Die Republikaner im Abtreibungs-Dilemma
Von Lisa Wölfl
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Schusswaffen und Farmland. Garland S. wurde im ländlichen Virginia groß. In seiner Familie galt: Man arbeitet mit den Händen, hackt Holz und wählt die Republikaner, sitzt keinesfalls am Schreibtisch. „Als ich aufgewachsen bin, gab es keine Abtreibungen“, sagt der Pensionist. „So weit du weißt“, wirft seine Frau Lucy, die früher als Lehrerin gearbeitet hat, ironisch ein.
Das Ehepaar sitzt auf einer Bank im Einkaufszentrum Chesterfield Towne Center unweit von Virginias Hauptstadt Richmond. Garland und Lucy wohnen gleich um die Ecke. Es ist ein regnerischer Montagnachmittag im Februar, die Straßen leer. Auch in der Shoppingmall ist wenig los. Vor allem ältere Menschen schlendern zwischen den Geschäften, essen Sandwiches oder mexikanische Küche im Foodcourt. Einsam spielt ein Kind am karg möblierten Indoor-Spielplatz. Saxofonmusik dröhnt aus den Lautsprechern. Garland will eigentlich nicht reden und murmelt in seinen dichten grauen Bart, dass ohnehin niemand seine Meinung hören will. Das Ehepaar ist vor 40 Jahren aus dem Westen Virginias in die Vorstadt von Richmond gezogen. Hier war der Arbeitsmarkt besser.
„Wir denken ganz anders als die Menschen auf der anderen Straßenseite“, sagt Garland. Auch deswegen will das Ehepaar seinen Nachnamen nicht in der Zeitung sehen. Ihre Nachbarinnen und Nachbarn wollen strenge Waffengesetze, Garland hingegen besteht auf sein Recht, Schusswaffen zu besitzen. „Wir hatten hässliche Schießereien in Virginia. Aber ich bin mit Waffen aufgewachsen“, sagt er. Viel schlimmer als Waffen seien die Drogen aus Mexiko. Zudem sei die Einwanderung „außer Kontrolle“ geraten, merkt Lucy an. Das Leben werde immer teurer, die Steuern seien viel zu hoch. Beide haben zwei Mal – 2016 und 2020 – Donald Trump gewählt und werden es im Herbst wieder tun.
Das Ehepaar entspricht dem typischen Bild republikanischer Wählerinnen und Wähler. Aber bei einem Thema brechen sie das Klischee: Abtreibung. Ein Verbot, wie es von ihrer Partei verlangt wird, wollen sie nicht.
Abtreibung in den USA
- 1973. Der Oberste Gerichtshof der USA (Supreme Court) entscheidet im Urteil Roe gegen Wade, dass die Verfassung das Recht auf Abtreibung beinhaltet.
- 1976. Die Republikanische Partei verankert die Anti-Abtreibungs-Haltung in ihrem Parteiprogramm. Grund dafür ist der Zustrom evangelikaler Wähler. Davor waren die Republikaner lange Zeit für eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetze eingetreten.
- 2017–2020. US-Präsident Donald Trump nominiert mit Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett drei neue Mitglieder des Supreme Court, allesamt konservative Abtreibungsgegner.
- 2022. Mit einer 5:4-Mehrheit hebt der Supreme Court das Urteil Roe gegen Wade aus dem Jahr 1973 auf. Damit überlässt er es den einzelnen Bundesstaaten, die Abtreibung gesetzlich zu regeln, und ermöglicht es auch, sie einzuschränken oder zu verbieten.
Jahrzehntelang kämpften republikanische Hardliner für Abtreibungsverbote. Dann, im Juni 2022, war es so weit. Der Oberste Gerichtshof kippte das Grundsatzurteil Roe gegen Wade. Dieses hatte Frauen landesweit fast 50 Jahre lang ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche garantiert (siehe Zeitleiste). Seither ist es die Aufgabe der Bundesstaaten, die Abtreibungsfrage rechtlich zu regeln (siehe Karte).
Ringen um eine Linie
Die Siegesstimmung der Abtreibungsgegner hielt nicht lange an. Anders als erwartet, hat das Urteil den Republikanern mehr geschadet als genutzt. Zwar gibt es religiöse Fundamentalisten in den Reihen der Partei, aber die große Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung hat offenbar ein Problem damit, über den Körper von Frauen zu bestimmen.
74 Prozent der republikanischen Wählerinnen und Wähler gaben 2023 in einer Umfrage an, dass Abtreibungen grundsätzlich oder unter bestimmten Umständen legal sein sollen. Und das, obwohl sich die Mehrheit als Pro-Life bezeichnet.
