US-Historiker Snyder: "Natürlich fürchte ich mich"
INTERVIEW: MICHAEL HESSE
profil: Wie schlimm muss es um Ihr Land stehen, wenn Sie ein Buch über Widerstand gegen Tyrannei schreiben? Timothy Snyder: Die Amerikaner mögen ihr Land so sehen: Es ist eine Demokratie, es war schon immer eine Demokratie, und es wird immer eine Demokratie sein. Sie glauben, dass dies mehr ihren Tugenden zu verdanken ist als den Institutionen. Mit "Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand“ versuche ich, meine Mitbürger daran zu erinnern, dass diese Institutionen zerbrechlich sind. Ich habe keinen Zweifel, dass sie kollabieren können, wenn eine amerikanische Regierung entsprechende Versuche unternimmt. Wir sollten nicht warten, bis die Institutionen uns helfen, sondern umgekehrt den Institutionen helfen. Die USA stehen nicht außerhalb der Geschichte. Ihr System kann geändert werden, und es kann ganz fallen - das ist möglich.
profil: Befürchten Sie das konkret? Snyder: Ja, natürlich. Es wäre Unsinn, diese Angst nicht zu haben, wenn etwa der amerikanische Vizepräsident sagt, dass er nicht so sehr an Demokratie interessiert sei. Natürlich fürchte ich mich, so wie Millionen andere Menschen auch. Wir befinden uns in einer neuen politischen Situation, in der die traditionellen Methoden, obwohl sie richtig sind, nicht mehr greifen. Heute ist es schon schlecht, aber es kann noch schlechter werden. Daher müssen wir bereits jetzt wissen, was wir in sechs Monaten tun müssen, wenn es wirklich so kommt, wie im schlimmsten Fall angenommen. Man muss wissen, wohin die Reise gehen könnte, und die Amerikaner sollen durch das Buch einen neuen politischen Wegweiser dafür erhalten.
profil: Sie vergleichen Trump mit Politikern der 1930er-Jahre. Wie begründen Sie das? Snyder: Zunächst sollte man Geschichte nicht tabuisieren. Und natürlich kann man Trump nicht mit Hitler gleichsetzen. Aber man darf auch nicht darauf verzichten, über Geschichte zu reden, nur weil - wie in Deutschland - ein Tabu existiert. Man muss kämpfen, um den Amerikanern begreiflich zu machen, dass es in der Geschichte etwas gegeben hat, dessen Kenntnis uns nun hilfreich sein kann. Zweitens: Man muss die 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahre im Blick haben, um überhaupt zu verstehen, was politisch alles möglich ist - unter anderem das Ende der demokratischen Gesellschaften.
profil: Wofür steht Trump? Snyder: Grundsätzlich gilt die Nostalgie der Amerikaner den 1950er-Jahren. Trump zielt aber auch auf die 1930er-Jahre ab. Wenn er von den "Feinden des Volkes“ und von "Amerika zuerst“ spricht, dann sind das fast Zitate aus dieser Zeit. Es ist aber ein sehr wichtiger Unterschied, wenn er sich nicht auf die Ära der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders bezieht, sondern auf eine Epoche, in der es keinen Wohlstand gab, die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges noch nicht gemacht und Amerika sehr weit rechts und isolationistisch war.
Wenn wir anfangen zu denken, dass es keine Wahrheit gibt, kann es auch keinen Rechtsstaat geben, und wenn es diesen nicht gibt, gibt es natürlich auch keine Demokratie.
profil: Welche Rolle spielte die Lüge für Faschisten und Nazis, und was sagt das über die vielen Lügen der Trump-Regierung aus? Snyder: Die Tendenz, alles das Gesagte als postfaktisch zu bezeichnen und dadurch dessen Wichtigkeit zu vermindern, ist eher eine Frage des Antiliberalismus. Für Faschisten ist die Wahrheit eher ein Mittel - etwas, was ein Führer für uns ausformt. Also ist das, was rund um Trump geschieht, eher Faschismus als Postfaktizismus. Wenn wir anfangen zu denken, dass es keine Wahrheit gibt, kann es auch keinen Rechtsstaat geben, und wenn es diesen nicht gibt, gibt es natürlich auch keine Demokratie. Das ist vielleicht die wichtigste Frage überhaupt, die hierin steckt.
profil: Folgen die Angriffe Trumps auf die Medien einer inneren Logik? Snyder: Ja, er versteht das instinktiv. Aus seiner Perspektive muss man das Element der Wahrheit delegitimieren. Das gilt für die Medien und - wenngleich auf andere Weise - auch für die Geheimdienste, die ebenfalls von ihm attackiert worden sind.
