Verfassungsrechtler Adam Bodnar: „Kümmert euch um Polen“
profil: Herr Bodnar, haben Sie Ihr Büro bereits geräumt?
Bodnar: Ja. Am 15. Juli war mein letzter Arbeitstag als Ombudsmann.
profil: Fast sechs Jahre lang waren Sie Polens oberster Beauftragter für Bürgerrechte. Ein Amt, das noch zur Zeit des Kommunismus eingerichtet wurde und der Zivilbevölkerung dient. Sie galten als „Watchdog der Republik“. Wie blicken Sie auf Ihre Amtszeit zurück?
Bodnar: Es war eine Zeit dramatischer Veränderungen in Polen. Institutionen und Grundrechte wurden angegriffen, um politische Ziele zu erreichen. Ich sah es als meinen Job an, die Reste der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats zu retten. Das war nicht einfach, weil ich mit der Regierung keinen Partner an meiner Seite hatte, sondern jemanden, der offenbar in eine ganz andere Richtung will.
profil: Der rechtskonservativen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) waren Sie ein Dorn im Auge. Wurden Sie angegriffen?
Bodnar: Mal verklagte mich das öffentlich-rechtliche Fernsehen wegen einer Aussage, dann wurden Details aus meinem Familienleben preisgegeben. Kürzlich hat mir der Präsident Andrzej Duda staatsfeindliche Aktivitäten unterstellt. Aber es gibt Menschen, die schwerwiegenderen Angriffen ausgesetzt sind: Senatssprecher, Richter und Staatsanwälte. Ich begreife mich als Teil einer größeren Geschichte. Eine Geschichte, in der Menschen nur deshalb angegriffen werden, weil sie nicht auf Regierungslinie sind.
profil: Vergangene Woche, am 14. Juli, hat die Rechtsstaatlichkeit in Polen einen weiteren Schlag erlitten. Der mit regierungsnahen Loyalisten besetzte Verfassungsgerichtshof kündigte an, Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ignorieren zu wollen. Ist das der Beginn eines „Polexits“?
Bodnar: Es ist symbolisch, dass dieses Urteil ausgerechnet an meinem letzten Arbeitstag gefallen ist. Es kann weitreichende Folgen haben. Bereits jetzt sehen wir, dass sich einzelne Behörden darauf beziehen. Ein „Polexit“, also ein Austritt Polens aus der EU, wird nicht über Nacht passieren, sondern das Resultat einer Reihe von Ereignissen sein. Dieses Urteil war ein erster Schritt.
Es ist symbolisch, dass dieses Urteil ausgerechnet an meinem letzten Arbeitstag gefallen ist.
profil: Das Urteil war eine Zäsur. Eigentlich gilt: EU-Recht steht über nationalem Recht.
Bodnar: Bereits jetzt gibt es Stimmen aus der Regierung, die sich nicht an Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gebunden fühlen. Sie wollen, dass die Disziplinarkammer am Obersten Gerichtshof weiterarbeiten soll.
profil: Der EuGH ordnete die Außerkraftsetzung dieser Disziplinarkammer an, weil sie sich aus regierungstreuen Parteianhängern zusammensetzt und somit nicht als unabhängiges Justizorgan im Sinne des EU-Rechts angesehen werden kann.
Bodnar: Das ist außergewöhnlich. Es gibt ein bindendes Urteil eines EU-Höchstgerichts. Und jetzt sagen einige: Nein, wir setzen das nicht um.
profil: Was tun?
Bodnar: Der nächste Schritt wird die Verhängung von Strafen für jeden Tag sein, an dem das Urteil nicht umgesetzt wird.
profil: Bei Frankreich hat das 2005 funktioniert. Paris war bei der Umsetzung eines EuGH-Urteils säumig. Daraufhin verhängte der Luxemburger Gerichtshof eine Strafzahlung von 57 Millionen Euro – nicht einmalig, sondern alle sechs Monate.
Bodnar: Ja, aber in Frankreich ging es um Fischereirechte, und in Polen geht es um den Zustand staatlicher Institutionen. Es geht nicht nur darum, den Rechtsstaat in Polen zu verteidigen, sondern die EU als Ganzes. Wir dürfen hier nicht fahrlässig sein, sondern müssen genau hinsehen.
Die Lage in Polen ist eine existenzielle Bedrohung für die Europäische Union.
profil: Wird die Regierung in Polen nun eine ganze Reihe von Gesetzen beschließen, die gegen EU-Recht verstoßen?
Bodnar: Bei politischen Fällen ist das polnische Verfassungsgericht bereits jetzt der Regierungspartei unterstellt. Gesetze, die im Parlament verabschiedet werden, können nicht unabhängig überprüft werden.
profil: Haben Sie ein Beispiel?
Bodnar: Derzeit wird ein Mediengesetz diskutiert, das die Aktivitäten eines der letzten unabhängigen Privatsender, TVN, stark einschränken würde. Es ist ausgeschlossen, dass das Verfassungsgericht diesen Fall unvoreingenommen und unabhängig prüfen wird.
profil: Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft. Wenn einzelne Mitglieder EuGH-Urteile ignorieren: Warum brauchen wir das europäische Projekt dann noch?