Die Demokraten mobilisieren erfolgreich mit der Angst vor einem bundesweiten Abtreibungsverbot. Die Republikaner hingegen wissen nicht, wie sie sich positionieren sollen. Auch deswegen haben sie 2022 überraschend die Midterm-Wahlen verloren. Sogar im konservativen Ohio etwa stimmte eine Mehrheit dagegen, den Zugang zu Abtreibungen zu erschweren, und für eine Verankerung des Rechts auf Abtreibung in der Verfassung des Bundesstaates.
Nun ringt die Republikanische Partei um eine Linie. Das gilt vor allem für einen: Ex-Präsident Donald Trump, der im November mit großer Wahrscheinlichkeit ins Rennen gegen Joe Biden gehen wird. Auch der Großteil der Abgeordneten im US-Kongress steht zur Wahl. Abtreibung wird ein zentrales Thema im Wahlkampf sein und könnte zum Stolperstein für die Republikaner werden. Das zeigt das Beispiel Virginia, jener Bundesstaat, in dem Lucy und Garland leben. Virginia ist der einzige Südstaat, der seit der Aufhebung des Roe-Urteils keine neuen Einschränkungen eingeführt hat. Schwangerschaftsabbrüche sind weiterhin generell in den ersten 26 Wochen erlaubt.
Der konservative Gouverneur Glenn Youngkin, der erste Republikaner in dem Amt seit 2009, versuchte dort die Wählerschaft mit einer moderaten Abtreibungsfrist von 15 Wochen auf seine Seite zu ziehen. Zum Vergleich: In Österreich sind Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen erlaubt. Frankreich nahm im März das Recht auf Abtreibung in die Verfassung auf. Doch auch dort ist die Frist mit 14 Wochen kürzer als Youngkins Vorschlag.
Für Virginias Wählerinnen und Wähler war selbst eine 15-wöchige Frist zu streng. Die Demokraten gewannen im November die Wahl über Virginias Repräsentantenhaus und stellen nun in beiden Kammern des Parlaments die Mehrheit. Eines der entscheidenden Themen im Wahlkampf: Abtreibung.
Ich werde immer an der Seite der Ungeborenen stehen.
„Abtreibung ist möglicherweise eines der schwierigsten Themen in Virginia und im ganzen Land“, sagte Youngkin nach der Wahlschlappe in einer Pressekonferenz. „Ich hoffe weiterhin, dass wir einen Weg finden, zusammenzukommen“, gab er sich betont optimistisch.
Seine Fristenregelung ist damit erst einmal Geschichte.
Garland und Lucy hätten die Frist von 15 Wochen begrüßt. Beide möchten kein völliges Abtreibungsverbot in ihrem Bundesstaat. „Die Republikaner haben schlecht erklärt, wofür sie stehen. Sie sind nicht völlig gegen Abtreibung“, sagt Lucy.
„Embryos sind Babys“
„Ich werde immer an der Seite der Ungeborenen stehen“, sagte Trumps früherer Vizepräsident Mike Pence im vergangenen September. Floridas Gouverneur Ron DeSantis, der als aufsteigender Stern in der Partei galt, führte in seinem Staat eine Abtreibungsfrist von sechs Wochen ein.
Und Trump-Herausforderin Nikki Haley erklärte im Februar: „Für mich sind Embryos Babys.“ Sie bezog sich dabei auf ein kontroverses Urteil in Alabama, das eingefrorenen In-vitro-Embryonen die gleichen Rechte zugestand, die auch Kinder haben. Im März zog sie sich aus dem Wahlkampf zurück, nachdem sie in den republikanischen Vorwahlen eine Niederlage nach der anderen eingefahren hatte.
Für Trump ist der Weg damit frei. Der Ex-Präsident behauptet von sich stolz, er sei in seiner Amtszeit besonders Pro-Life gewesen. Als Präsident färbte er den Supreme Court tiefrot ein und bestellte unter anderem die Katholikin Amy Coney Barrett, die schon mehr als 15 Jahre zuvor in einem Artikel argumentierte, dass das Roe-Urteil eine falsche Entscheidung gewesen sei.
In den späten 1990er-Jahren, als Trump noch als exzentrischer Geschäftsmann bekannt war, gab er sich als Pro-Choice-Verfechter. Als Präsidentschaftskandidat jedoch änderte er schlagartig seine Meinung und unterstützte plötzlich sogar Strafen für Schwangerschaftsabbrüche, wohl um die religiöse Rechte in den USA um sich zu scharen.
