Der (viel zu?) alte, weiße Mann
Wenn das Magazin „The New Yorker“ einen Gerontologen zu einem politischen Podcast einlädt, dann ist das Thema der Sendung nicht schwer zu erraten: der US-Präsidentschaftswahlkampf 2024. Im November des vergangenen Jahres kündigte Donald Trump, 76, an, sich um die Kandidatur bei den Republikanern zu bewerben. Vergangenen Dienstag ließ Joe Biden, 80, auf seinem persönlichen Twitter-Account ein dreiminütiges Wahlkampfvideo veröffentlichen und gab damit den offiziellen Startschuss zu seinem Versuch, als ältester Präsident in der Geschichte der Vereinigten Staaten am 5. November 2024 ein zweites Mal gewählt zu werden.
Ein bisschen Ageism
Wie lässt sich das hohe Alter des amtierenden Präsidenten am besten veranschaulichen? Vielleicht so: Als Joseph Robinette Biden Jr. im Jahr 1973 Senator von Delaware wurde, residierte Richard Nixon im Weißen Haus, und in Österreich regierte Bruno Kreisky. Biden ist älter als sein Vorvorvorvorgänger Bill Clinton, die früheren Regierungschefs Gerhard Schröder (D), John Major (GB), Viktor Klima und Wolfgang Schüssel, und er ist auch älter als die Rolling Stones Mick Jagger und Keith Richards. Bundeskanzler Karl Nehammer ist jünger als Bidens Sohn Hunter.
Alle Umfragen zeigen, dass sich die große Mehrheit der Wählerschaft der Demokraten ein neues Gesicht wünschen würde – allerdings ist unklar, welches.
Mag sein, dass die Beteuerungen seines Umfelds, wonach Joe Biden gesund und fit sei, zutreffen. Die Lebenserwartung eines durchschnittlichen männlichen US-Bürgers hat er dennoch bereits jetzt um drei Jahre überschritten, und zum Ende einer allfälligen zweiten Amtszeit wäre Biden 86. Schon in den vergangenen Jahren häuften sich Versprecher und Aussetzer des Präsidenten, begleitet von Besorgnis seiner Anhänger und Spott seiner Gegner. Was bewegt ihn, noch einmal anzutreten, anstatt das Feld der nächsten Generation zu überlassen?
Die Vermutung ist nicht weit hergeholt, dass sich der Mann, der Trump 2020 besiegt hat, für unverzichtbar hält und seinem Widersacher eine weitere Niederlage zufügen will, weil er es niemand anderem zutraut. Die eigene Bedeutung zu überschätzen, gilt als sprichwörtlicher Makel alter, weißer Männer.
Biden gegen Trump - das Rematch?
Sicher ist es noch nicht, aber am 5. November 2024 könnte das Duell um das Weiße Haus wie 2020 Joe Biden gegen Donald Trump lauten. Beide haben ihre Kandidatur bekannt gegeben, Trump allerdings muss sich den Vorwahlen der Republikanischen Partei stellen. In Umfragen liegt er unter den möglichen und bereits deklarierten Bewerbern derzeit klar an der Spitze. Trumps Gerichtsverfahren können ihn formal nicht an einer Kandidatur hindern. Die Vorwahlen der Republikaner beginnen im Jänner 2024 in Iowa.
Alle Umfragen zeigen, dass sich die große Mehrheit der Wählerschaft der Demokratischen Partei ein neues Gesicht wünschen würde – allerdings ist unklar, welches. Keine ernsthafte potenzielle Kandidatin und kein potenzieller Kandidat hat sich aus der Deckung gewagt. Spätestens seit die Demokraten bei den Kongresswahlen im vergangenen Jahr überraschend gut abschnitten, galt es als sehr wahrscheinlich, dass Biden noch einmal antritt. Niemand in der Partei hat den Mut, die Sinnhaftigkeit der Ambition des Präsidenten öffentlich anzuzweifeln, denn das könnte als mutwillige Sabotage des Vorhabens, Trump zu verhindern, gedeutet werden.
