US-Außenminister Blinken in Nahost: Der Friedenstreiber
Antony Blinken sieht erschöpft aus. Als der Außenminister der Vereinigten Staaten am Donnerstag vor einer Woche in Tel Aviv vor die Kameras tritt, hat er Tränen in den Augen, sein Gesicht ist blass. Kurz zuvor zeigte ihm Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Fotos und Videos von Opfern der Terrororganisation Hamas. „Ein Baby, ein Säugling, von Kugeln durchlöchert“, sagt Blinken. „Geköpfte Soldaten. Junge Leute, bei lebendigem Leib verbrannt in ihren Autos.“
Die Bilder erinnerten an die Gräueltaten der Terrormiliz „Islamischer Staat“: „Es ist das reine Böse.“
Am 7. Oktober waren Terroristen der Hamas nach Israel eingedrungen, hatten rund 1400 Menschen ermordet und mehr als 200 weitere nach Gaza entführt. Daraufhin erklärte Netanjahu das erste Mal seit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973 den Kriegszustand.
Blinkens Besuch – es war der zweite seit dem Terrorangriff – kam inmitten der Vorbereitungen Israels für eine Bodenoffensive im Gazastreifen. Bei den Gesprächen mit Netanjahu ging es auch um einen sicheren Korridor für Zivilisten, um den israelischen Bombardements auf Gaza zu entkommen. Mehr als zwei Millionen Menschen sind in dem schmalen Küstenstreifen gefangen, darunter 500 bis 600 amerikanische Staatsbürger.
In seinen Gesprächen in Israel sowie bei den arabischen Nachbarn Jordanien, Katar, Bahrain, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten verfolgte Blinken mehrere Ziele: die Freilassung der Geiseln, eine Verzögerung der israelischen Bodenoffensive, humanitäre Hilfe für Palästinenser und die Verhinderung einer totalen Eskalation, die auch die USA in den Krieg hineinziehen könnte. Er stellte sich eindeutig hinter Israel, traf aber auch Palästinenser-Führer Mahmoud Abbas und arabische Spitzenpolitiker. Für Blinken ist es ein schwieriger Balanceakt: Israel genießt die volle Solidarität der USA; gleichzeitig muss er versuchen, einen Flächenbrand in der Region zu verhindern.
Für Antony Blinken ist der brutale Angriff der Hamas-Terroristen auch eine persönliche Angelegenheit. Der 61-Jährige ist der erste Außenminister der USA, der sich offen zum Judentum bekennt. Zwar war auch Henry Kissinger Jude, doch er spielte seine Herkunft mitunter herunter, weil er dachte, sie würde ihm zum Nachteil gereichen.
Im September listete die „Jerusalem Post“ Blinken auf Platz drei der „50 mächtigsten Juden“ und lobte die Bemühungen des Top-Diplomaten in der Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien. Mächtiger als Blinken sind laut der Tageszeitung nur der US-Unternehmer Sam Altman und Israels Premier Benjamin Netanjahu.
„Er wollte es wissen“
Antony Blinkens Urgroßvater Meir Blinkin war ein jüdischer Schriftsteller aus Kiew, der 1904 vor Pogromen aus dem Zarenreich floh und in die USA auswanderte. Dessen Sohn, Blinkens Großvater Maurice Blinken, gründete im Jahr 1946 das „American Palestine Institute“. Es soll dabei geholfen haben, die damalige US-Regierung von der Unterstützung der Staatsgründung Israels zu überzeugen.
Ein besonders enges Verhältnis hatte Blinken zum zweiten Ehemann seiner Mutter. Samuel Pisar, geboren 1929 in Polen, hatte den Holocaust überlebt und wurde Berater von John F. Kennedy sowie mehrerer französischer Präsidenten. Pisars Erzählungen vom Krieg und vom Überleben in Konzentrationslagern wie Lublin-Majdanek, Auschwitz und Sachsenhausen prägten den jungen Mann. Beim Überfall Deutschlands auf Polen im Jahr 1939 war Pisar gerade einmal zehn Jahre alt. Zwei Jahre später erklärte Berlin der Sowjetunion den Krieg, Pisars Heimatstadt Bialystok im Osten Polens wurde von der Wehrmacht besetzt, die jüdischen Einwohner in einem Ghetto interniert. Als die Nazis Wind davon bekamen, dass Pisars Vater jüdische Kinder aus dem Ghetto schmuggelte, um sie bei Bauernfamilien zu verstecken, folterten und erschossen sie ihn.
Pisars Mutter und seine kleine Schwester wurden später in einem Vernichtungslager ermordet.
Ich weiß aus eigener Anschauung, welch erschütterndes Echo die Massaker der Hamas für die israelischen Juden und für Juden überall haben.