So richtig scheint er sich allerdings nicht festlegen zu wollen. Im September verweigerte Trump einflussreichen Anti-Abtreibungsgruppen die Zusicherung, dass er sich um ein bundesweites Verbot bemühen werde. Die Einführung einer sechswöchigen Frist für Abbrüche in Florida sei außerdem ein „entsetzlicher Fehler“ gewesen. Nur wenige Monate später erfuhr die „New York Times“, dass der Ex-Präsident eine landesweite Frist von 16 Wochen befürwortet. Unter anderem, weil 16 eine „gerade Zahl“ sei. Im Februar sagte Trump im rechtskonservativen TV-Sender Fox News: „Ich höre immer öfter von 15 Wochen. Ich habe mich noch nicht entschieden.“
Die Frist, die für Virginias Wählerschaft zu kurz war, ist für Trumps treueste Anhängerinnen und Anhänger viel zu lang.
„Das wird Reibung geben“, sagt der Politikwissenschafter Todd Eberly vom St. Mary’s College in Maryland. Die religiöse Rechte, Trumps Basis, werde protestieren. Weiße Evangelikale machten bei der Präsidentschaftswahl 2020 mehr als ein Viertel der Wählerschaft aus und stimmten zu 76 Prozent für Trump. Seine treue Basis will er auf keinen Fall spalten, sagt Eberly. Trump braucht diese Stimmen, um im Herbst zu gewinnen. Kurze Fristen oder völlige Abtreibungsverbote seien allerdings bei den Kongress- und Präsidentschaftswahlen „politischer Suizid“.
Kein Wunder also, dass Trump das Thema Abtreibung vermeidet, so gut er kann.
Die Demokraten in der Offensive
Die Demokraten tun genau das Gegenteil. Sie machen Abtreibung zu einem zentralen Thema ihrer Wahlkampagnen. Präsident Joe Biden betont, dass bei den Wahlen auch der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen auf dem Wahlzettel stünde. In seiner Rede zur Lage der Nation im März versprach er, das landesweite Recht auf Abtreibung wiederherzustellen, wenn die Demokraten nach der Wahl die Mehrheit im Kongress stellen.
In Virginia setzten die Demokraten im Wahlkampf alles daran, zu beweisen, dass Youngkins 15-Wochen-Frist nur der Anfang sei. Die Partei dokumentierte den plötzlichen Sinneswandel konservativer Kandidaten, die sich erst für ein völliges Verbot oder kurze Fristen aussprachen, um sich dann hinter einer moderaten Frist zu versammeln. „Irgendwo müssen wir anfangen“, sagte etwa John Stirrup, der für die Republikaner in einem heiß umkämpften Bezirk in Virginia angetreten ist, in einem Video. Natürlich würde er auf ein völliges Abtreibungsverbot hinarbeiten. Stirrup verlor die Wahl in seinem Bezirk.
Gouverneur Youngkin sagte noch im Sommer 2022, er würde „mit Freude jedes Gesetz unterschreiben, das Leben schützt“. Gemäßigte Ansätze werden keine Stimmen holen, meint hingegen der Republikaner Bob Good, der Virginia im US-Repräsentantenhaus vertritt. „Lauwarme Statements“, moderate Fristen, die nur einen Bruchteil der Abtreibungen betreffen, würden die Basis demotivieren. „Das ist nicht inspirierend“, sagte Good in einem Fernsehinterview mit dem religiösen Sender „Victory TV“. „Das drückt die Wahlbeteiligung in roten Bundesstaaten und führt dazu, dass wir Wahlen verlieren.“ Eine klare Linie sieht anders aus.
Die Republikaner in Virginia wussten, dass ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus wackelte und griffen zu schmutzigen Methoden, um die blaue Gefahr abzuwenden. So wurde Susanne Gibson zum Kollateralschaden.
Die 40-Jährige wollte nie in die Politik. Seit 15 Jahren arbeitet sie als Krankenpflegerin in Richmond. Erst als der Zugang zu Abtreibung in einem Bundesstaat nach dem anderen erschwert wurde, entschied Gibson, in einem umkämpften Wahlbezirk nahe Richmond für die Demokraten zu kandidieren.
Den Zugang zu Abtreibung und Verhütungsmitteln machte sie zu ihren Kernthemen. Die größte Spende für ihre Wahlkampagne erhielt sie von Planned Parenthood, das Hunderte Kliniken im ganzen Land betreibt und auch Abtreibungen durchführt. Auf ihrer Website lächelt Gibson im weißen Kittel, ein
Stethoskop hängt um ihren Hals. Andere Fotos zeigen sie mit ihrem Ehemann und den zwei Kindern, ihrem zehnjährigen Sohn und einer acht Jahre alten Tochter.