Joe Bidens Kandidatur auf sein Alter zu reduzieren, wäre unfair und vor allem unsinnig. Der Mann hat fast zweieinhalb Jahre seiner ersten Amtszeit hinter sich und ein Recht darauf, an seiner Leistung gemessen zu werden.
Was bisher geschah – die erste Amtszeit
Der 46. Präsident der USA erbte ein Land in Aufruhr. Sein Vorgänger Donald Trump, das Genie des politisch vorteilhaften (und mutmaßlich strafrechtlich relevanten) Rowdytums, hatte seine Abwahl bestritten und zumindest dazu beigetragen, dass die Amtsübergabe, das Herzstück der Demokratie, nicht friedlich und reibungslos verlief, sondern überschattet vom Sturm eines Mobs auf das Kapitol am 6. Jänner 2021. Die haltlose Behauptung Trumps, ihm sei die Wahl gestohlen worden, wird unter Politikern der Republikanischen Partei, in rechten Medien und unter den Anhängern des unterlegenen Präsidentschaftskandidaten bis heute als Glaubenssatz weitergetragen.
Bidens Versprechen, das Land wieder zu einen, musste angesichts dieser politischen Realität uneingelöst bleiben. Daran trifft ihn die geringste Schuld.
Die Corona-Krise, die zu Amtsantritt 2021 epidemiologisch und wirtschaftlich am Höhepunkt war, schien damals die bedeutendste Herausforderung der Präsidentschaft darzustellen. Doch es sollte anders kommen.
Im Sommer des Jahres 2021 holte der Präsident die US-Truppen aus Afghanistan heim und verursachte dabei ein beschämendes Debakel, das den USA nach den Fehlern im Irak und in Syrien erneut einen Imageschaden zufügte. Die bedeutsameren Truppenbewegungen jedoch ereigneten sich anderswo. Seit dem Frühling und stärker dann im Herbst verlegte Russlands Präsident Wladimir Putin Streitkräfte unter fadenscheinigen Vorwänden an die östlichen und nördlichen Grenzen der Ukraine. Am 24. Februar 2022 schließlich begann Russlands völkerrechtswidrige Invasion. Von diesem Zeitpunkt an war es Joe Bidens vordringlichste Aufgabe, den Westen und insbesondere die NATO auf die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung der angegriffenen Ukraine einzuschwören. Das gelang und gelingt ihm bis jetzt. Es mag angesichts verlässlich agierender Verbündeter wie eine vergleichsweise einfache Übung wirken, doch es lohnt sich, kurz zu überlegen, wie ein notorisch unberechenbarer Präsident wie Donald Trump diese Aufgabe erledigt hätte.
Mit dem Krieg begann die Inflation zu explodieren. Die US-Regierung musste sich – nicht ganz zu Unrecht – vorwerfen lassen, sie habe die Teuerung durch Corona-Hilfen an die Bevölkerung selbst angeheizt. Die Republikaner rieben sich die Hände und warteten nur darauf, Biden die erwartete Rezession anzulasten. Doch die Wirtschaft erwies sich bisher als robust, die Arbeitslosenrate fiel auf den niedrigsten Stand seit 1969, und anstatt einer schmerzhaften Rezession erwarten viele Ökonomen eine „sanfte Landung“.
Biden wird im politischen Spektrum seit jeher dem moderaten, nicht-linken Flügel zugerechnet. Umgelegt auf europäische Verhältnisse kann man ihn irgendwo zwischen einer Christdemokratin à la Angela Merkel und einem Sozialdemokraten wie Olaf Scholz einordnen. Die politischen – innerparteilichen – Umstände haben ihn während seiner Amtszeit etwas nach links rücken lassen. Er boxte nach langem Hängen und Würgen ein Klimaschutzgesetz gigantischen Ausmaßes (etwa 1000 Milliarden Dollar, verteilt auf zehn Jahre) durch, kündigte an, Studentenschulden zu erlassen, und er gewährte mittels präsidentieller Verordnungen Hunderttausenden Migranten aus der Ukraine und Lateinamerika legalen Aufenthalt.
