewagen bahnt sich seinen Weg durch den dichten Autoverkehr der ukrainischen Hauptstadt. Mit einer Hand am Lenkrad steuert Svit Moiseiv das Auto zügig durch die mehrspurigen Straßen. In der Rechten hält er ein Computer-Tablet. Auf dem Bildschirm sind Landkarten zu sehen, später Fotos und Videos, die er seinen Mitfahrern zeigt.
Svit ist Reiseleiter bei „Capital Tours Kyiv“, einer kleinen ukrainischen Agentur, die mehrstündige Führungen durch Kyjiw und Umgebung anbietet, dazu Flughafentransfers und einen Shuttle-Service in andere Städte. Das Land befindet sich im dritten Jahr des Krieges, die russischen Streitkräfte haben zuletzt die Intensität ihrer Angriffe erhöht. Wer sollte sich da für touristische Ausflüge interessieren?
Der Titel der Führung an diesem Tag macht klar, dass es sich um eine sehr spezielle Art von Tourismus handelt. Er lautet: „Die Schrecken der russischen Besatzung“. Dauer: etwa fünf Stunden.
Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 brach naturgemäß auch der Tourismus in der Ukraine zusammen. Ausländische Besucher sieht man seither kaum noch. Der Treffpunkt der Kyjiwer „Free Walking Tour“ ist verwaist, nur eine kleine Gruppe Ukrainer steht vor einem Denkmal am Goldenen Stadttor.
Dabei konnte die ukrainische Tourismusindustrie eine Zeit lang durchaus Erfolge vorweisen. Nach dem Verlust der von Russland im Jahr 2014 annektierten Halbinsel Krim mit ihren vielen Ferienressorts halbierte sich die Zahl der Ukraine-Touristen zunächst von 26 auf 13 Millionen Menschen, kletterte 2017 jedoch auf immerhin über 14 Millionen. Es folgte mit der Covid-Pandemie im Jahr 2020 der nächste Schlag, und 2021 war man froh, dass laut den Zahlen der Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) gerade einmal über vier Millionen Reisende ins Land kamen. Dann, im Kriegsjahr 2022, waren es zwar immer noch 2,3 Millionen Besucher, doch über
90 Prozent davon wurden als „Tagestouristen“ registriert. Dabei handelte es sich mehrheitlich um Freiwillige, die Hilfslieferungen in das Land brachten und umgehend wieder ausreisten.
Svit, 40, war damals schon seit mehreren Jahren Reiseleiter. Als die russischen Truppen im März 2022 versuchten, Kyjiw einzunehmen, harrte er in seiner Wohnung am Ostufer des Dnepr aus und hoffte. Wären die „Orks“, wie Svit die feindlichen Soldaten verächtlich nennt, weiter vorgerückt, „hätte unsere Armee die Brücken zur Innenstadt sprengen müssen“, erklärt er heute. „Man hätte uns eingekesselt, und für Typen wie mich – mehrsprachig und pro-ukrainisch – hätte es schlecht ausgesehen“.
Doch die Ukrainer schlagen die Russen zurück, und Svit hat nun zwar keinen Job mehr, aber er versucht sich nützlich zu machen und spielt im Frühjahr und Sommer 2022 vor einer U-Bahn-Station Schlagzeug, um Spenden für die Armee zu sammeln. „Etwa 4000 Euro habe ich so eingenommen und ohne Abzüge weitergegeben.“ Er selbst lebte in der Zwischenzeit von Erspartem.
„Man erfasst die Bedeutung von Krieg nicht, bis man ihn selbst erlebt – oder geschildert miterlebt.“
Pietro
Tour-Teilnehmer
Gelegentlich baten ihn Bekannte, er solle ihnen Orte zu zeigen, an denen die russische Armee gewütet hatte. Hostomel bei Kyiv, wo beim internationalen Flughafen an den ersten Kriegstagen die Luftlandeoperation der Russen scheiterte; Butscha, eine Stadt 25 Kilometer nordöstlich von Kyiv, wo im März 2022 nach dem Abzug der Russen Leichen von Zivilisten in den Straßen und Häusern gefunden wurden; Irpin, wo ebenfalls zwischen 200 und 300 Zivilisten getötet wurden. Svit fuhr mit Leuten dahin, Geld verlangte er dafür zunächst keines. Dann kam er auf die Idee, die Führung zu vermarkten: „Ich bot die Tour auf bei ‚Tripadvisor‘ an.“ – Um 120 Euro. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn liegt derzeit bei umgerechnet in etwa 450 Euro, ein Kaffee kostet 80 Cent, ein Liter Benzin 1,30 Euro.