Gibson klopfte an Hunderte Türen, um für Stimmen zu werben. Die Menschen, die ihr öffneten, wollten reden: „Über Abtreibung, Abtreibung, Abtreibung, Waffen, Abtreibung, Abtreibung, Bildung“, sagt Gibson, die an einem kleinen Holztisch in einer Filiale der Kaffeekette Starbucks sitzt. Sie trägt ein schwarzes Kleid und goldene Creolen. Ihre Nägel sind dunkelbraun lackiert, der schwarze Lidstrich sitzt.
Gibson konnte als Quereinsteigerin sogar Spender für sich gewinnen, die früher republikanisch gewählt hatten. Auch tendenziell konservativen Frauen war Abtreibung besonders wichtig, sagt Gibson. Sie lehnt sich über den Tisch, spricht mit gedämpfter Stimme. Das liegt nicht nur daran, dass Schwangerschaftsabbrüche in den USA ein heikles Thema sind.
Wochen vor der Wahl verbreitete ein republikanischer Funktionär intime Aufnahmen von Gibson und ihrem Ehemann. Jahre zuvor hatte das Paar auf einer erotischen Livestream-Plattform Sex vor der Kamera gehabt. Allerdings hatte Gibson nicht damit gerechnet, dass jemand den Stream aufnimmt und später hochlädt, sagt sie.
Seit die „Washington Post“ im September über das Video berichtete, ist Gibson auch weit über ihren Wahlbezirk hinaus bekannt. „Egal wo ich hingehe, muss ich mich fragen: Wer wird mich anstarren? Bin ich hier sicher?“, sagt sie. Ihr politischer Gegner im Wahlkampf, der Republikaner David Owen, sagte dazu bloß: „Mir tun die Kinder leid. Ich kann mir nicht
vorstellen, was sie gerade durchmachen.“ Seine Partei setzte noch eins drauf und verschickte Screenshots des Sexvideos per Post an Haushalte in Gibsons Bezirk. Die Schmuddelkampagne funktionierte. Owen schlug Gibson um knappe 715 Stimmen. Die Lehre aus dem Fall? Gibson lag internen Umfragen zufolge vorn, bis der Skandal ihre Wahlkampagne sprengte. Auch, weil sie sich in der Abtreibungsfrage klar positionierte. Dass ihr Gegner nur knapp gegen sie gewonnen hat, sieht Gibson als Beweis dafür, dass Republikaner sich am Thema Abtreibung die Zähne ausbeißen. Denn in anderen umkämpften Bezirken setzten sich die Demokraten durch. Sie stellen heute 51 von 100 Abgeordneten im Repräsentantenhaus und kontrollieren damit erst zum zweiten Mal seit 1999 die Kammer. Im Senat verteidigten die Demokraten ihre Mehrheit. Jegliche Bestrebungen, Abtreibungen im Bundesstaat einzuschränken, sind damit erst mal vom Tisch.
Doch falls Trump gewinnt, könnte er sich um eine bundesweite Frist bemühen. Und der Supreme Court, dessen konservative Mehrheit Roe gekippt hat, entscheidet in diesem Jahr einen Fall, der den Zugang zu Abtreibungsmedikamenten erheblich erschweren könnte.
All das macht Abtreibung auch in der kommenden Präsidentschaftswahl zu einem heißen Thema, besonders unter gebildeten Frauen. „Sie werden sich nicht von Themen wie Migration ablenken lassen“, meint Politikwissenschafter Eberly.
Abtreibung wird das Thema Nummer eins im Wahlkampf bleiben, prognostiziert auch die Politikwissenschafterin Rachel Bitecofer. Das mag Männer vielleicht wundern, aber für Frauen sei das keine Frage, sagt sie zu profil. Bitecofer bekennt sich zu den Demokraten und hat im Februar ein Selbsthilfebuch für die Partei veröffentlicht. In „Hit ’Em Where It Hurts“ fordert sie Demokraten dazu auf, beim Abtreibungsthema in der Offensive zu bleiben.
Aber wird jemand, der immer die Republikaner gewählt hat, wegen der Abtreibungsdebatte umschwenken? Menschen wie Garland und Lucy aus Virginia zum Beispiel? „Abtreibung ist wichtig“, sagt Garland auf der Sitzbank im Einkaufszentrum nahe Richmond. Dennoch bleibt Trump für sie der einzige gute Präsidentschaftskandidat, sagt Lucy. „Auch wenn wir uns manchmal wünschen, er würde den Mund halten und sich benehmen.“