Auf zwei wesentlichen Gebieten erwies er sich als machtlos: Biden konnte nicht verhindern, dass die Abtreibungsgesetzgebung nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs vom Juni 2022 nun in die Kompetenz der Bundesstaaten fällt – und zum Teil extrem restriktiv geregelt wird. Und seine Appelle, endlich ein vernünftiges Waffengesetz zu beschließen, verhallten.
Bidens Bilanz kann sich sehen lassen, wird aber naturgemäß je nach Standpunkt bewertet. Die „New York Post“ etwa beurteilt seine Leistung als „schrecklich“, während „New York Times“-Kolumnist Thomas Friedman sich bereits jetzt festlegt, dass „Biden absolut gewinnen muss“.
Eine gänzlich wertlose Prognose
Nach herkömmlichen Kriterien ließe sich der Ausgang der Wahl am 5. November 2024 bereits vorhersagen. Biden mit dem Bonus des Amtsinhabers und historisch niedriger Arbeitslosigkeit versus Trump, der schlechte Verlierer von 2020, der als Angeklagter in einem Strafprozess wegen Betrugs und in einem Zivilprozess wegen Vergewaltigung vor Gericht steht – auf wen würden Sie wetten? Doch die öffentliche Meinung hat sich mit Trumps Eintritt in die Politik von derlei Berechenbarkeit verabschiedet. Die Attraktivität eines antidemokratischen und mutmaßlichen Straftäters ist für die einen so unbestreitbar, wie sie sich den anderen verschließt.
Abgesehen vom Trump-Effekt hat in den USA – und nicht nur dort – eine Werteverschiebung stattgefunden. Die legendäre Weisheit „It’s the economy, stupid!“, also die Lage der Wirtschaft als dominanter Faktor bei Wahlen, hat viel von ihrer Gültigkeit verloren. Die umstrittensten Themen sind heute nicht Wohlstand, Steuern und Umverteilung, sondern gesellschaftspolitische Fragen: „Wokeism“ als höchster Wert oder als übelste Geißel; die neu aufgeflammte Abtreibungsdebatte; die „culture wars“ (Kulturkriege) um Sexismus, Rassismus, Meinungsfreiheit …
Die neuen Wertehierarchien sind jünger als Bidens Enkel.
Die Hoffnung auf den „Super-Ager“
Womit sich der Bogen zum Alter des Kandidaten schließt. Falls Trump bei der Vorwahl der Republikaner scheitert, könnte Ex-Vize-Präsident Mike Pence (63), Ex-Gouverneurin Nikki Haley (51) oder Gouverneur Ron DeSantis (44) Biden gegenüberstehen. Der kommende Wahlkampf wird in jedem Fall, anders als der wegen der Coronavirus-Pandemie weitgehend virtuell geführte des Jahres 2020, lange und hart sein.
Unüblich große Bedeutung kommt Bidens (voraussichtlicher) Mitkandidatin für das Vizepräsidentinnenamt Kamala Harris zu. Ihre Umfragewerte sind wie die von Biden im negativen Bereich, eine Mehrheit lehnt die beiden ab. Harris hat von den Republikanern scharfe Attacken zu erwarten, sie ist es, die Präsidentin wird, wenn Biden ernsthaft erkranken oder sterben sollte.
An dieser Stelle soll schließlich der Gerontologe aus dem Podcast des Magazins „The New Yorker“ zu Wort kommen. Jack Rowe weist darauf hin, dass weiße, gebildete, finanziell gut abgesicherte und sozial eingebettete Amerikaner mit bester Gesundheitsversorgung eine um 13 Jahre höhere Lebenserwartung als der Durchschnitt haben. Die geistig besonders Fitten über 80-Jährigen nennt man die „Super-Agers“, also die ausgezeichnet Alternden. Sie verfügen laut Studien über eine faszinierende Gedächtnisleistung.
Einer von ihnen muss jetzt den Beweis antreten, dass das auch tatsächlich stimmt.