Wer heute in die Ukraine reist, der tut dies meist beruflich oder aus einem anderen speziellen Interesse heraus. Manchmal bleibt Zeit, um etwas zu sehen, was man sonst nur erahnen kann – Spuren des Krieges. Diese Marktlücke bedient Svit nun, allerdings weniger aus finanziellen Gründen. „Es ist eine Möglichkeit, die Leute dazu zu bringen, die Augen zu öffnen und zu sehen, was los ist“, sagt er, während er durch den Kyjiwer Vorort Hostomel fährt. „Andere Agenturen verlangen dafür das Doppelte. Wir spenden die Hälfte der Einnahmen an die Armee“, betont der durchtrainierte Mann mit den kurzen blonden Haaren. Die Kunden kommen in der Regel aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien.
Groß sind die Besuchergruppen indes nicht. Neben profil ist heute nur ein einziger Gast dabei. Der 30-jährige Pietro aus dem süditalienischen Cosenza ist zwei Tage zuvor mit dem Zug aus Polen angereist. Als Freiwilliger einer Hilfsorganisation ist er für ein paar Wochen im Land. Seinen Nachnamen will er nicht in der Zeitung lesen. Warum möchte Pietro die „Schrecken der russischen Besatzung“ sehen?
Reise als Mission
Seit Kriegsbeginn unterstützt der Freiberufler aus der IT-Branche die Ukraine. „Ich spende regelmäßig Geld an eine Militäreinheit“, sagt der muskulöse Mann, auf dessen T-Shirt der Schriftzug „Fight like Ukrainians“ gedruckt ist. Um das Handgelenk trägt er ein gelbes Solidaritätsarmband. Auf Instagram hält Pietro seine 1400 Follower regelmäßig über seine Aktivitäten auf dem Laufenden. Auch heute filmt sich der Italiener während der Tour. Sein Interesse an der Ukraine entdeckt Pietro erst spät. „Ich wusste früher, dass die Flagge blau-gelb ist, und ich kannte den Fußballer Andrij Schewtschenko, aber sonst eigentlich nichts“, erzählt er. Als Pietro vor einigen Jahren in Warschau arbeitet, freundet er sich mit dem Ukrainer Oleks (Name geändert) an, der als Programmierer jobbt. Der Kontakt bleibt bestehen, auch als Pietro berufsbedingt weiterzieht.
Am 24. Februar 2022, an jenem Tag, an dem Russland die Ukraine überfällt, fährt der 28-jährige Oleks mit dem Auto aus Warschau auf nach Kyjiw, um seine Eltern sowie seinen kleinen Bruder nach Polen zu evakuieren. Eine Woche später kehrt er allein in die Ukraine zurück und meldet sich zur Armee. „Er war bei der Schlacht um Kyjiw mit dabei“, sagt Pietro. „Fast jeden Tag schrieb er mir lange SMS und berichtete vom Kriegsalltag. Nach der Befreiung von Irpin und Butscha schickte er mir Fotos von Lastwagen, die mit Leichensäcken und mit toten Zivilisten beladen waren.“
„Ich als Westler habe bestenfalls eine literarische und filmische Vorstellung vom Krieg. Man erfasst dessen Bedeutung nicht, bis man ihn nicht selbst erlebt – oder durch jemanden, den man kennt, geschildert miterlebt“, sagt Pietro. Der Kalabrese ist aufgewühlt, als Oleks ihn um einen Gefallen bittet. „Er schrieb mir, er sei sicher, dass er sterben werde. Wenn ich es jemals nach Kyjiw schaffe, solle ich einen Strauß Nelken vor seine Haustür legen.“
Am 14. August 2022 hört der Italiener zum letzten Mal von seinem Freund. „Fünf, sechs Tage Funkstille waren normal, aber nach zwei Wochen begann ich mir Sorgen zu machen.“ Er kontaktiert das ukrainische Konsulat, doch über Oleks’ Verbleib ist nichts bekannt. Erst mehr als ein Jahr später, am 23. September 2023, erhält Pietro von der ukrainischen Armee die traurige Bestätigung: „Missing in Action“. Oleks ist von einem Gefecht nicht zurückgekehrt. Die letzte Information, die Pietro über seinen Freund hat, ist, dass er „in der Nähe von Cherson stationiert“ war. Vermutlich ist Oleks während dieser Mission gefallen. Einen Leichnam gibt es nicht. „Uns wurde mitgeteilt, dass man ihn und weitere Soldaten notdürftig vergrub.“ Doch dann sprengen die Russen im Juni 2023 den Kachowka-Staudamm. Angeblich soll das Massengrab im Überflutungsgebiet liegen.