„Er wollte es wissen“, sagte Pisar einmal zur „Washington Post“ über seine Gespräche mit dem jungen Antony Blinken. „Er nahm auf, was mir passiert war, als ich in seinem Alter war, und ich glaube, das hat ihn beeindruckt und ihm eine andere Dimension gegeben, einen anderen Blick auf die Welt und das, was hier passieren kann. Wenn er sich heute Gedanken über Giftgas in Syrien machen muss, denkt er fast zwangsläufig an das Gas, mit dem meine gesamte Familie ausgelöscht wurde.“
Beim Angriff der Hamas auf Israel wurden an einem einzigen Tag so viele Juden ermordet wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Womöglich dachte Blinken auch daran, als er zu Beginn seiner Rede in Tel Aviv auf seine eigene jüdische Identität und auf den Holocaust verwies. „Ich stehe nicht nur als Außenminister der USA vor ihnen, sondern auch als Jude“, sagte Blinken. „Ich weiß aus eigener Anschauung, welch erschütterndes Echo die Massaker der Hamas für die israelischen Juden und für Juden überall haben.“
Kritik an Siedlungspolitik
Als Außenminister suchte er den Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern – und brach mit der Politik der Administration von Donald Trump, in der es keine Kritik am Umgang Israels mit den Palästinensern gab. Bereits im Frühling 2021 beanstandete Blinken in einem Telefonat mit seinem israelischen Amtskollegen die „Besatzung“ des Westjordanlands und gab sich überzeugt, dass „Israelis und Palästinenser ein gleiches Maß an Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und Demokratie genießen sollten“.
Blinken kritisierte die israelische Siedlungspolitik als „Hindernis für den Frieden“ und warnte Netanjahu vor einer weiteren Expansion im Westjordanland. Die US-Regierung, so der Außenminister, werde sich „unmissverständlich allen Handlungen entgegenstellen, die die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung untergraben“.
Helfen Sie uns, eine Ausbreitung des Krieges zu verhindern, die diese Lösung noch schwieriger machen würde.
Nach den Wahlen in Israel Ende 2022 und der Bildung einer ultrarechten Koalition unter Benjamin Netanjahu sprach Blinken in Jerusalem von „gemeinsamen Werten“ – und zählte jene auf, denen Netanjahus Kabinett den Kampf angesagt hatte: Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Gewaltenteilung und Minderheitenrechte. Es war eine klare Kritik an der neuen Regierung.
Unter US-Präsident Biden nahmen die USA die von Trump gestoppten Finanzhilfen für die Palästinenser wieder auf und gaben die Zweistaatenlösung als neues Ziel der Regierung aus. Auch jetzt, nach den Gräueltaten der Hamas und Tausenden Toten auf beiden Seiten, scheint Blinken nicht aufgegeben zu haben.
„Helfen Sie uns, eine dauerhafte Lösung zu finden“, sagte er am vergangenen Dienstag vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York. „Helfen Sie uns, eine Ausbreitung des Krieges zu verhindern, die diese Lösung noch schwieriger machen würde.“ Es gebe nun zwei Möglichkeiten. Der Weg von Hamas, „Tod, Zerstörung, Leid und Dunkelheit“. Oder den „Weg des Friedens, der Stabilität, der Freiheit“: die Zweistaatenlösung.
Die gute Nachricht
Es waren anstrengende Tage für den Top-Diplomaten, zehn Stopps in fünf Tagen. In Tel Aviv floh er während eines Luftalarms mit Netanjahu in einen Bunker; in Riad ließ ihn der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman eine ganze Nacht lang warten, bis er sich bereit erklärte, Blinken um halb acht Uhr morgens zu treffen. „Ich habe den Überblick verloren“, sagte Blinken auf die Frage, in wie vielen Ländern er gewesen sei. Es waren sieben: Ägypten, Bahrain, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien, Saudi-Arabien, zwei Mal Israel.
Den Rekord für die längste Auslandsreise hält zwar Henry Kissinger: Der damalige Außenminister verbrachte 1973 ganze 33 Tage damit, das Ende des Jom-Kippur-Krieges auszuverhandeln. Doch auch für Blinken wird es nicht die letzte Reise in die Region gewesen sein.
Am Sonntag vor einer Woche steht er wieder vor den Kameras, diesmal mit einer guten Nachricht.
Die israelisch-amerikanischen Doppelstaatsbürgerinnen Judith Raanan, 59, und ihre Tochter Natalie, 17, sind nach fast zwei Wochen in Gefangenschaft der Hamas zurück in Israel. Die beiden waren aus dem Kibbuz Nahal Oz entführt worden; ihre Freilassung gibt Hoffnung – und sie dürfte Washington darin bestätigt haben, dass es mehr Zeit für Verhandlungen braucht, um weitere Menschen freizubekommen. Tatsächlich wurde die israelische Bodenoffensive in Gaza bereits mehrmals nach hinten verschoben. Aus dem israelischen Verteidigungsministerium heiße es, das liege wahrscheinlich an den Verhandlungen über das Schicksal der Geiseln, schreibt die „New York Times“.
Antony Blinken verkündet die Freilassung der beiden Frauen bei einer Pressekonferenz im Außenministerium in Washington. Die Farbe ist in sein Gesicht zurückgekehrt, doch Anlass zur Freude gibt es kaum: Mindestens zehn weitere Amerikaner sind noch in den Händen der Terroristen, insgesamt sind es noch rund 200 Männer, Frauen und Kinder, darunter Dutzende Doppelstaatsbürger. In Israel hat Blinken Familien von Geiseln getroffen. „Es ist unmöglich, die Qualen in Worte zu fassen, die sie ausstehen müssen, weil sie nicht wissen, was mit ihren Lieben geschieht“, sagt er und fordert, dass alle „sofort und bedingungslos“ freigelassen werden. Er wolle nicht ins Detail gehen, nur so viel: Die US-Regierung arbeite Tag und Nacht daran.
Routiniert beantwortet Blinken die Fragen der Journalisten, er sieht müde aus und ernst. Der Anlass der Pressekonferenz mag eine gute Nachricht gewesen sein. Doch es ist nur eine gute unter vielen schlechten.