Bodnar: Ich kann nur zustimmen. Deswegen lautet meine Botschaft an die Staats- und Regierungschefs: Kümmert euch um Polen! Wer zulässt, dass einzelne Mitgliedsländer autoritär werden und den Rechtsstaat angreifen, riskiert, dass das ganze System kollabiert. Die Lage in Polen ist eine existenzielle Gefahr für die Europäische Union.
profil: Leben Sie noch in einer Demokratie?
Bodnar: Passender finde ich den Begriff des „wettbewerbseinschränkenden Autoritarismus“.
profil: Was ist darunter zu verstehen?
Bodnar: Damit ist ein System gemeint, in dem verschiedene Parteien gegeneinander antreten. Es gibt eine Opposition, aber es fällt ihr deutlich schwerer, sich Gehör zu verschaffen, weil die Regierungspartei Wettbewerbsvorteile genießt. Etwa durch die Verwendung öffentlicher Ressourcen für politische Zwecke oder die Instrumentalisierung von Medien.
profil: Sie haben dieses System einmal mit Fußball verglichen.
Bodnar: Da spielen zwei Mannschaften gegeneinander. Aber in einem Team kicken elf, im anderen nur acht Spieler. Das kleinere Team kann gewinnen, aber es muss strategisch vorgehen und auch ein bisschen Glück haben. In Polen sehen wir schon jetzt, dass Behörden nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil die regierende Partei die Staatsanwaltschaft kontrolliert.
Durch freie Wahlen kann Polen wieder den Weg zur Demokratie beschreiten.
profil: In Polen ist der Oberstaatsanwalt gleichzeitig Justizminister. Wären Ermittlungen, wie sie hierzulande gegen Sebastian Kurz eingeleitet wurden, denkbar?
Bodnar: Keine Chance. Journalisten haben immer wieder Anschuldigungen gegen Minister ans Licht gebracht. Aber Staatsanwälte haben die Fälle entweder fallengelassen oder so lange hinausgezögert, bis sich niemand mehr daran erinnern konnte.
profil: Was passiert, wenn einzelne Staatsanwälte da nicht mitspielen wollen?
Bodnar: Es gibt verschiedene Methoden der Bestrafung. Etwa ein Disziplinarverfahren, aber auch die Herabstufung von einem
höheren auf einen niedrigeren Posten. In Polen gibt es ehemalige hochrangige Staatsanwälte, die jetzt auf Bezirksebene arbeiten. Die haben sich zuvor mit organisierter Kriminalität befasst und beschäftigen sich jetzt mit dem Diebstahl von Fahrrädern.
profil: Die PiS stilisiert sich als Verteidigerin der sogenannten traditionellen Familie. Aber welche Ziele hat diese Partei wirklich?
Bodnar: PiS ist ein Bündnis mit der katholischen Kirche eingegangen. Daraus resultiert ihr Programm, das auf einer konservativen Agenda und dem Schutz von Familie und Tradition baut. Aber der eigentliche Zweck der Allianz ist es, an der Macht zu bleiben. Die Ideologie dient vornehmlich dazu, den Gegner anzugreifen. Deswegen der Hass gegen die LGBT-Gemeinde, die strengen Abtreibungsgesetze und die Angriffe auf Flüchtlinge. Derzeit wird diskutiert, ob der Lehrplan an öffentlichen Schulen angepasst werden soll, damit religiöse und patriotische Themen stärker im Mittelpunkt stehen. Die Regierung spricht häufig vom Schutz von Kindern und der Familie. Aber in Wahrheit tut sie viel zu wenig, etwa im Bereich der Kinderpsychologie. Aber auch gegen Pädophilie in der Kirche. Warum auch? Dann müsste sie sich gegen den eigenen Verbündeten stellen.
profil: Wenn wir nach Polen blicken, üben wir uns gerne in Schwarzmalerei. Wo sehen Sie Freiräume?
Bodnar: Viele Richter zeigen professionelle Integrität. Insbesondere auf lokaler Ebene ist die polnische Opposition stark. Sie stellt in fast allen größeren Städten den Bürgermeister. Wir haben außerdem bedeutende freie Medien. Das Bild ist vielfältiger, als man denkt. Durch freie Wahlen kann Polen wieder den Weg zur Demokratie beschreiten.
profil: 2023 finden Parlamentswahlen statt.
Bodnar: Es werden die wichtigsten Wahlen in der polnischen Geschichte sein.
Adam Bodnar, 44,
hat Jus in Warschau und Budapest studiert. Von 2015 bis 2021 war er polnischer Ombudsmann, eine von der Regierung unabhängige Institution zum Schutz der Bürgerrechte. In dieser Rolle kritisierte Bodnar Angriffe auf Justiz, Minderheiten sowie unabhängige Journalisten. Seit 19. Juli ist er Dekan der juristischen Fakultät der Universität für Sozial- und Geisteswissenschaften (SWPS) in Warschau.