Trotzig voran
Die Tour führt unterdessen an ehemaligen Kriegsschauplätzen wie dem Werk der Schweizer Firma Vetropack vorbei. In der Fabrik für Glasflaschen, aber auch an anderen Orten in Hostomel, Butscha und Irpin, wo die Ukrainer ihre Stellungen länger oder dauerhaft halten konnten, ist die Zerstörung immens. Russische Truppen deckten die Verteidiger mit massivem Artilleriefeuer ein. Doch zwischen den zerstörten Wohngebäuden geht es betont trotzig voran. Überall werken Bauarbeiter, werfen Bauschutt aus den Fenstern oder verputzen die Fassaden. „Wenn das so weitergeht, kann ich auf der Tour bald nur noch Fotos zeigen“, sagt Tourguide Svit. Aber das sei auch gut so, denn er selbst sei des Elends und der Zerstörung „müde“.
Mancherorts ist dieser Moment bereits eingetreten. In der Woksalna-Straße in Butscha spielt Svit auf dem Tablet ein Video ab, das an derselben Stelle aufgenommen wurde, an der er das Auto angehalten hat. Das Video zeigt in Schutt und Asche gelegte Häuser und eine zerstörte russische Panzerkolonne. In der engen Straße gerieten die Russen in einen ukrainischen Hinterhalt. Nachdem die ersten und letzten Fahrzeuge zerstört waren, saß der Rest in der Falle. Die Bilder gingen um die Welt. Heute erinnert dank Hilfszahlungen von mehr als einer Milliarde Euro, die die Ukraine erhalten hat, fast nichts mehr an die Verwüstung der Kleinstadt.
Wohl aber an die russischen Verbrechen. Hinter der Andreaskirche, wo 2022 in einem Massengrab verscharrte Leichen exhumiert wurden, stehen heute Gedenkstelen für die über 400 Opfer der russischen Besatzung. Nur wenig später biegt Svit in die Jablunska-Straße ein. An der Hausnummer 144, hinter einem unscheinbaren dreistöckigen Industriegebäude, richteten die Russen acht Männer hin. Auf den Treppenstufen sieht man Einschusslöcher. Eine Gedenktafel sowie ein Graffiti einer betenden Frau erinnern an das Schicksal der Ermordeten. Der Tourguide und seine Gäste nehmen auf einer Bank Platz und halten ein stilles Gedenken.
Auf dem neu angelegten Friedhof von Butscha sind mehr als 100 Soldaten und Zivilisten beerdigt. Manche Gräber sind erst wenige Tage alt und nur mit Sand aufgeschüttet. Auf dem Grabstein des Jagdfliegers Mychajlo Matjuschenko ist ein QR-Code eingraviert, der auf die Wikipedia-Seite des „Geistes von Kyjiw“ weiterleitet. Die Legende um den ominösen Geist, der in den Anfangswochen des Krieges angeblich ein feindliches Flugzeug nach dem anderen abgeschossen haben soll, war damals ein Internet-Hit und beflügelte die Moral.
Letzter Halt
Einen letzten Halt macht Svit Moiseiv an der zerstörten Brücke zwischen Butscha und Irpin. Sie ist heute ein Denkmal. Gleich daneben steht neugebauter Ersatz. Vergangenheit und Zukunft liegen hier nicht nur metaphorisch nebeneinander. Der sonst so wortgewandte Svit blickt nachdenklich auf den vom Krieg gezeichneten Ort. Auch über Svit schwebt die mögliche Einberufung zum Militär wie ein Damoklesschwert. Aufgrund eines fehlenden Parlamentsbeschlusses und des Personalmangels ist die Dauer eines Wehreinsatzes nicht absehbar. Um wieder nach Hause zu kommen, muss man entweder schwer verletzt oder tot sein. „Wenn sie mich einziehen, bin ich ohne zu zögern bereit“, sagt der Tourguide, „aber natürlich will ich nicht sterben.“
Manchmal bleibt von den Menschen auch nur die Erinnerung, wie im Fall von Pietros Freund. „Gestern Morgen, kurz nachdem die Ausgangssperre vorbei war, bin ich losgegangen“, sagt der 30-Jährige. „An einem Blumenstand habe ich mit Händen und Füßen zu verstehen gegeben, dass ich Nelken brauche, dann bin ich mit der U-Bahn an die Adresse gefahren, die Oleks mir geschickt hatte. Es war ein einfaches Wohnhaus, sein Vater war Eisenbahner, die Mutter Hausfrau. Als ich das Stiegenhaus hochgegangen bin, sah ich vor einer Tür ein Foto von Oleks, das ein Nachbar dort aufgestellt haben muss. Da habe ich dann auch die Blumen hingelegt.“
Das war Pietros ganz persönliche Station der Tour zu den „Schrecken der russischen Besatzung“.
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Moritz Gross
hat im Rahmen des 360° JournalistInnen Traineeship für das Online-Ressort geschrieben.