profil: Sie schreiben, dass man vor allem die Print-Journalisten benötige, um sich wieder an den Fakten zu orientieren. Snyder: Wir brauchen mehr Zeit außerhalb des Internets. Rein kognitiv verstehen wir mehr, wenn wir uns auf einen Artikel konzentrieren. Politisch benötigen wir Menschen, die Zeit haben, tiefer gehende Recherchen durchzuführen. Der Journalismus ist wichtiger denn je, im Vergleich zu den 1980er- und 1990er-Jahren zurzeit aber schwach. Sollte er noch schwächer werden, würde das zu einer dramatischen Situation führen. Wenn ich es anders sagen darf: Die Journalisten haben jetzt die Chance, Geschichte zu schreiben - und auch Geschichte zu ändern.
profil: Zum Schutz der Demokratie schlagen Sie unter anderem vor, sich mit Menschen aus anderen Ländern zu vernetzen und Erfahrungsaustausch zu betreiben. Snyder: Wir sind alle globalisiert, und das ist an sich weder ein gutes noch ein schlechtes Phänomen - die heutige Welt ist einfach so. Auch Trump ist globalisiert, das heißt er funktioniert in einer Welt mit Putin, mit dem Rechtspopulismus in Europa und so weiter. Zwischen denen, die für Trump arbeiten, und den Nationalisten in anderen Ländern gibt es Verbindungen. Wir müssen sehr selbstbewusst andere Menschen suchen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie wir. Ein Amerikaner oder ein Deutscher sollte beispielsweise ukrainische Bekannte haben. In großen Demokratien wie in den USA oder Deutschland denkt man nämlich leicht, schon alles zu wissen. Aber das könnte sich ändern, denn auch dort gibt es Leute, die alles ändern wollen. Regimewechsel sind also ein Phänomen, das auch auf uns zukommen kann.
Aus meiner Sicht ist in den kommenden vier Jahren der Amtszeit von Donald Trump ein großer Terrorangriff sehr wahrscheinlich.
profil: Wie sehen Sie die Situation in Deutschland, wo der Rechtspopulismus mit der AfD beträchtlichen Zulauf hat? Snyder: Ich bin nicht in der Lage, den Deutschen einen Rat zu geben. Ich weiß nicht, ob sie ihre Rolle verstehen. Sie sind das, was die Amerikaner in den 1950er-Jahren waren: ein Vorbild für die Welt. Wenn es das deutsche Vorbild nicht mehr gibt, können wir die Demokratie vergessen. Früher haben die Deutschen die Verantwortung für die Geschichte getragen, nun tragen sie die Verantwortung für die Zukunft. Aber es reicht nicht, immer nur die Demokratie schützen zu wollen. Man muss auch eine visionäre Idee entwickeln - von Deutschland, von Europa, sogar vom Patriotismus. Immer nur wie ältere Leute darüber zu klagen, dass alles schlechter wird, ist zu wenig. Man braucht eine positive Perspektive für die Jungen. Sie müssen sehen, wie Deutschland und Europa besser und attraktiver sein könnten.
profil: Es liegt also noch immer in unseren Händen? Snyder: Ja, gewiss. Mein Buch ist in dieser Hinsicht überhaupt nicht pessimistisch. Ich will nur verstehen, wo die grundlegenden Probleme liegen. Wenn jeder ein bisschen was tut, wird es reichen. Man muss sich selbst als aktiven Bürger verstehen. Wenn aber jeder auf Anweisungen wartet oder darauf, dass Europa aktiv wird, ist das gefährlich.
profil: Sie schreiben, dass für die Errichtung einer Tyrannei das unerwartet eintretende katastrophale Ereignis entscheidend ist. In der Türkei fand das kürzlich in Form eines Putschversuchs statt. Befürchten Sie Ähnliches auch für die USA? Snyder: Durchaus. Es gibt selten eine reine Form der Revolution. Normalerweiser benötigt ein Regimewechsel einen Ausnahmemoment, den ein autoritärer Führer erkennt und zu nutzen weiß - so wie es in Deutschland nach dem Reichstagsbrand geschah. Aus meiner Sicht ist in den kommenden vier Jahren der Amtszeit von Donald Trump ein großer Terrorangriff sehr wahrscheinlich. Ob dieser von der Regierung organisiert wurde oder authentisch ist, wird schwer zu sagen sein. Ich will aber meinen Mitbürgern erklären, wie man darauf reagiert. Das ist es, was zählt.
Timothy Snyder, 47, Der Professor an der Universität Yale arbeitet auch am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. Als Historiker auf Osteuropäische Geschichte und Holocaustforschung spezialisiert, sorgte er unter anderem mit Büchern wie "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ (2013) und "Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen könnte“ (2015) für hitzige Debatten.
Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 12 vom 20.3.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.